Reiseerinnerung

Als wir einmal den Heiligen Vater in Rom besuchten …
Wenn dieser Gemeindebrief aus dem Druck kommt, wird längst weißer Rauch aufgestiegen und ein neuer Papst gewählt worden sein. Aber auch dann wird es gute Gründe geben, sich an Papst Franziskus zu erinnern, auch für evangelische Christen. Und für uns als Besucher der Heiligen Stadt und Teilnehmer einer Gemeindefahrt nach Rom im Januar des fernen, aber in der Erinnerung ganz nahen Jahres 2017 ohnehin. Streng antizyklisch (auch saisonal) im Jubiläumsjahr der Reformation und nachdem wir zwei Jahre zuvor Wittenberg besucht hatten, führte eine recht stattliche Gruppe aus den evangelischen Gemeinden Thomas und Versöhnung wie auch aus der katholischen St. Mauritiusgemeinde der Weg von Wiesbaden nach Rom. Das war durchaus eine Pilgerfahrt allerdings im Kleid einer ganz normalen Besuchsreise, die selbstverständlich die Sehenswürdigkeiten des antiken Rom mit Kolosseum, Forum Romanum und den Ruinen von Ostia einschloss, die wir entweder bei klirrender Kälte oder strömendem Regen, gerne auch in Kombination beider (es war ja Januar!), besichtigten.

Aber der Höhepunkt war für mich der gemeinsame Besuch von uns Evangelischen und Katholischen bei Papst Franziskus im Vatikan. Wie gewöhnlich im Winter nicht auf dem Petersplatz, sondern in der Audienzhalle links des Doms haben wir uns mit vielen anderen Besuchern eingefunden, den Papst – nun nicht hautnah, aber doch von Angesicht zu Angesicht – zu erleben. Bei allem Rummel, der wohl dazugehört, der aber auf dem Platz um einiges größer als in der Halle ist, haben wir durchaus so etwas wie eine besondere Gegenwart, etwas beinahe „Auratisches“ gespürt, ich jedenfalls. („Der Papst ist kein Fabelwesen!“, wie ein Dreijähriger auf den Schultern seines Vaters und angesichts des päpstlichen Vorgängers des Franziskus einmal so treffend bemerkte, womit er gleichzeitig recht und unrecht hatte.) Im Gespräch mit unseren katholischen Reisegefährten und Mitpilgern wie Professor Linhart, der uns ja schon oft mit seiner Frau auf unseren Pilgergängen im Rheingau geführt hatte (und der uns vor ein paar Wochen für immer verlassen hat; Gott hab´ ihn selig und tröste seine Angehörigen!), konnten selbst nüchterne Protestanten für einen Moment ahnen, was diese persönliche und gleichzeitig hochsymbolische Verbindung zu den Jüngern Jesu bedeuten kann. In den Momenten der Begegnung damals zeigte sich für uns die Menschenfreundlichkeit, Warmherzigkeit und Herzlichkeit dieses Menschen im Dienst Gottes. Werbung für die Kirche im besten Sinne. Gründe genug, uns demnächst auf den Weg auch zu seinem Nachfolger zu machen.

Trinitatis „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“

Vor 1700 Jahren versammelt der römische Kaiser Konstantin die Bischöfe der weltweiten christlichen Kirche in Nicäa im Westen der heutigen Türkei, um verbindlich festzulegen, was der Gegenstand christlichen Glaubens sei, insbesondere wer Christus sei im Verhältnis zu Gott, dem Vater, dem Schöpfer der Welt. Mensch oder Gott war hier die Frage, die schon seit längerem die Christen bewegte und trennte. Während die einen glaubten, dass Jesus Christus ein durch Gott beauftragter und begabter Gott-Mensch, etwa ein Prophet sei – aber eben nicht Gott selbst, glaubten die anderen, dass Jesus Christus nur als Gott verlässlich Offenbarer und Erlöser sein könnte. Und der erst kürzlich zum christlichen Glauben gekommene Kaiser Konstantin, wollte über diese Frage nicht Streit, sondern Klarheit und Einigkeit in seinem immer christlicher werdenden Reich.

Damit verdankt sich das Grundbekenntnis der meisten Christen (bis heute und fast aller Konfessionen) einem politischen, ja macht-politischen Vorgang, was durchaus interessant sein könnte in heutigen Debatten der einen oder anderen Art. In seiner ein paar Jahrzehnte jüngeren und um die Aussagen über den Heiligen Geist ergänzten Fassung, dem sogenannten „Nicäno-Konstantinopolitanum“ aus dem Jahr 381 (unten abgedruckt) steht dieses Bekenntnis noch heute in den Gesangbüchern, also nicht als verstaubte, beinahe vergessene Textreliquie, sondern zum Gebrauch in unseren Gottesdiensten. Der wird ausdrücklich empfohlen, nicht nur an den jetzt kommenden hohen Feiertagen Pfingsten und Trinitatis.

Das Bekenntnis zu Jesus Christus als Gottes Sohn und damit zum trinitarischen Gott dient zuerst und zuletzt dem Lob und der Verehrung Gottes. Es will gebetet und am besten gesungen werden, auch weil es im Wesentlichen sowieso nicht verstanden oder begriffen werden kann. Es entzieht sich – wie Gott selbst – dem Zugriff unseres Verstandes, aber es markiert die Grenzen, innerhalb derer wir Gott in Christus suchen können.

In den folgenden Worten bringen die in Nizäa versammelten Geistlichen ihren Glauben zur Sprache:
Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche. Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Amen.

Klaus Neumann

Konfirmationsjubiläum 2025

Alle, die in den Jahren 1965, 1975 und 2000 in der Thomaskirche oder in einer anderen Gemeinde konfirmiert wurden, laden wir herzlich ein, am

Sonntag, 15. Juni um 10:00 Uhr

im Gottesdienst in der Thomaskirche das Fest der Jubelkonfirmation zu feiern. Hierbei werden der Segen und der Zuspruch erneuert.

Wir bitten um Anmeldung im Gemeindebüro und sind sehr dankbar, wenn Sie diese Einladung weiterleiten würden.

Konfirmation 2025 (1. Juni 2025 – mit Foto)

Was bleibt eigentlich jetzt noch zu sagen? Nachdem sicherlich nicht alles, aber doch so vieles gesagt wurde im vergangenen Jahr eurer Konfirmandenzeit. Bei unseren Treffen am Donnerstag, in den Gottesdiensten am Sonntag, auf den Freizeiten im Westerwald und in Waldkappel am Fuße des Hohen Meißners, ganz schön weit von hier – dort hinten im hessischen Teil Sibiriens, wo einem im Winter die Zehen abfrieren und die Sonne nicht aufgeht – ok, das war jetzt übertrieben, aber nur ein bisschen.

Es gibt Kollegen von mir, die die Versäumnisse des Konfirmandenjahres durch eine möglichst umfassende und ausführliche Konfirmationspredigt auszugleichen versuchen; auch unter dem Gesichtspunkt, dass realistischerweise Gott der Herr mir Euch heute ein – hoffentlich vorläufig! – letztes Mal in die Hand gegeben hat. Eine verständliche, aber doch wenig aussichtsreiche Taktik, der ich heute mal nicht folge.

Denn dass bei den vielen Worten, die wir bei all solchen genannten Gelegenheiten während des Konfirmandenjahres machen, notwendigerweise viel mehr ungesagt bleibt als gesagt wird, das hätte ich euch gerne vermittelt. Gott der Schöpfer ist unausschöpflich, Gott läuft über vor Leben und Liebe, läuft über vor Gerechtigkeit und Wahrheit. Herr, deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen.

Alle unsere Worte, selbst wenn sie einigermaßen zutreffen, können doch nie Gott selbst fassen. Aber indem unsere Worte Teil eines großen Gesprächs werden, Teil der langen Geschichte Gottes mit den Menschen werden, kommt ihnen Bedeutung und Sinn und im besten Fall Wahrheit zu. Auf andere Weise als im Gespräch mit anderen, lässt sich von Gott nichts erfahren. Und selbst wenn wir dann Teile davon aufschreiben, wie das die Menschen von alters her getan haben, wie in den Geschichten der Bibel, bleiben das Szenen und Kapitel eines langen Stroms der Erzählungen; bleiben das Teile und einzelne Gesprächsgänge des einen großen Gesprächs Gottes mit den Menschen mit Gott.

Da also alle Gottesdinge zutiefst menschlich sind, bedarf es dafür menschlicher Intelligenz; nicht ganz dieselbe, die uns bei einer Physikaufgabe hilft oder bei einer Übersetzung; aber eigentlich schon dieselbe, insofern sie eben menschlich und nicht künstlich ist; und unsere menschliche Urteilsfähigkeit stärkt. Wenn euch in religiösen Themen nicht mehr jeder jeden Quatsch erzählen kann, wäre das ein gewünschter Effekt unseres Unterrichts. Selbst denken, macht klug, auch in der Religion.

Ich persönlich finde daher die Produkte Künstlicher Intelligenz oft nicht besonders intelligent, sondern gelegentlich sogar ziemlich doof: Wissen Sie Herr Pfarrer, dass, was Sie da vorhin gesagt haben, ist ganz anders als das, was mir ChatGPT sagt – Das will ich doch hoffen!

– auch wenn die, die sich die Computerprogramme dafür ausgedacht haben, natürlich um Längen intelligenter sind als ich – allerdings auch als ihre Anwender. Aber deren Produkte spiegeln sehr deutlich wider, dass hier nicht nur Wissen, sondern auch Irrtümer gesammelt, regelrecht aufgetürmt, dann kombiniert und so präsentiert werden, dass es dem Nutzer gefallen könnte: „Halluzinieren“ und „Schleimen“ heißt das wohl im KI-Jargon; und jeder kennt beides aus der Schule.

Natürlich ist es einfacher, das haben wir alle gelernt, die Lösungen vom Nachbarn abzugucken oder sich im Extremfall einen Aufsatz schreiben zu lassen. Aber es ist offensichtlich Quatsch, das dann für meine eigenen Gedanken zu halten; obwohl ich mich auf Gedeih und Verderb für den von mir vorgelegten Quatsch verantwortlich mache. Selbst denken, macht klug, auch in der Religion.

Ein solcher Satz widerspricht witzigerweise einem verbreiteten Vorurteil über die Religion, dass sie nämlich im Nachbeten autoritärer Floskeln bestünde. Aber das ja nun gerade dann nicht, wenn doch Religion die Teilnahme an einem Gespräch ist. Und je interessanter – also interessierter, kritischer, auch selbstkritischer – die Gesprächspartner, desto interessanter das Gespräch. In manchen glücklichen Momenten haben wir das gemeinsam erlebt im vergangenen Jahr.

Es gibt wenige interessantere Gesprächspartner als die Autoren und die Figuren der Bibel; und das gerade nicht, weil die Bibel in einem nicht zu hinterfragenden Sinn wahr und deshalb fraglos zu glauben wäre. Wie gesagt, wir wollen die Bibel nicht für einen autoritären Klotz halten, den jemand aus dem Himmel wirft und damit unseren Kopf verletzt. Sondern die Bibel ist deshalb so interessant, weil sie das menschliche Gespräch Gottes mit den Menschen mit Gott notiert, und zwar über Jahrhunderte; weil es sich deshalb lohnt, in ein Gespräch mit ihnen zu treten; weil es erfüllt und regelrecht glücklich machen kann, sich von ihnen etwas sagen zu lassen. Und sei es nur ein Schnipsel aus der Bibel, wie euer Konfirmationsspruch. Manchmal steckt da so viel drin, dass es für ein ganzes Leben reicht und interessant bleibt – manchmal sogar darüber hinaus.

So ähnlich hat offensichtlich einer vor etlichen hundert Jahren gedacht, der im heutigen Frankfurt-Heddernheim, dem römischen Nida, dem „deutschen Pompeji“ zu Grabe getragen wurde. Um seinen Hals hat ein Silberamulett die Jahrhunderte überdauert, und darin eine hauchdünne, brüchige Folie mit dem ältesten Zeugnis christlichen Glaubens nördlich der Alpen. Was sich wie eine Sensation anhört, war auch eine, auch wenn vielleicht nicht genau die, zu der sie die Lokalpresse gemacht hat, dass nämlich der erste und älteste Christ nördlich der Alpen ein Frankfurter gewesen sei, frei nach dem lokalstolzen Motto des großen Friedrich Stolze: Eins geht mir net in de Kopp enei, wie kann e Mensch net von Frankfurt sei.

Also: Ob dieser Mensch im Grab aus Frankfurt war, ob das Amulett aus Frankfurt stammt, ob der Verstorbene den Text kannte oder sogar selbst lesen oder vielleicht sogar selbst schreiben konnte, kann kein Mensch wissen, aber dass dieser Text, den er bei seiner Auffindung um den Hals trug, der älteste christliche Text nördlich der Alpen und deshalb eine Sensation ist, ist nicht zu bestreiten.

Und da ich jetzt gerade keine weiteren Sensationen im Ärmel habe, und also nicht so genau weiß, was ich hier und heute noch sinnvoll sagen könnte, lese ich euch einfach einen Text aus der Bibel vor, den Predigttext für den heutigen Sonntag, das Gebet eines Apostelschülers, die Fürbitten an seine Gemeinde, meine Fürbitten für euch heute:

Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater,
15von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat,
16dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen,
17dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet,
18damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist,
19auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt.
20Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, 21dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. (Epheser 3,14-21)

Himmelfahrt 2025

Und Salomo trat vor den Altar des Herrn angesichts der ganzen Gemeinde Israel und breitete seine Hände aus gen Himmel und sprach: Herr, Gott Israels, es ist kein Gott weder droben im Himmel noch unten auf Erden dir gleich, der du hältst den Bund und die Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln von ganzem Herzen; der du gehalten hast deinem Knecht, meinem Vater David, was du ihm zugesagt hast. Mit deinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt, wie es offenbar ist an diesem Tage. Nun, Gott Israels, lass dein Wort wahr werden, das du deinem Knecht, meinem Vater David, zugesagt hast.

Denn sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe? Wende dich aber zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, Herr, mein Gott, auf dass du hörst das Flehen und Gebet deines Knechts heute vor dir: (1. Könige 8, 22-24.26-28)

Joachim Neander, dessen Name ungleich glanzloser im deutschen Original als in seiner griechischen Aufwertung klingt, Joachim Neander, liebe Schwestern und Brüder, der Dichter eines unserer populärsten Kirchenlieder, „Lobe den Herren“, hat mit Freude das Lob Gottes in die Natur unter freien Himmel getragen, so wie wir ja auch und nicht nur heute. Joachim Neander hat das „Christenergötzung im Grünen“ genannt, darin wollen wir ihm folgen.

Sein Lieblingsort im Freien war nicht der Kurpark zu Wiesbaden, sondern das liebliche Tal der Düssel, das in felsig-waldiger Gegend zum Rhein führt, nach Düsseldorf nämlich, nur dass es schon seit langem seinen, des singenden Pfarrers Namen trägt, eben das „Neandertal“.

Und so heißt übrigens der Urmensch, dessen Skelett dort ausgegraben wurde, Neandertaler; er verdankt also seinen Namen zumindest indirekt, was nicht alle wissen, dem evangelischen Dichterpfarrer Joachim Neander.

Neandertaler haben in den 40000 Jahren ihres Ausgestorbenseins eher an Popularität gewonnen. Was für uns früher die Familie Feuerstein war, sind heute für unsere Kinder die Croods, Urmenschen mit fliehender Stirn, grober Natur und schlichter Gesinnung.

„Verlasse nie die Höhle!
Hab niemals keine Angst!
Alles Neue ist schlecht!“

Dieses Lebensmotto aus dem sehr unterhaltsamen Animationsfilm The Croods über eine Familie von Höhlenmenschen aus dem Jahr 2013 (also der Film nicht die Familie!), diese Lebensregel von Höhlenmenschen klingt gelegentlich auch in uns und unter uns noch nach, so wie ja auch einige Gene der Neandertaler noch in uns wirken, die wir uns für Homo sapiens halten.

Und wenn man im Landesmuseum Darmstadt vor einer Rekonstruktion des Neandertalers steht, blickt man in den Spiegel seiner selbst – Siehe da, ein Mensch! Nicht gerade hübsch, aber halt ganz so wie wir auch.

„Verlasse nie die Höhle!
Hab niemals keine Angst!
Alles Neue ist schlecht!“

Mit diesen Regeln versucht der Familienvorstand im Film seine freiheitsliebende Tochter in der Höhle zu halten. Diese Tochter Eep scheint wie so manche Pubertierende ein wenig aus der Art geschlagen und würde viel lieber unter freiem Himmel, hinaus in die Welt, hinaus in das Leben ihrer Jugend genießen, die Gefahren der Freiheit erfahren – und bestehen, was sie mit ihrer Familie in zahlreichen haarsträubenden Abenteuern in einer sich drastisch verändernden Welt dann tatsächlich auch tut.

Von den Steinzeitmenschen lernen, heißt überleben lernen; aber eben nicht, indem wir ihnen folgen, sondern indem wir unsere eigenen, neuen Wege finden.

Denn aus den einstürzenden Altbauten unserer Gewissheiten heraus, aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Gestern ins Morgen, aus der Höhle hinaus unter den freien Himmel – auf diesen Weg ruft uns Gott, ganz besonders an einem solchen Tag wie Himmelfahrt, wenn das reichlich unwahrscheinliche aber umso spektakulärere Wunder der Himmelfahrt seines Sohnes uns aus den Höhlen lockt („Was ist denn da wieder los?!“), unseren Blick in den Himmel lenkt, und die himmlische Freiheit der Kinder Gottes ahnen lässt. Wenn uns also zugerufen wird:

Verlasst eure Höhlen!
Fürchtet euch nicht!
Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!
Oh what a wonderful world this could be.

Diesen Weg aus der Höhle heraus unter den freien Himmel beschreibt seit sehr, sehr langer Zeit ein Gleichnis, das Höhlengleichnis des ollen Griechen Platon: Es beschreibt unsere menschliche Existenz als Gefangenschaft in einer Höhle, die wir Menschen aber für das einzige, eigentliche und wahre Leben halten. Dabei ist alles, was wir sehen und erleben nur der Schatten der Dinge, die von einem Licht außerhalb der Höhle angestrahlt werden. Wenn nun einer kommt, der uns Menschen von einem Leben draußen in Freiheit unter freiem Himmel erzählt und uns herausführen will aus unserer Höhle, wenden wir uns misstrauisch, aggressiv dagegen und beharren dummdreist auf unsere selbstverschuldete Unmündigkeit.

Denn selbstverschuldet ist sie ja, sobald wir von anderen Möglichkeiten wissen, sobald wir vom Himmel außerhalb der Höhle hören. Und so übertönen wir alsbald den Ruf der Freiheit abermals mit dem Geschrei der Unmündigkeit.

„Verlasse nie die Höhle!
Hab niemals keine Angst!
Alles Neue ist schlecht!“

Aber wer könnte dem gegenüber – dem entgegengesetzt – garantieren, dass der Rufer einer neuen Freiheit recht hat? Dieser Rufer könnte sich doch irren; er könnte sogar Böses im Schilde führen – und nicht selten führt doch gerade der angestrebte Weg in die Freiheit geradewegs ins Verderben, in noch tiefere, dunklere Höhlen zurück, gar in die Hölle hinab. Aus solchen Sorgen gespeist funktionierte die Lebensregel der Höhlenmenschen erstaunlich lange.

Neandertaler haben sich ziemlich lange gehalten – bis ihnen dann doch eine fatale Verbindung aus Klimawandel, Konkurrenz und Mitgliederschwund den Garaus gemacht hat. Man schreibt ihnen, wie immer man das belegen wollte, zu, „Fortpflanzungsmuffel“ gewesen zu sein, was aber schonmal für das unternehmungslustige Höhlenmädchen in unserem Film nicht zutrifft. Auch das kein Zufall, denn sie führt ihre Familie und uns mit ihr aus der Höhle heraus – heraus unter den freien Himmel.

Dieser Himmel, auf den wir heute aufmerksam gemacht werden, steht für Gottes ungeahnte Möglichkeiten: Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen, ruft der weise Salomo in denselben. Da ist so viel mehr zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit zu wissen glaubt. Gott und seine Möglichkeiten sind – wenn wir es denn glauben wollen – größer und weiter als unsere Ängste und Sorgen; so wie seine Liebe größer ist als unser Hass; so wie seine Gnade größer ist als unsere Schuld; seine Hoffnung so viel größer als unser Kleinmut. Davon sollen wir heute an Himmelfahrt eine Ahnung bekommen.

Höhle zu Himmel verhalten sich wie Himmel und aller Himmel Himmel – da ist immer mehr und Größeres bei Gott, auf den wir auf unserem Weg nach draußen vertrauen können. Eine Garantie, dass unsere Unternehmungen gelingen, ist das nicht, aber Grund zur Zuversicht jedenfalls.

Also, Brüder und Schwestern: Zur Sonne, zur Freiheit, zum Himmel, zum Licht, Fürchtet euch nicht!

Okuli, 3. Sonntag der Passionszeit, 23. März 2025

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich.

Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.

Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich’s nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen.

Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«

Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. (Buch des Propheten Jeremia 20)

Liebe Gemeinde,

von der Last des prophetischen Amtes ist hier beim Propheten Jeremias die Rede – und soll also heute die Rede sein. Von den Widrigkeiten der öffentlichen Wortverkündigung, von den Widerständen, die ein Knecht Gottes erfährt. So schwer kann die Last werden, dass die Füße nicht mehr gehen wollen, die Stimme bricht, der Rücken sich krümmt. Das Amt zu schwer wird – vielleicht von Anfang an zu schwer war.

In diesem Jahr 2025, erinnern wir uns an ein Geschehen vor 500 Jahren, wenn ich richtig rechne also 1525, das trotz mancher Versuche der Umbenennung immer noch Bauernkrieg heißt, und aus guten Gründen so heißt: Bauernkrieg. In diesem – noch aus der zeitlichen Ferne vielfach herzzerreißenden Geschehen von Aufruhr und Unterdrückung, Gewalt und Gegengewalt, von ungeheuren Opfern, von 100.000 Toten ist zu reden; erheben auch Geistliche, Diener Gottes, Propheten die Stimme; besonders laut, bisweilen schrill Thomas Müntzer.

„Darum seid getrost und tut Gott den Dienst und vertilget diese untüchtige Oberkeit. Dann was hilfts, ob wir schon Frieden machten mit ihnen, denn sie wollen doch fortfahren, uns nicht freilassen, treiben uns zu Abgötterei. Nun seind wir schuldig, lieber zu sterben, denn in ihr Abgötterei zu verwilligen. Es were je besser, daß wir Merterer wurden, dann daß wir leiden, daß uns das Evangelium entzogen werd und wir zu der Pfaffen Mißbrauche gedrungen werden. Darüber weiß ich gewißlich, daß Gott uns helfen würd und uns Sieg geben, denn er hat mir mündlich solches zugesagt und befohlen, daß ich alle Stend soll reformieren. …

Laßt euch nicht erschrecken das schwach Fleisch und greift die Feind kühnlich an, dörft das Geschütz nit förchten, dann ihr sollt sehen, daß ich alle Büchsenstein in Ärmel fassen will, die sie gegen uns schießen. Ja ihr sehent, daß Gott auf unser Seiten ist, denn er gibt uns jetzund ein Zeichen. Sehent ihr nicht den Regenbogen am Himmel? Der bedeut, daß Gott uns, die wir den Regenbogen im Banner führen, helfen will und dreuet den mördrischen Fürsten Gericht und Strafe. Darum seind unerschrocken und tröstet euch göttlicher Hilf und stellt euch zu Wehre. Es will Gott nicht, daß ihr Fried mit den gottlosen Fürsten machet.“ (Letzte Predigt Müntzers vor der Schlacht bei Frankenhausen 15. Mai 1525)

Thomas Müntzer von Allstedt am Harz, Reformator der ersten Stunde, Wegbereiter der evangelischen Lehre, Autor der ersten Gottesdienstordnung in deutscher Sprache, Dichter geistlicher Lieder, deren einziges, das noch im Gesangbuch steht, wir heute gesungen haben; aber auch unruhiger mit unstetem Leben, Wanderer am – wie er es sah – Ende der Zeiten, Getriebener des Geistes, wobei nicht immer klar war, ob das ein heiliger war; Vertriebener aus eigentlich allen Orten und Ämtern und am Ende, nachdem er durch seine letzte, fanatische Predigt die Aufständischen in Frankenhausen in Schlacht und Tod gesendet hat, selbst grausam gefoltert und ermordet durch die Knechte der Fürsten; Opfer seines Eifers, der Verhältnisse, der grausamen Rache einer unbarmherzigen Obrigkeit; durch das Schwert umgekommen, das er selbst in die Hand genommen hat.

An ihm, dem Propheten, der sich verlaufen hat, wird in völlig übertriebener, geradezu karikaturhafter Weise sichtbar und unübersehbar deutlich, was das ist, ein geistliches Amt;

was er zu tragen hat: ein Gottesmann; was er auszuhalten genötigt wird als Stimme Gottes. Viel mehr jedenfalls, als jemand, als ein Mensch aushalten und tragen kann. Und das nicht nur wegen der unerträglichen Verzerrung des Amtes, die er selbst vollzieht; sondern weil das geistliche Amt immer schon und von sich eine Überforderung, eine Überdehnung, eine Verzerrung in sich trägt; strukturell sozusagen, unausweichlich; das gehört zum Amt dazu. Denn: als gottloser Sünder soll ich Gott verkündigen; aus jenseitiger Ferne von Gottes Nähe sprechen; als Mensch Gott loben. Wie soll das gehen?

Ich, gottloser Sünder, will Gott loben: Das formuliert den Auftrag und zugleich den Zwiespalt des geistlichen Amtes, von dem auch Jeremias spricht und unter dem er leidet. Von der Gottlosigkeit der Menschen, seiner selbst natürlich auch, und der Gottheit Gottes soll er sprechen. Das Prophetenamt benennt eine unmögliche Möglichkeit. Wie könnte er daran nicht zerbrechen?

Von keinem anderen Propheten überliefert die Bibel eine so ergreifende Leidensgeschichte. Weich wie grüner Weizen fühlt sich Jeremia seiner frühen Berufung nicht gewachsen. Der prophetische Auftrag quält Jeremia und macht sein Herz krank. Was Gott ihm zumutet, empfindet Jeremia als bewusste Täuschung. Jeremia muss Israel den Untergang verkündigen und darf noch nicht einmal beten für sein Volk. Dafür wird Jeremia gehasst, verfolgt, eingesperrt, gefoltert, tödlich bedroht. Etwa 40 Jahre ist Jeremia mit Worten, Schrift, Aktionen und seiner gesamten Existenz der Mund Gottes. Dabei lässt Jeremia auch seine eigene Stimme, sein heulen hören. Eindrücklich ist sein inneres und äußeres Leiden dokumentiert. In direkter Fortsetzung unseres Predigttextes klagt Jeremia sein Leid, verflucht sein Leben:

Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin; der Tag soll ungesegnet sein, an dem mich meine Mutter geboren hat!

Verflucht sei, der meinem Vater gute Botschaft brachte und sprach: »Du hast einen Sohn«, so daß er ihn fröhlich machte!

Der Tag soll sein wie die Städte, die der HERR vernichtet hat ohne Erbarmen. Am Morgen soll er Wehklage hören und am Mittag Kriegsgeschrei,

weil er mich nicht getötet hat im Mutterleibe, so daß meine Mutter mein Grab geworden und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre!

Warum bin ich doch aus dem Mutterleib hervorgekommen, wenn ich nur Jammer und Herzeleid sehen muß und meine Tage in Schmach zubringe!

Auch in Jeremia, seinem beinahe nihilistischen Ausbruch zeigt sich – übertreibend, vergrößernd und vergröbernd – der Riss, der Zwiespalt dessen, der Gott verkündigt: Ich, gottloser Sünder, will Gott loben. Wie soll das gehen?

Es geht nicht von mir aus, nicht aus eigener Kraft, nicht aus eigener Macht und Herrlichkeit. Kein Prophet kann selbst für seine Worte einstehen. Kein Prophetisches Leben die eigene Lehre beglaubigen. Wir können unsere Botschaft nicht durch uns selbst, nicht durch unser eigenes Leben wahr machen, nicht durch ein gottgefälliges Leben – und Gott sei dank, auch nicht unwahr machen durch unsere Verfehlungen. Nur Gott selbst kann unsere Worte beglaubigen, sie wahr machen. Nur Gott selbst kann den Riss heilen, den Zwiespalt, den garstigen Graben zwischen dem gottlosen Sünder und seinem heiligen Wort überbrücken.

Damit bleibt das prophetische Projekt notwendig unabgeschlossen; auch 40 Jahre Dienst im Auftrag des Herrn reichen nicht; Jeremia und seine Prophetengenossen können ihr Werk nicht vollenden, in alle Ewigkeit nicht. Aber sie können sagen und darauf hinweisen, was uns Menschen zum vollständig sein fehlt. Sie können ausrufen und deutlich machen, was uns heil macht. Sie können in Worten und Taten erklären, wer uns heiligt, ohne uns dabei zu Heiligen zu machen: Gott selbst nämlich, der zu uns kommt, der unser Leben und unser Leiden teilt, der sich selbst unter die verfolgten Propheten reiht.

Wenn die Propheten das hinbekommen, dass sie nicht sich selbst lehren, sondern den, der sie beauftragt, bekommt ihr schwieriges Geschäft einen Sinn. Wenn sie von sich selbst weg und auf Gott hinweisen. Wenn ihre Fehlbarkeit und ihre Sündhaftigkeit also kein Makel, sondern geradezu notwendige Bedingung ihrer Botschaft ist. Nicht ich bin der starke Held – sondern wie Jeremias sagt: der Herr ist bei mir wie ein starker Held. Nicht um mich geht es – sondern um den, von dem ich spreche. Nicht um meine angeblich bessere Gerechtigkeit, sondern allein um die gerechtmachende Gerechtigkeit Gottes. Mein Ungenügen ist die glückliche Schuld, die den Glauben an den Gott stiftet, der den Gottlosen aufhebt und zu sich nimmt. Kyrie Eleison – Herr erbarme dich – das ist der Ruf des begnadeten, gerechtfertigten Sünders.

Uns aber bleibt die prophetische Botschaft, dass nicht meine Schwäche zählt, sondern Gottes Stärke mein Leben heil macht: Der HERR ist bei mir wie ein starker Held. Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Reminiszere, 16. März 2025

Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.

Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. (Johannesevangelium 3, 14-21)

Im vergangenen Sommer hat sich für einige Zeit immer mal wieder eine ziemlich große Schlange hier auf dem Kirchengebiet unserer Thomaskirche sehen lassen, da hinten an der Treppe zur Humperdinckstraße, auch auf dem Vorplatz der Kirche. Und einmal sind zwei unserer jugendlichen Fußballspieler, die die alle paar Tage ihren Ball auf das Kirchendach ballern, ebenfalls unter einiger Aufregung der Schlange begegnet, haben sie sogar angefasst, sie fotografiert und gefilmt, wie ich auch schon ein paar Tage zuvor.

Sie – also die Schlange – wird die grobe Behandlung mit einem gehörigen Schrecken überstanden haben, ich ja auch. Zunächst hatte ich gedacht, dass es eine Ringelnatter gewesen sein muss, aber wegen ihrer beträchtlichen Länge von vielleicht zwei Metern und ihrer eher dunkleren Hautfärbung war es vielleicht doch eine Äskulapnatter, die ja ebenfalls als heimische Schlange hier in Wiesbaden und im Rheingau lebt; Schlangenbad verdankt ihr bekanntlich seinen Namen.

Diese Schlange, die Äskulapnatter, trägt ihren Bezug zu Gift und Gegengift im Namen als Symbol des griechischen Gottes der Heilkunst, obwohl sie doch selbst ganz ungiftig ist. Noch heute dient der von der Schlange umwickelte Äskulapstab als Symbol für Heilkunst und Heilmittel. Dieser Bezug von Schlangen zur Religion ist weit verbreitet und kommt eben auch in der Bibel vor: von der Schlange im Paradies bei Adam und Eva bis zur Schlangenplage in der Wüste bei Mose und den Israeliten.

Auf die bezieht sich Jesus hier in unserem Text: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Mose begegnet der gefährlichen Schlangenplage mit einer bronzenen, „ehernen“ Schlangenskulptur, hält sie auf Gottes Geheiß den Schlangen entgegen, worauf diese sich verziehen und die Israeliten verschonen. Das Schlangenbild vermag das giftige Ungeziefer zu bannen.

So will Jesus hier den Menschensohn verstanden wissen, der hochgehalten werden wird gegen die Schlangenbrut und Schlangenpest, die diese Welt verseucht. Der erhöhte Menschensohn, als Jesus Christus selbst am Kreuz, christlicher Äskulapstab sozusagen, wie wir Leser des Johannesevangeliums Zug um Zug erfahren werden, ist das Gegengift gegen das Gift dieser Welt, Heilmittel gegen alles Unheil. In seinem Bannkreis verzieht sich das Gesindel. In seinem Bannkreis sind wir geschützt. Das Symbol des Glaubens als Medizin gegen das Böse.

Noch der unfrommste Gruselfilm bedient sich dieser Vorstellung, wenn nämlich die durch teuflische Mächte Angegriffenen den Angreifern, in welcher Gestalt auch immer sie erscheinen, das Kreuz, das Kruzifix als Zauberstab entgegenhalten – wenn gerade der Knoblauch ausgegangen ist – und die Bösen auf diese Weise vertreiben, um zu überleben: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Nach solcherart natur-, religions- und volkskundlichen Klärungen bleibt nur noch die Frage, ob wir das Geschehen auch unserem Glauben plausibel machen können. Der Jesus des Johannesevangeliums erläutert es jedenfalls mit einem seiner berühmtesten Verse: Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Vorausgesetzt wird folglich, dass wir eigentlich natürlicherweise „verloren gehen“ und, wenn wir das verhindern wollen, aus den Verhältnissen der Welt gerettet werden müssen; im Bild unseres Textabschnitts gesprochen: dass wir immer schon in der Gegenwart und in der Bedrohung von Schlangen leben – nicht den harmlosen Nattern, denen wir im vergangenen Jahr auf dem Kirchengelände begegnen konnten, aufregend genug – sondern echtem, gefährlichem Otterngezücht, dass uns ans Leben will; Raubtieren, die uns nach dem Leben trachten; und die nur mit göttlichem Beistand gebannt werden können.

Vorausgesetzt wird also die Feindlichkeit der Welt, ihre Finsternis und die Bösartigkeit von uns Menschen, die wir in der Finsternis leben; oft genug und – wie der Text meint – sogar meistens oder unvermeidlich, ohne dass uns das bewusst würde; nämlich so, dass wir die Finsternis der Welt und die Bösartigkeit der Menschen für ihre und unsere Natur halten, dass es so sei, schon immer so sei und sein werde und so sein müsse. Die Welt ist halt so. Dieses harte Urteil, für das ja schnell Hinweise und Beispiele gefunden werden können, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf und die Welt sein Kampfplatz sei, kann erst in seiner ganzen Deutlichkeit, seiner Schwere und seiner Dringlichkeit durch das hereinbrechende Licht Gottes gesehen und erkannt werden. Erst die Erlösung daraus zeigt das ganze Elend unserer Existenz.

Vorausgesetzt von der Rede vom Licht der Erlösung wird eine rabenschwarz-finstere Weltsicht, einer Sicht der Welt als Schlangengrube, mit uns selbst als Opfern und Tätern zugleich: Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen – also wir! Menschen – liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. So lebensfeindlich diese Finsternis auch erlebt und erlitten wird, sind wir Menschen doch zunächst gegenseitig Komplizen des Bösen, die dessen Aufdeckung scheuen: Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.

Wie gesagt: Hinweise und Belege für diese Sicht der Dinge sind schnell gefunden, unvermeidlich, unausweichlich. Die Kriege und Krisen unserer Zeiten zeigen nichts anderes als diese rabenschwarz-finstere Welt; und ein Blick in die Abgründe der Finsternis würde schnell die Verstrickungen und Verflechtungen noch der besten Gesellschaften und der moralischsten Regierungen, ihre Verstrickungen und Verflechtungen mit dem Bösen und den Bösen aufdecken. Dass die Bösen böse sind versteht sich von selbst; aber dass selbst die Guten dem Bösen dienen, erleben wir mit ungläubigem, verzweifeltem Staunen: Entspannung zwischen den Mächten birgt – scheinbar naturgesetzlich – den Keim neuer Spannungen. Selbsterklärte Friedenspolitik kann zu noch mehr Krieg führen und sogar die hoffentlich ehrliche Verpflichtung vergangenes Unrecht gut zu machen, kann Neues Unrecht hervorbringen. Das alles erleben wir ja gerade und es verbietet uns also, den Jesus des Johannes hier für einen Schwarzmaler, für einen Anhänger schwarzer Prophetie zu halten, der uns bloß Angst machen will. Will er ja gerade nicht! Und wir, die wir das weitersagen eben auch nicht.

In diese Welt der Finsternis, der Bösartigkeit, der Sünde und des Leids spricht Jesus sein Wort der Erlösung. Es beleuchtet in einem ersten Schrecken das ganze Ausmaß der Finsternis, in der wir leben. Es macht die Erlösung groß, indem es die Größe des Bösen zeigt. Aber selbst das führt zu keinen Abschlägen an Gottes Werk, das keiner großen Begründung bedarf, schon gar keinen, die in uns liegen würden. Unwiderstehlich ist seine Liebe zu uns, unbedingt seine Gnade, übermächtig sein Heil und sein Mittler. Gott will es einfach. Ohne Warum, ohne Preis – höchstem dem, dass wir das Unwahrscheinliche seiner Liebe für wahr halten: Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Invokavit, 9. März 2025

Predigt in der Sonnenberger Thalkirche über die Bergpredigt: Selig die Armen!

Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach:

Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan.

Aber dagegen: Weh euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet weinen und klagen. Wehe, wenn jedermann gut über euch redet; denn das Gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan. (Lukasevangelium 6,20-26)

Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.  Wer jetzt meint, liebe Schwestern und Brüder, das haben wir aber anders im Ohr, irrt nicht. Beim Evangelisten Matthäus klingen die Seligpreisungen Jesu, der berühmte Auftakt seiner Bergpredigt, anders als hier bei Lukas, monumentaler und milder zugleich. Schon mit dem ersten Vers bietet Matthäus anders als Lukas an, die Armut der Armen zu vergeistigen, deren konkrete Not zu spiritualisieren: Selig sind die Armen im Geiste, heißt es bei ihm.

Und wie so oft liegt in einem Mehr an Spiritualität ein weniger an Konkretheit, ein weniger an wirklichem, gelebtem Leben. Selbst wenn die „Armut im Geiste“ gar nicht verfälschend spirituell gemeint sein sollte, wie manche Ausleger aus guten Gründen meinen, reicht der kleine Zusatz des Matthäus, bei uns Hörern der Bergpredigt den Eindruck zu erwecken, hier gehe es um eine bloß geistliche, innere Not im Unterschied und im Gegensatz zur blanken, krassen, sichtbaren und konkreten Not von Armut und Hunger. Das aber hat Lukas anders von Jesus gehört – und heute wollen wir auf ihn hören: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.

Dass ein solches Wort gefährlich werden kann, kann man sich denken – und kann man nachvollziehen im Blick auf die Ereignisse des Bauernkrieges vor 500 Jahren. Im Frühjahr des Jahres 1525 braut sich ein Sturm zusammen, der sich in immer wilderen und gewalttätigeren Gewittern entlädt und erst im folgenden Jahr zur Ruhe kommt. Eine lose, wirre Kette von Zusammenrottungen, Scharmützeln, Belagerungen, Besetzungen, Aufständen und Schlachten reiht sich durch dieses Jahr 1525; begleitet von einem unerhörten, bis dahin beispiellosen, bis zu dieser Zeit ungesehenen publizistischen Streit, der den eigentlich wenig kohärenten Geschehnissen im Süden und Osten Deutschlands erst einen Zusammenhang und den griffigen Namen „Bauernkrieg“ gibt. Flugblätter und -schriften sind genauso Waffen in diesem Krieg wie die Mistgabeln der Bauern und die Lanzen der Fürstenknechte.

Dass dieser Bauernkrieg nicht nur sozialer Aufruhr, nicht nur Armutsrevolte oder etwa „frühbürgerliche Revolution“ war, wie ihn die sozialistische Geschichtsschreibung früherer Zeiten taufte, sondern ein legitimes, bedeutendes Kapitel der Reformationsgeschichte, das liegt zuerst an der Motivation der Bauern in den Lehren der Bibel, die sie nun selbst lesen konnten, aber auch an der konkreten Beteiligung mancher Reformatoren in Tat und Wort auf beiden Seiten des Streits. In Thüringen predigte Thomas Müntzer den Bauern die radikale Reformation als Krieg der Bauern gegen die Obrigkeit, den Bauernkrieg – und das praktisch in Hörweite des Reformators Martin Luthers im benachbarten Sachsen (immer diese Ossis!).

Luther hatte sich schon ein paar Jahre zuvor in seinen berühmten Invokavitpredigten (!) gegen den Aufruhr in seinem Wohnort Wittenberg gewandt; Luther hatte Argumente formuliert, wie die Anliegen der Reformation von den Mitteln der Revolution zu unterscheiden waren; wie Formen der Freiheit zu unterscheiden und dennoch aufeinander zu beziehen waren; und wie Gesetz und Evangelium so zu unterscheiden waren, dass beide zu ihrem Recht kämen, als Gottes Gnade und Recht der Menschen.

Im Gegensatz dazu hatte sich Thomas Müntzer auf seinem unruhigen Weg durch das Land radikalisiert. Für ihn verschmolzen innere und äußere Freiheit. Für ihn war Befreiung von geistiger und äußerer Knechtschaft, Befreiung von geistiger und äußerer Armut, ein und derselbe Kampf – und ihre Unterscheidung eine theologische Spitzfindigkeit des – wie er sagte – „sanftlebenden Fleisches zu Wittenberg“. Wenn die aufständischen Bauern in Frankenhausen und anderswo Freiheit auf ihre Fahnen schrieben, dann meinten sie mit Müntzer, der ihnen dort vorneweg in den Tod lief, die Freiheit auch von obrigkeitlicher Willkür. Wenn die Bauern den Regenbogen auf ihre Fahnen malten, dann war ihnen das das Zeichen von Gottes Himmelreich, dem sie entgegenzugehen glaubten. Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.  Aber so kam es bekanntlich nicht.

Nach dem Alten Testament zeigt sich ein falscher Prophet am bösen Ausgang seiner Rede. Danach war Müntzer, der den Armen den Aufstand predigte und so 10tausende in den Tod schickte, ein falscher Prophet, der ihr Schicksal am Ende teilte. Ob dagegen sein Gegenspieler Luther ein wahrer Prophet war, ist nicht erst in jüngster Zeit mehr und mehr in Zweifel gezogen worden. Wie seine unsäglichen Tiraden gegen Juden wird sein Pamphlet gegen die „räuberischen und mordenden Rotten der Bauern“ zu Recht kritisiert und als unmenschlicher Mordaufruf an die Fürsten verurteilt, dem diese pflichtschuldigst nachkamen. Evangelisch war Luther hier nicht.

Was man ihm allerdings nicht vorwerfen kann, ist, dass er in der eigentlichen Sache inkonsequent gewesen wäre. Seine Position zu Aufruhr und Gewalt hatte sich wie gesagt Jahre zuvor schon herausgebildet und wird hier nur auf die neue Situation angewendet: Das Evangelium mit Gewalt durchzusetzen, verstößt seiner Meinung nach gegen Gottes Willen. Aus seiner Sicht, die Demokratie und Rechtstaatlichkeit noch nicht kannte und offensichtlich nicht kennen konnte, war ohnehin jede Obrigkeit besser als keine. Widerstand gegen die Fürsten war für ihn Widerstand gegen Gott. Schlimmer als ein armer Bauer, war ein armer Bauer, der im Chaos versinkt. Und wer das heute verurteilt, was man kann und muss, aber nur mit guten Gründen verurteilen sollte, sollte dabei auch bedenken, was uns selbst staatliche Ordnung wert ist – gerade auch in einer unübersichtlicher werdenden Welt.

Jeder menschlichen Ordnung des Staates ist das Reich Gottes, das Himmelreich – wie Jesus auch sagen kann – entgegengesetzt. Dieses Reich aufzurichten ist einzig und allein Gottes Sache. Und insofern die Bergpredigt von Gottes Reich und seinen Verhältnissen handelt – Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euernennt sie keine Forderungen an uns, formuliert keine Gebote, erlässt keine Gesetze. Die Erwartung des Reiches Gottes schenkt Freiheit. Als Hörer der Bergpredigt hören wir von etwas, das nicht wir, sondern Gott – und nur Gott – herbeiführen wird. Aus diesem Evangelium ein Gesetz zu machen, hieße es zu verkehren. Von den läppischen Versuchen, aus der Bergpredigt läppische Regeln ethischer Wellness abzuleiten, ganz zu schweigen.

Das heißt aber keinesfalls, dass uns die Bergpredigt etwa nichts anginge. Was hindert uns denn daran, die Verhältnisse des Himmelreiches auf unsere anzuwenden – ohne zu behaupten und ohne zu erwarten, dass dieses dann anbräche? Karl Barth hat davon gesprochen, dass das Evangelium auf dem Weg der Analogie zur Quelle unseres Handelns, des Gesetzes also, werden kann. Wenn Armut – entgegen allen anderslautenden Gerüchten – kein Naturgesetz ist, sondern einst von Gott beseitigt sein wird, warum sollten wir uns dann mit der Armut der Armen abfinden? Wenn Hunger nach Gottes Willen nicht sein soll, warum sollten wir denn nicht dazu helfen, Hungrige satt zu machen? Wenn die Weinenden wieder etwas zu lachen haben werden, warum sollten wir sie nicht aufmuntern? Wenn uns Gott zum Tanz bittet – sollten wir dann als Mauerblümchen sitzen bleiben, sollten wir dann nicht die anderen bitten, mitzutanzen ?

Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan.

Sonntag Sexagesimae, 23. Februar 2025

Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Makedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.

Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus vor das Stadttor an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.

Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

(Apostelgeschichte 16,9-14)

Mit meinen Schülerinnen und Schülern der 7. Klasse erarbeiten wir uns gerade die Anfänge des Christentums: Wie und auf welchen Wegen hat sich der christliche Glauben ausgebreitet und warum hat er sich schließlich durchgesetzt? Wie kommt es vor ziemlich genau 1700 Jahren zum Konstantinischen Zeitalter, das nun womöglich nach 1700 Jahren gerade allmählich zu Ende geht? Und wie gelangte der christliche Glauben zu uns nach Germanien jenseits des Rheins knapp vor dem Limes, an die Grenze der römischen, ach sagen wir gleich: an die Grenze der zivilisierten Welt?

Und weil Umwege nicht nur beim Predigen, sondern auch im Unterricht die interessantesten Wege sind, haben wir uns zumindest in Gedanken und mit Bildern erstmal in das römische Wiesbaden, das römische Frankfurt und das römische Mainz versetzt, um insbesondere die Religion zu kennenzulernen, auf die die christliche Religion stieß und die sie überraschenderweise verdrängte. An wen und was haben die Menschen geglaubt, die kurze Zeit später an Jesus Christus glaubten, haben wir uns gefragt. Nämlich an Jupiter und Juno, an Merkur und Vulkan, an Diana und Apollo, an Sol invictus und Mithras; und besonders in Wiesbaden an die Götter von Heil und Heilung, wie neben Diana Matthiaca und Apollo Toutiorix die romanisierte keltische Göttin Sirona, die an der Schützenhofquelle verehrt wurde, gegenüber von Aldi; noch heute wärmen sich die Obdachlosen unter ihrem Graffiti an der ihr geweihten heißen Quelle.

Zusammen mit diesen römischen und römisch verehrten Gottheiten fanden sich bisher keine Spuren des christlichen Glaubens bei uns aus derselben Zeit, bis kürzlich – bis kürzlich – in einem Gräberfeld in Frankfurt ein sensationeller Fund gemacht wurde, ein offensichtlich christlicher Text aus römischer Zeit in germanischer Erde.

„(Im Namen?) des Heiligen Titus.
Heilig, heilig, heilig!
Im Namen Jesus Christi, Gottes Sohn!
Der Herr der Welt
widersetzt sich nach [Kräften?]
allen Anfällen(?)/Rückschlägen(?).
Der Gott(?) gewährt dem Wohlbefinden
Eintritt.
Dieses Rettungsmittel(?) schütze
den Menschen, der sich
hingibt dem Willen
des Herrn Jesus Christus, Gottes Sohn,
da sich ja vor Jesus Christus
alle Knie beugen: die Himmlischen,
die Irdischen und
die Unterirdischen, und jede Zunge
bekenne sich (zu Jesus Christus).“

Das „Rettungsmittel“, von dem der kurze Text spricht, ist eine kleine Kapsel, kleiner als der kleine Finger, kürzer und dünner; eine Kapsel, in der eine entsprechend kleine Folie aus Silberblech gerollt war mit dem gerade verlesenen Text eines Gebets oder einer Beschwörungsformel. Nachdem sie vor ein paar Jahren im heutigen Frankfurt-Praunheim, dem römischen Nida, dem deutschen Pompeji, gefunden und aufwändig bearbeitet wurde, liegt sie mittlerweile in einer Vitrine, eher grau als silbern in einer Vitrine, ganz und gar unscheinbar im Archäologischen Museum in Frankfurt, das sonst nicht mit Sensationen glänzt.

Dieses Silberröllchen aber ist eine Sensation – manchen gelehrten Einwürfen zum Trotz – , in dem es das früheste Zeugnis des christlichen Glaubens abgibt nördlich der Alpen. Durch seinen Fundort in einem Grab lässt es sich ziemlich genau auf die Jahre 230-260 nach Christus datieren. Es markiert eine Zwischenstation zweihundert Jahre nach dem Wirken des Apostel Paulus, von dem wir heute hören, bis zum endgültigen Sieg des Christentums im römischen Reich, der Konstantinischen Wende, abermals 100 Jahre später.

Mit diesem Silberröllchen sehen wir, wie das christliche Abendland im Gebiet des heutigen Deutschland begann. So wie wir im Predigttext hören, wie Paulus den christlichen Glauben nach Europa trug. Dass sich hier Unterschiede zeigen, ist zu erwarten, ist selbstverständlich. Die Inschrift eines Amuletts als Grabbeigabe benennt notwendigerweise anderes als der Reisebericht über einen Apostel oder dieser selbst in seinen Briefen. Interessanter, überraschender, ja sensationeller sind für mich die Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte. Wenn sich nämlich im Grab einer Soldatensiedlung an der äußersten Grenze des Römischen Reiches, dem Limes, zweihundert Jahre nach dem Wirken des Apostel Paulus Anspielungen von erstaunlicher Eindeutigkeit finden:

  • Ein Titus, also jemand mit demselben Namen wie einer der Reisegefährten des Paulus und überdies Adressat eines Paulusbriefes, wobei an dieser Stelle unerheblich ist, ob jener Brief tatsächlich von Paulus selbst an Titus geschrieben wurde. Dieser Text scheint ihn jedenfalls zu kennen.
  • Das berühmte „Heilig, Heilig, Heilig“, das zuerst in der jüdischen Liturgie und dann eben auch im christlichen Gottesdienst gesungen wurde, wobei die Grenzen zwischen Juden und Christen zu dieser Zeit noch weniger definiert waren als später. Paulus selbst geht ja zuerst bei seinen Reisen zu den jüdischen Gemeinden und findet wie in unserer Predigttextstelle unter ihnen und ihren Sympathisanten, den „Gottesfürchtigen“, an einem Sabbat die ersten Hörer seiner Worte.
  • Gleich dreimal nennt das Amulett Jesus Christus, kürzt den Heilandsnamen auf die damals übliche Art mit griechischen Buchstaben ab: Chi Rho; ergänzt durch den Hoheitstitel Sohn Gottes. Eindeutiger christlich geht’s jetzt wirklich nicht; und auch Paulus verwendet den Titel Gottessohn völlig selbstverständlich.
  • Und schließlich findet sich sogar ein direktes Zitat aus einem der Briefe des Paulus auf der Silberschrift: Dass sich vor Jesus Christus beugen sollen alle Knie, die Himmlischen, die Irdischen und die Unterirdischen und jede Zunge sich bekennen möge – das steht genauso im Brief des Paulus an die Philipper im berühmten Christushymnus, den Paulus hier seinerseits zitiert. Zufall kann das nicht sein. Fügung muss es nicht sein. Aber was ist es dann?

Offensichtlich wissen wir von dem weiten Weg des christlichen Glaubens in den ersten Jahrhunderten nur Anfang und Ziel, also vom Anfang bei den Jüngern Jesu und vom Ziel, der Anerkennung des Christentums durch Kaiser und Reich. Dazwischen liegen verschlungene Wege, Umwege bestimmt auch, weite Wege bis an die Grenzen des Reiches, bis an die „Enden der Erde“, wie es in der Apostelgeschichte gelegentlich heißt. Bis an den Limes gleich hinter Hoher Wurzel und Platte ist das Wort des Glaubens jedenfalls gekommen.

Trotz aller Bemühungen, den Gang des Wortes zu steuern und den Glauben zu definieren, wie etwa auf dem berühmten Konzil von Nizäa im Jahr 325, also vor genau 1700 Jahren, erstreckt sich eine Vielfalt christlicher Wege und Glaubensweisen, damals wie heute. Der Schreiber und Träger des Amuletts aus Praunheim drückt seinen Glauben anders aus als ein Schüler heute oder als ein Lehrer heute oder als ein Professor heute; aber diese wiederum anders als die versammelten Bischöfe in Nizäa oder etwa ein irischer Mönch, der nach hunderten von Jahren, in denen hier in dieser Gegend der Glaube in Vergessenheit geriet, ihn neu entfachen konnte; aber diese wiederum anders als der mächtige Erzbischof von Mainz oder sein Gegenspieler, der Reformator Martin Luther von jenseits der Elbe, der auch mal über den Rhein und durch Frankfurt kam; aber beide anders als die immer noch vielen Glaubenden heutzutage, wenn der christliche Glauben nicht mehr Mehrheitsreligion ist in unserer Gegend und das Konstantinische Zeitalter bei uns zu einem Ende gekommen zu sein scheint – während an vielen anderen Orten der Welt der christliche Glauben immer noch wächst.

Alle so unterschiedlich Glaubenden aber, die Genannten und viel mehr Ungenannte, beziehen sich auf je eigene, höchstpersönliche Weise auf das Wort Gottes, auf Jesus Christus, Gottes Sohn, als ihren Maßstab und Referenzpunkt, ihre Sonne und Licht, ihren Weg, ihre Wahrheit und ihr Leben. Sie sind angetrieben – wir sind das – von dieser Gewissheit, die schon Paulus aus Asien nach Europa brachte, von der wir heute hören: gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. Und wir sind darauf angewiesen, über dieses Wort ins Gespräch zu kommen, uns gegenseitig in Vielfalt und Einheit des Glaubens wahrzunehmen: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da.

Damit ist übrigens auch eine vorläufige Antwort auf die Frage angedeutet, wie und warum sich der christliche Glauben gegen die religiöse Konkurrenz durchsetzen konnte: Kommt in mein Haus und bleibt da. Sozialer Zusammenhalt, gegenseitige Hilfe, persönliche Bindungen, Nächstenliebe – das waren nach Meinung der Gelehrten die entscheidenden Unterschiede zu anderen Kulten in der römischen Antike, die das Christentum erfolgreich machten. Amen.