Ökumenischer Gottesdienst an Pfingstmontag, 29. Mai 2023

Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.

(Johannes 4,19-26)

„Immer im Gespräch bleiben“ – sagt mir der Konfirmandenvater an der Kasse beim Tegut und meint damit seine Strategie – seine im übrigen erfolgreiche Strategie! – die unendlichen Qualen – die für Jugendliche und Eltern gleichermaßen unendlichen Qualen – der Pubertät zu bewältigen. Was immer kommen mag – und manchmal kommt wirklich eine Menge! – Wir werden das nicht voraussehen, wir werden es im Zweifelsfall weder vermeiden oder lindern oder gar steuern können, wir werden es aushalten müssen und nur im Aushalten bewältigen können. Und dazu gehört: „Immer im Gespräch bleiben“.

„Die Gesprächskanäle offenhalten“, scheint für das persönliche, das familiäre – aber auch das weltpolitische Gedeihen – ein echtes Patentrezept zu sein, auch wenn es zur Zumutung werden kann. Wenn ich mich frage, mich fragen muss, was soll das und was kann es bringen, mit einem solchen Menschen im Gespräch zu bleiben, die Gesprächskanäle zu ihm offen zu halten; der mir die Worte im Munde verdreht, der mich doch nicht versteht, nicht verstehen will, nicht verstehen zu wollen scheint, dessen Wort nichts gilt und dessen Worte nichts gelten, zumindest nicht das, für was sie sonst gelten oder was sie sonst bedeuten. Besser als Schweigen ist selbst solches Reden allemal, denn wer redet, ist nicht tot.

Die Gespräche im Johannesevangelium sind Paradebeispiele für die Wahrheit solcher Redensarten. Der johanneische Jesus spricht über die Frustrationen des Missverstehens und über die Quälereien des Nicht-Verstehens hinweg, nun nicht immer hin zum Ziel eines Einverständnisses der Sprechenden, aber doch zum Ziel einer Klärung „of sorts“, einer Aufklärung der Hörenden, einer Art, irgendeiner Art der Klärung. Zumindest für uns Zuhörer und Leser wird klar – annähernd klar – worum es geht, auch hier?

Die samaritanische Frau lenkt in diesem Gesprächsgang die Frage auf den Ort der Gottesbegegnung und des Gottesgesprächs; der war strittig zwischen Samaritanern und Juden, Garizim im Norden des Heiligen Landes für die einen oder Jerusalem in der Mitte für die anderen. Und wenn zwischen beiden Orten entschieden werden müsste, dann wäre es Jerusalem, denn das Heil kommt von den Juden, was für sich genommen eine kraftvolle, aber auch erstaunliche Aussage wäre, auch angesichts anderer, reichlich schmerzvoller Aussagen im Johannesevangelium. Aber gemeint ist vermutlich, dass wenn zwischen beiden Orten der Anbetung entschieden werden müsste, dann Jerusalem die älteren Rechte besäße, was selbst Samaritaner kaum bestreiten könnten.

Aber letztlich kommt es – nach Meinung unseres Bibeltextes – auf den Ort eines Gesprächs nicht an; ob nun der eine oder der andere heilige Berg oder ein unheiliges Tal, oder der Weg zwischen beiden oder meinetwegen die Kasse im Supermarkt: Jeder Ort kann zum Ort echter Kommunikation werden, nur eben, dass sich die Gesprächspartner im richtigen Geist der Wahrhaftigkeit begegnen. Andererseits kann natürlich auch jeder Ort – noch der heiligste Ort – zum falschen Ort werden, wenn das Gespräch geistlos und unwahrhaftig geführt wird.

Das hört sich jetzt unkatholischer und protestantischer und damit strittiger an als es ist. Denn schon unsere alltägliche Erfahrung bestätigt das ja zunächst, dass nämlich echte Begegnung und wahrhaftige Kommunikation ziemlich unabhängig vom Ort sind. Dass unverhoffte Gespräche an merkwürdigen Orten zwischen Tür und Angel nicht weniger belangvoll sein müssen als der verabredete Austausch in der guten Stube, bei dem sich die Partner genauso begegnen aber eben auch genauso stumm und fremd bleiben und verfehlen können.

Und für das religiöse, das gottesdienstliche Gespräch, die Zwiesprache mit Gott gilt das – korrigieren Sie mich – ebenfalls. Noch der schönste, prächtigste, weihevollste Kirchenbau kann das Gespräch mit Gott hemmen oder belasten und andererseits kann ein ungemütlicher, ja menschenfeindlicher Ort ein solches Gespräch nicht verhindern. Mich haben damals als Werkstudent in der Fabrik meine muslimischen Kollegen schwer beeindruckt, die in der Schichtpause neben ihrer Stelle am Fließband die Pappkartons als Gebetsteppiche ausgebreitet haben und ihr Gebet an Gott gerichtet haben – trotz Lärm, Dreck und Betrieb.

Folgen dann etwa unsere Kirchenleitungen in ihren sogenannten Reformprogrammen mit der Abrissbirne nicht nur dem Sparzwang sondern auch einer höheren, womöglich gottgefälligen Logik? Raus aus den Kirchen, runter mit den Kirchen, weg mit den Kirchen – damit endlich wieder im Geist und in der Wahrheit angebetet werden kann? Keineswegs! Notwendig sind sie wohl nicht, unsere Kirchengebäude, denn natürlich könnten wir überall beten und Gottesdienst feiern, auch wenn es bequem ist, einen bekannten, sicheren Ort zu haben, Glaubensheimat, hoch und trocken.

Notwendig sind solche Orte wohl nicht, aber mehr als notwendig. Sie verweisen in all ihrer Pracht und ihrem Überschwang – und noch unsere nüchternen, ziemlich unprächtigen, wenig überschwänglichen Nachkriegsbauten, die unsere Gemeinden behausen, tun das deutlich genug – sie verweisen auf den, der selbst nicht notwendig, sondern mehr als notwendig ist. Ohne weiteren Zweck und praktischen Nutzen außer dem Gottesdienst, aber eben auch nicht verhandelbar unter rein kaufmännischer Betrachtung, zeigen sie allein dadurch, dass sie in der Gegend herumstehen, dass auch unser Glauben sich der ökonomischen Verrechenbarkeit entzieht: Glauben nutzt und lohnt sich nicht, hat er noch nie getan. Wer anfängt, Kosten und Nutzen seines Glaubens zu berechnen, hat ihn längst verloren. Und genau das, und erst das macht ihn so wertvoll.

Ohne unsere teuren Kirchen wird es – allein im Geist und in der Wahrheit – viel schwieriger sein zu zeigen, wie gratis Gottes Gnade ist. Andererseits geben wir uns ohne sie die Chance, dass Jesus uns noch viel unverhoffter begegnet, uns anspricht und offenbart: Ich bin’s, der mit dir redet. Auch wenn unsere Gotteshäuser längst vergangen sind, wird es Gelegenheit geben – wo und wann Gott es will – ihn im Geist und in der Wahrheit anzubeten.

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Beauftragung neuer Prädikantinnen und Prädikanten

Zwei Frauen und drei Männer wurden in einem festlichen Gottesdienst in der Wiesbadener Thomasgemeinde von Propst Oliver Albrecht als Prädikantinnen und Prädikanten beauftragt. Die mehrjährige Prädikantenausbildung haben Annegret Dietz (Martin-Luther-Gemeinde), Birgit Schmidt und Alexander Scholz (beide Johannesgemeinde), Thomas Seitz (Breckenheim) und Michaela Balonier (Odenwald) berufsbegleitend durchlaufen.

Zum Artikel auf der Seite des Dekanats Wiesbaden

Bild: Andrea Wagenknecht

Einladung zur ökumenischen Pilgerwanderung am 13. Mai

Vom Treffpunkt an der Thomaskirche führt uns der Weg zunächst durch das Eigenheim zur „Feldkapelle“ am Ende des Tennelbachtals. Von dort geht es weiter zum Goldsteintal, um dann im hohen Bogen nach Rambach zur evangelischen Kirche zu pilgern. Diese Kirche im neugotischen Stil erinnert in Bauart und Umgebung an englische Kirchen auf dem Lande. Auch ihr Innenraum ist in Proportion und Ausstattung überaus gelungen und jeden Besuch wert.

Treffpunkt: Samstag, 13.5.2023, 11:00 Uhr, Thomaskirche, Richard-Wagner-Straße 88

Ziel: Evangelische Kirche Rambach, Kirchweg 5; gegen 13.00 Uhr. Von dort Anschluss per Stadtbus Linie 16.

Einladung zum Vorstellungsgottesdienst am 7. Mai

Wir laden Sie herzlich zum Vorstellungsgottesdienst unserer Konfirmandinnen und Konfirmanden zum Thema Gerechtigkeit ein. In diesem Gottesdienst werden unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden ihre Gedanken und Ideen zu diesem wichtigen Thema vorstellen und teilen.

Wir glauben, dass es heute wichtiger denn je ist, sich für Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft einzusetzen und deshalb freuen wir uns sehr darauf, die Perspektiven unserer jungen Gemeindemitglieder zu hören.

Der Vorstellungsgottesdienst findet am kommenden Sonntag um 10:00 Uhr in unserer Kirche statt. Wir freuen uns auf Ihr Kommen und Ihre Unterstützung für unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden.

Gottesdienst im Nachbarschaftsraum in Rambach am 30. April

Evangelische Kirche Rambach

Am Sonntag, den 30. April, findet der nächste gemeinsame Gottesdienst im Nachbarschaftsraum von Thomasgemeinde, Versöhnungsgemeinde und Thalkirchengemeinde sowie Rambach in der Rambacher Pfarrkirche um 17:00 Uhr statt. Gestaltet wird dieser liturgisch durch die Pfarrer:innen Petra Hartmann, Thomas Hartmann und Dr. Klaus Neumann. Außerdem singt der Chor Five Seasons. Im Anschluss sind alle Gäste herzlich eingeladen zum Grillen und Umtrunk vor der Kirche oder im Gemeindehaus.

Misericordias Domini, 23. April 2023

Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. (1. Petrus 5,1-4)

Eine dringende Verwechslungsgefahr besteht nicht, liebe Schwestern und Brüder, wenn eine Gottesdienstgemeinde am Ostermontag zum Osterspaziergang durchs Tennelbachtal zieht – auch wenn …, auch wenn am selben Ort eins zweimal im Jahr eine Schafherde gesichtet wird, sie etwa – wie schon gelegentlich erlebt – im Herbstnebel wie eine Fata Morgana morgens beim Brötchenholen auftaucht, was man kaum für möglich gehalten hat und erst ein zweites Hinsehen bestätigt, dass einem nicht die homiletische Phantasie durchgeht, sondern in einer höchst realen pastoralen Szene hier Schafe, Hunde, Hirten wie aus der Kinderbibel begegnen.

Und schon der zweite Blick auf das schöne Bild vom Hirten und seiner Herde bestätigt ja auch die leisen Zweifel, die man eigentlich schon immer hegte, an seiner Eignung als Metapher für Gottesbeziehung und Gemeindeordnung. Das Idyll als Ideal reibt sich an der rauen Realität eines wirtschaftlich prekären Lebens voller Gefahren ohne festen Wohnsitz, den Unbilden des Wetters und wilder Tiere ausgesetzt, im Tennelbachtal dann ja wohl eher Wildschweinen statt Wölfen, doch wer weiß, auch die leben bekanntlich wieder in unseren beschaulichen Wäldern. Hinten im Rheingau hat sich ein Wolfsrudel angesiedelt; und wer weiß, vielleicht rücken die Bären bald nach. Schwere Zeiten für Hirten und ihre Herden.

Und selbst wenn man den rauen Rahmen ausblendet, bleibt immer die Frage, wer Hirte, wer Herde ist und warum. Wenn mein Gott ein Hirte ist, bin ich dann ein Schaf? Und wenn die Gemeinde die Herde ist, sollte sie dann ihrem Pastor, also dem Hirten einfach so folgen? Vor diesen Fragen kann es als positiv gewertet werden, dass eine evangelische Gemeindegruppe auf Wanderschaft spätestens nach 50 Metern – also schon kurz vor dem Tegut – erstmals die Autorität des Hirten in Frage stellt und lieber rechts statt links abbiegt. Anstrengend, aber positiv.

Der Autor des 1. Petrusbriefes, unseres Predigttextes, greift gleich zweimal in seinem Sendschreiben und eher beiläufig ohne Anspruch auf Originalität auf das Hirtenbild der Bibel zurück, und wendet es einigermaßen erwartbar sowohl auf unser Gottes- bzw. Christusverhältnis als auch seine Gemeindeordnung an: Die Gemeindeältesten sollen die Gemeinde als Hirten unter dem „Erz – also Oberhirten“ Christus leiten. Hier verbindet sich das Hirtenbild mit Begriff und Amt der „Ältesten“, der „Presbyter“, wie es natürlich im griechischen Original heißt – und wie in vielen eher reformiert als lutherisch geprägten Gemeinden der Kirchenvorstand bis heute genannt wird.

Mit dem Begriff des „Ältesten“ kommt eine uns Heutigen kaum noch geläufige aber im Altertum selbstverständliche Hochschätzung des Alten als Weisen und Erfahrenen zum Ausdruck, ganz ohne die bei uns übliche Abwertung des Alten als gebrechlich, schwach, obsolet und dem Tode geweiht. Während wir entsprechend heutzutage unser Alter möglichst hinter gefärbten Haaren, glattgezogenem Gesicht und Teeny-Kleidung für Rentner verstecken, ist in Antike und Bibel der Alte der, dessen Meinung gefragt und dessen Entscheidung gefordert ist, so dass sich der Begriff des geehrten Alten schnell zum Titel wandelte, der auch jüngere als die Ältesten bekleiden konnte: Die „Ältesten“ waren – griechisch, römisch, jüdisch – vielfach die Mitglieder des maßgeblichen Entscheidungsgremium eines Gemeinwesens, gleich welchen Alters: Älteste ehrenhalber sozusagen; am bekanntesten vielleicht die römischen „Senatoren“, deren Name sich vom lateinischen „senex“ ableitet – wie unser meistens aus unerfreulichen Zusammenhängen bekanntes Wörtchen „senil“, wie in „senile Bettflucht“; oder das etwas freundlichere „senior“, wie in „Seniorenrabatt“.

In der Herausbildung von Gemeindeordnung und Kirchenverfassung haben die christlich-kirchlichen „Presbyter“ – die „Ältesten“ – eine erstaunliche Karriere gemacht: aus den genannten kulturellen und religiösen Wurzeln heraus waren die Presbyter zunächst eher informelle Berater, Beiräte und Leiter der Gemeinden, durchaus im nicht immer konfliktfreien Gegenüber zu den Aposteln und apostolischen Lehrern, bis sie sich in einer allmählich herausbildenden gestuften Hierarchie der kirchlichen Ämter zwischen Bischöfen und Diakonen einsortierten und als eigenes Amt etablierten: und zwar nicht, wie es sich für unser evangelisches Verständnis gehören würde, als Kirchenvorstand sondern ganz katholisch als Priester. Unser Wort Priester ist zunächst nichts anderes als eine Eindeutschung des griechischen „Presbyter“, dem dann auch die antik und biblisch genuin priesterliche Aufgabe des Opferdienstes und der Mediation zwischen Gott und Mensch zukam, die wir automatisch mit dem Begriff Priester verbinden, die aber mit dem Herkunftsbegriff Presbyter zunächst nichts zu tun hat.

Wenn also unser Autor des Predigttextes hier – am Anfang solcher Entwicklungen – ausdrücklich die Ältesten anspricht: Die Ältesten unter euch ermahne ich; dann dürfen und sollen sich die, die mit Beratung, Leitung und Dienst in der Gemeinde tätig sind, angesprochen fühlen. Hat er auch uns was zu sagen? Jedenfalls!

Der Autor skizziert das Hirten- und Ältestenamt, also das Leitungsamt der Kirche, als Ehrenamt; womit schon alles gesagt wäre, wenn wir unter Ehrenamt eben nicht das unbezahlte Stellen von Tischen zum Gemeindefest oder die rein freizeitliche Beschäftigung mit der Religion als Lifestyle-Enhancement verstehen; auch nicht das Aufhübschen der eigenen höchstpersönlichen Ehre und Herrlichkeit, die sich in Lebensläufen und Jubiläumsreden niederschlagen könnte; sondern allein das Amt ist gemeint, dass sich der Ehre Gottes verpflichtet, soli deo gloria, als Teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll, als unverwelkliche Krone der Herrlichkeit; wie es in unserem Text so schön heißt.

Diese höhere Ehre Gottes ist nach Meinung unseres Autors der einzige Zweck und das alleinige Ziel unseres Amtes; womit schon wieder alles gesagt sein könnte, wenn wir eben nicht die Menschen wären, die wir sind. Wir mögen unsere jetzige Zeit für die Erfindung unfähiger Kirchenapparate, unwürdiger, ja verbrecherischer Geistlicher, oder ungläubiger Gläubiger verantwortlich machen; heute werden wir eines Besseren belehrt. Die feinen, lebensklugen und lebenspraktischen Abgrenzungen unseres uralten Textes zeigen, dass unsere Probleme die seinigen sind und seine die unsrigen:

Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie,
nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt,
nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.

Unser Autor wird wissen, wovon er spricht; ohne die Realität solcher Übertretungen müsste es keine Vorschrift geben. Wenn er äußeren Zwang, Aussicht auf eigenen Gewinn oder persönlichen Vorteil, Streben nach Macht anklagt, wird es sie gegeben haben, wie bei uns; bis hin zu dem in jeder Weise verabscheuungswürdigen Vergehen, sich an denen zu vergehen, die einem als Geistlicher anvertraut sind. Schändlicher, ehrloser könnte der Gewinn nicht sein, den ich aus meinem Ehrenamt erzielen wollte.

Seinen Abgrenzungen stellt unser Autor Freiwilligkeit, die innere Haltung und feste Überzeugung und die Vorbildfunktion der Leitenden gegenüber, die unser Amt prägen sollen. Das soll so sein, wenn ich auch durchaus Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Vorbildern habe, im Allgemeinen und mit mir ganz besonders. „Aber Sie müssen doch Vorbild sein, Herr Pfarrer“ – ist es mir vor allem in den wenig glanzvollen Momenten meines Berufslebens, in Lebenskrisen, im krachenden Scheitern entgegengeklungen. Muss ich das? Will ich das? Vorbild sein? Und: Müsste ich eins haben, ein Vorbild? Hätte ich eins gehabt haben müssen? Angeblich brauchen wir doch alle, besonders die Jugend, Vorbilder. Tut sie das? Etwa uns?

Im Original steht das Wort „Typos“ und die Übersetzung dafür: „Vorbild“ geht nach Auskunft der Lexika in Ordnung. Aber dort finden sich auch Hinweise, die die Vorstellung eines Vorbildes ergänzen und präzisieren. Ein „Typos“ ist ursprünglich etwas „Hineingehautes“, etwas „Eingedrücktes“, eine Form, die man dann füllen kann wie ein Backförmchen, mit der man immer die gleichen Kekse backen kann. Wollen wir das? Immer die gleichen Kekse backen.

Andererseits könnte Vorbild in diesem Sinne nicht die, sondern eine Form des Lebens sein; eine Lebensform unter mehreren oder vielen, an denen ich meine noch zu realisierenden Möglichkeiten des Lebens modellhaft anschauen kann. Kein Model – o graus! – sondern Modell. Will ich so werden, will ich so leben, so glauben wie der oder die? An die Leitenden als Vorbilder der Gemeinde wäre dann die Aufgabe gestellt, Formen oder Modelle des Glaubens zu leben, die diesen Glauben anschaulich machen, insbesondere in der Art, wie sie Krisen bewältigen und das eigene Scheitern aushalten: Nachfolge Christi.

Unser Autor selbst sprengt ein wenig die Fesseln seines Vorbildbegriffs, wenn er ihn mit dem Hirtenbild zusammenbringt. Wie soll ich mir das denn vorstellen, dass der Hirte der Herde ein Vorbild werde? Dass die Schafe Hirten werden? Dass die Hirten dann den Schafen folgen? Soll man sich das wünschen?

Oder dass aus der Herde selbst neue Hirten erstehen? Wäre ja nicht die schlechteste Idee. Vielleicht dass Hirten jeweils auf Zeit Hirten sind und dann wieder zur Herde gehören. Dass wir uns gegenseitig zu Hirten werden können; nicht immer gleichzeitig, dass wäre sicherlich zu anstrengend, wenn wir an jeder Wegkreuzung die Richtung neu auszudiskutieren hätten. Aber vielleicht so als allgemeines Hirtentum, wie Luther es beinahe genannt und sicher gemeint hat, dass wir uns grundsätzlich gegenseitig Hirte, Vorbild, Ältester, Presbyter und Priester sind – und aus praktischen Gründen einige ausbilden und einen oder eine wählen, dieses Amt auszuführen, damit alle dann, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. Amen.