Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nunBotschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. (2. Korinther 5,19-21)
Der Blick auf das Kreuz Jesu soll unseren Blick auf unser Leben und unser Sterben verändern, zum Besseren. Das ist paradox. Denn der natürliche Reflex angesichts menschlichen Leides ist ja wohl eher, die Augen zu schließen, um das Leid auszublenden (damit blende ich nun allerdings die Sensationsgier aus, die sich am Leid gaffend ergötzt, die es wohl auch im religiösen Bereich gibt, sichtbar etwa an den spätmittelalterlichen Marterbildern der Heiligen). Und es ist eine Zumutung: dass wir uns dem Leiden und Sterben Jesus aussetzen sollen, die Augen eben nicht verschließen, sondern uns das genau ansehen sollen, wie es etwa die Passionsfrömmigkeit früherer Zeiten gefordert hat:
O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron, o Haupt sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßest seist du mir! (Evangelisches Gesangbuch 85)
Wie könnte ich das begrüßen, das leidende Haupt, oder auch nur ansehen, dem brechenden Blick des sterbenden Jesus standhalten.
So wie ja auch das große Kruzifix in der Thomaskirche eine Zumutung ist, der nicht alle standhalten wollen oder können. Es ist der verständliche, der richtige Instinkt, der uns zusammenzucken und entsetzen lässt bei diesem Anblick; wie etwa die muslimische Besuchergruppe bei uns vor einigen Jahren – hab schon oft von diesem Erlebnis erzählt – wirklich entsetzt und in ihren religiösen Gefühlen verletzt auf unser Kreuz reagiert hat; oder wie die Kunstexpertin noch unlängst unser Kreuz für unerträglich in einem Kirchenraum erklärt hat und vorschlug, es samt Bretterwand (einem bevorzugten Stilelement unseres Kirchenarchitekten Rainer Schell) zu entfernen, um durch ein schön gestaltetes Fenster den heiteren Blick auf Gottes freundliche Welt zu ermöglichen…
Aber da stocken wir schon und brauchen eigentlich keine akute Seuche um das Missverständnis über unsere Welt zu durchschauen. Unsere Welt ist heiter und freundlich und ein gutes Zuhause – aber eben nicht nur das. Wir missverstehen die Natur, wenn wir sie als Idyll deuten, sie ist auch Schauplatz von Katastrophen, von Leid, von Gewalt, von Seuchen, auch Krankheitserreger sind Teil der Natur. Sterben ist Teil der Natur, so wie das Leben. Mit dieser Ambivalenz der Welt haben wir zu leben. Damit erkennen wir an, dass wir nicht im Paradies und nicht im Himmel leben; und damit beugen wir letztlich einer Verwechslung von Gott und Welt vor: allein gut ist nur Gott, alles andere, auch der Mensch, braucht die Nähe Gottes, um das zu erfahren.
Letztes Zeichen dieser ambivalenten Verhältnisse auf der Erde ist der Tod: auch das Schöne muss sterben, auch das Gute, das Gerechte, das Wahre, das Liebste; alles ist „eitel“, sagt der Prediger Salomo, also vergänglich und wird auch vergehen; „das Universum expandiert“ (sagt der kleine Alvy Singer in Woody Allens Anny Hall und stellt deshalb die Fertigung seiner Hausaufgaben ein, auch wenn seine wenig sensible Mutter erwidert, dass aber Brooklyn, wo sie leben, nicht expandiere, womit sie im übrigen nicht recht hat). Menschen sind sterblich und sterben, alle.
Es ist dieser Horizont unserer Sterblichkeit, vor dem das Kreuz Jesu aufgerichtet ist, den es einerseits spiegelt, den es andererseits überragt und überstrahlt. Denn hier leidet und stirbt ein Mensch, aber in diesem Menschen war Gott: Gott war in Christus. Der unsterbliche Gott wird sterblicher Mensch – Weihnachten – und stirbt: Karfreitag. Das ist das Thema, die Idee und der eigentliche Skandal dieses Tages: Der Tod Gottes. Was wir für eine atheistische Erfindung halten, wird in die Mitte unseres Glaubens gerückt, kaum auszuhalten. Und es wird auch kaum ausgehalten, wenn beispielweise das Karfreitagslied „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (EG 80, das wir heute auch nicht zusammen singen können; und das ist beinahe das Bedauerlichste in diesem Seuchenjahr, dass wir nicht gemeinsam diese Lieder singen können, die viel eindringlicher als Predigt oder Predigttext den Karfreitag erklären) die originale Textzeile „O große Not! Gott selbst liegt tot“ in die (vermeintlich) weniger anstößige Fassung „O große Not! Gott´s Sohn liegt tot“ verändert und damit abmildern will. Wir begehen heute am Karfreitag die Identifikation Gottes mit dem Menschen Jesus – bis in die letzte Konsequenz, bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Gott selbst gibt sich in den Tod, Gott selbst gibt sich hin.
Das ist für mich die aufregendste, aber auch die verstörendste Aussage des christlichen Glaubens über Gott; sie ist darin auch unerfindbar (so würde man sich seinen Gott nicht erfinden, geschweige denn glauben) und nimmt wie gesagt im Kern den modernen Atheismus vorweg: Gott stirbt. Gott stirbt den Tod des Menschen – um ihn zu überwinden. Gott teilt das Geschick seiner Menschen, identifiziert sich, solidarisiert sich – und überwindet so den Tod des Menschen Jesus, wie auch die Macht des Todes überhaupt. (Im Leitbild unserer Zeit gesprochen, könnte man vielleicht sagen, aber eigentlich nur ganz tastend und vorläufig: Gott infiziert sich mit dem Virus des Todes, um mit uns die Krankheit zu tragen – und sie zu überwinden!)
Die Bibel – und eben auch unser Text heute – nennt das: Gottes Versöhnung der Welt: nicht so, dass ein zorniger Gott wegen unserer Verfehlungen, unserer Sünden mit uns versöhnt werden müsste; sondern so, dass ein über alle Maßen liebender Gott die von ihm durch Sünde und Tod getrennten Menschen mit sich versöhnt. Gott teilt alles mit uns, auch unsere Sterblichkeit; Gott erträgt unseren Tod – und darin überwindet er ihn. Wir sollen das verstehen und dürfen es mit ganzem Herzen glauben, dass Gott auch den menschlichen Tod mit uns teilt, uns auch in die tiefste Finsternis begleitet, im Sterben nicht allein lässt. So wie uns in unserem Sterben ein lieber Mensch begleiten soll (Und bei so vielen in dieser schrecklichen Seuche, wo sie besonders wütet, ist genau das nicht der Fall. Das ist für mich das Schlimmste daran, dass so viele einsam und ungetröstet sterben müssen.), so will Gott auch dann bei uns sein; auch das haben die Liederdichter wie Paul Gerhardt gewusst und besungen:
Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.
Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meiner Not, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir Blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl. (EG 85)
Der Blick auf das Kreuz Jesu soll unseren Blick auf unser Leben und unser Sterben verändern, dass wir versöhnt leben und getrost sterben können.
Klaus Neumann, Pfarrer