Fünfter Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, Konfirmationsjubiläum

Da viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen. 

Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht? Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen.

Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.

Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

(2. Brief des Paulus an die Korinther 11, 18 – 12.10*)

Ehre, wem Ehre gebührt! Jahrestage und Jubiläen, runde Geburtstage und Wendepunkte im Leben laden ein, Rechenschaft zu geben, Bilanz zu ziehen, Versäumnisse nicht zu verschweigen, Leistungen zu loben, Herausragendes zu rühmen: Gerühmt muss werden, sagt der Apostel Paulus. Ehre, wem Ehre gebührt!

Allerdings ist die Ruhmrede, insbesondere wenn sie in eigener Sache geschieht, ein schmaler Grat, von dem man leicht abstürzen kann, oder ein dünnes Brett, das unter der Last unseres Ruhms zu brechen droht. Stimmt´s überhaupt – was wir über uns sagen oder hören? Und sind wir wirklich so toll wie behauptet? Und wie verhält sich mein Ruhm zu dem der anderen? So lässt sich vermutlich jede solcher Reden befragen – und so befragt sich unser Apostel gleich selbst.

Paulus scheint sich dabei selbst auf die Schippe zu nehmen – und legt gleich noch ein zwei Schippen drauf; zweifelt seine eigenen Erinnerungen an, steigert sich in die Prahlerei über seine Missgeschicke und Leiden hinein, wird ganz närrisch darüber – und vergisst nicht, dass an sich schon der Selbstruhm die reinste Narrenrede ist: für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen.

Er erinnert sich – versucht sich zu erinnern, an ein Erlebnis, das vierzehn Jahre zurück liegt; nicht so weit entfernt, dass es ganz vergessen wäre, aber auch nicht so nah, dass man es ganz genau wissen müsste. Von heute 14 Jahre zurück, dass wäre für uns das Jahr 2010: Wie genau erinnern wir uns an die Ereignisse dieses Jahres – eine schrecklich ferne Zeit mit anderem Fußball, anderer Regierung, anderen Problemen; vor Corona, vor dem Krieg in der Ukraine, ja sogar vor dem russischen Überfall auf die Krim, vor dem 7. Oktober, dem Aufflammen von Judenhass weltweit auch bei uns, vor dem Krieg in Gaza; so weit weg und so nah dran?

Wie genau erinnern wir uns an das, was uns damals, lange zuvor berührt, wohlmöglich erschüttert hat – entrückt bis in den dritten Himmel, entrückt in das Paradies : und wir dort Gott begegnet sind, denn das meint Paulus doch – und was uns damit neue Einsichten gebracht, neue Erkenntnisse verschafft hätte, uns eine neue Richtung gegeben hätte, unser Leben verändert hätte? Gab´s das damals – oder wann haben wir das letzte Mal in den Himmel geschaut und das Paradies gesehen? Wann standen wir vor Gott? Bei der Geburt unseres jüngsten Töchterchens? Beim allmählichen Weggang der Mutter aus diesem Leben? Und was davon – von unseren Erinnerungen – könnten, können wir mit Recht Realität nennen, was aber Interpretation, was Deutung – und was dagegen schlicht Irrtum und was sogar Selbstbetrug?

Als Jubilare blicken Sie heute noch weiter zurück: 25, 50, 60 und noch mehr Jahre; in die Jahre 1964, 1974, 1999, – wenn ich richtig rechne – in eine andere, noch fernere Zeit: Ein anderer Fußball jedenfalls, wenn wir etwa 74 nehmen, damals die WM in Deutschland, die für viele das Initiationserlebnis war, diesen Sport zu lieben, ihn aber auch zu fürchten und zu scheuen, wie dann in den langen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Anders als unser verklärter Blick es zeichnet, brauchte man auch damals schon Glück zum gewinnen, und das waren nicht immer die Besseren, die mehr Glück hatten; auch nicht, wenn es gegen Dänemark ging so wie gestern.

Auch die politische Mannschaft war eine andere, die Weltlage ebenfalls – vor der Wende 1989-90 ganz bestimmt, und wir doch auch. Ich frage mich manchmal, was und wieviel des damals – sagen wir – Vierzehnjährigen, also des Konfirmanden, ich heute noch bin. Gibt es irgendetwas in meinem Körper, ein Organ, eine Zelle, die oder das damals schon bestand; das meiste dürfte sich ja in den vergangenen Jahrzehnten erneuert haben – und vieles eben auch nicht, wovon uns unser Arzt mit sorgenvoller Miene bei den häufiger werdenden Besuchen berichtet. Wenn ich vor 14, 25 oder 50 Jahren körperlich in den Himmel entrückt worden wäre – was ich meines Wissens nicht bin – wäre es jedenfalls nicht in diesem Körper gewesen – ehrlich gesagt würde der das gar nicht mehr hinbekommen, wenn doch schon Flugreisen beschwerliche Strapazen geworden sind.

Und außerhalb dieses Leibes – im Geist, im Bewusstsein, in Gedanken vielleicht? Wenn das geschehen wäre – Himmelsreise und Gottesschau – und wem das geschehen wäre – es wäre einem anderen geschehen, der heute vor ihnen steht, auch ein anderer, der heute Morgen vor ihnen im Spiegel stand. Denn der pubertierende Vierzehnjährige, der noch lange nicht erwachsene Jugendliche, der Konfirmand, der wir damals waren, sind wir nicht mehr. Erlebnisse und Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen, Begegnungen und Beziehungen, Zerwürfnisse und Versäumnisse, Freud und Leid über Jahre und Jahrzehnte haben sich ins Bewusstsein gelegt, nein: haben dieses Bewusstsein erst geformt.

Wir sind unsere Geschichte – und in dem Maße, in dem unsere Geschichte sich verändert, wandeln wir uns.

Paulus hält neben dem einen schwierig zu fassenden, in der Erinnerung verblassenden, kaum zu verstehenden, und noch weniger kommunizierbaren Erweckungs-, Bekehrungs- und Berufungsmoment – denn als nichts anderes haben wir seine Himmelsreise und Gottesschau zu verstehen – er hält daneben die unzähligen Kränkungen, Verletzungen, Beschädigungen und Einschränkungen seines Lebens für das, was es prägt und seine Person ausmacht. Und zwar nicht die Kette von kleinen und nicht so kleinen Katastrophen an sich – sondern wie er sie überstehen und in seiner Sicht mit Gottes Hilfe überstehen konnte. So definiert sich sein Leben, er definiert sein Leben als von Gott gegeben – und immer wieder von Gott gegeben, von Gott beschützt, befreit, gerettet, getröstet, erlöst. Nicht Krise und Niederlage selbst machen sein Leben aus, sondern wie Gott ihn daraus errettet hat, der zu ihm sagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.

Ist da was dran? Können wir damit etwas anfangen? Die Konfirmation selbst ist ja bei den wenigsten von uns der tatsächliche Moment unserer Gottesbegegnung, wäre ja auch unwahrscheinlich, beinahe komisch, dass ausgerechnet an diesem Tag in der Thomaskirche Gottes Geist in eine Gruppe von Jugendlichen fährt, um sie in den Himmel zu führen, um ihr Leben zu verändern.

Gemeint ist natürlich, dass wir an diesem Datum gemeinsam unseren höchst persönlichen Moment der Gottesbegegnung feiern; die mag schon zurückgelegen haben, die mag noch vor uns gelegen haben, die mag noch vor uns liegen: diese Reise in den Himmel, dieses Ansehen des Paradieses, dieses Verstehen, wie Gott diese Welt gemeint hat und wie er es mit uns meint, nämlich gut; was sage ich: sehr gut!

Und dass wir von diesem Moment aus nicht nur unser Leben verstehen, wie Gott es für uns meint, sondern dass wir von diesem Moment aus unser Leben bestehen können, in allen Widrigkeiten und Zumutungen. Dass wir es nicht aus eigener Kraft sondern durch die Kraft Gottes bestehen, die unserer Schwäche aufhilft. Dass wir unser Leben aus Gottes Gnade haben und leben. Dass wir mit Paulus sprechen können:

Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Pfingsten, 19. Mai 2024

Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel.

Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.
(Buch des Propheten Hesekiel 37, 1-14)

Atem des Lebens: Der Prophet Hesekiel beschwört den Atem des Lebens, den Geist des Friedens in seiner grandiosen, aber auch verstörenden Vision.

Bevor überhaupt der Atem des Lebens über die Gräberfelder gehen kann, wehte doch der Hauch des Todes über ihnen, hatte im Fall der verwüsteten Schlachtfelder der Sturm der Vernichtung über ihnen getobt. In Verdun oder in Flandern und sicherlich an vielen anderen Orten, an denen Krieg war, lässt sich das nachvollziehen, was Hesekiel als Traum beschreibt: Gottes Geist stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt.

Als vielleicht 12jähriger Junge habe ich das erste Mal – wie in einem Alptraum – auf einem solchen Feld gestanden, in Verdun, wo mein Onkel, eigentlich Großonkel Karl gekämpft hatte und nun glücklicherweise nicht lag, sondern – darf ich das glauben? – durch Gottes Geist nach Hause geführt worden war; in Verdun, wo aber unzählige Menschen den Tod gefunden haben und deren Gebeine nun auf den Feldern liegen, oder – für das Kind und nicht nur für Kinder nicht weniger verstörend – in Beinhäusern gesammelt, aufgeschichtet liegen, als Erinnerung, als Warnung, als Mahnung.

Vor 110 Jahren brach die Furie des Krieges in Europa hinein, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die aus Feldern erst Schlachtfelder und dann Grabfelder gemacht hat – nur um gut zwanzig Jahre später noch einmal, noch furchtbarer entfesselt zu werden. Als sich dann abermals nach dem großen Schrecken Stille über den Feldern ausbreitete – Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt – sollte, so formulierten es die Christen in einer Schrecksekunde nach dem Krieg: Nach Gottes Willen nie wieder Krieg sein! Sollten keine neuen Schlachtfelder gepflügt und Grabfelder bereitet werden. Sollten Orte des Alptraums zumindest nicht mehr dazukommen. Sollte nicht mehr der Hauch des Todes, sondern der Atem des Lebens wehen.

Versöhnungen haben stattgefunden, Freundschaften wurden gestiftet. Vielfach stehen die Nachfahren der Feinde gemeinsam auf den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern.

Auch wenn es zu keiner Zeit gar keinen Krieg in der Welt gab, schienen aber die Nachkriegsgeborenen sich doch weitgehend einig darüber, dass es so sein soll, so sein sollte: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Meiner Generation war das ein Bekenntnis des Glaubens; dass sich der Alptraum des Krieges in den Traum vom ewigen Frieden wandelt.

So wie in dieser Vision des Hesekiel das Grabfeld der Totengebeine vom Atem des Lebens angeweht zum Ort der Wiedergeburt wird; in einem Traum vom neuen Leben, der so grotesk, so absurd, so surreal ist wie jeder Traum vom Frieden im Krieg: Dass Gebeine zusammenrücken, Gebein zu Gebein. Dass Sehnen und Fleisch darauf wuchsen und sie mit Haut überzogen wurden; dass der Odem in sie kam, und sie wieder lebendig wurden und sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer stellten? Der Traum erfüllt – im Traum! – den Wunsch nach neuem Leben und Frieden. Wenn Frieden kommt, dann ist das vom Krieg her gesehen so unwahrscheinlich und weithergeholt wie der Tanz der Gebeine auf ihren Gräbern, aber nicht weniger als gottgewollt.

Außerhalb unserer Träume – allerdings – folgt die Wirklichkeit unseren Wünschen nicht. Bloß den Frieden zu wünschen, schafft keinen Frieden, sondern macht uns zu Gefangenen unserer Träume. Andererseits den Krieg bloß mit Krieg zu bekämpfen, wird den Frieden auch nicht erreichen. Ohne Vorstellung von einem gerechten Frieden, der zu erkämpfen wäre, gibt es keinen gerechten Krieg; noch der gerechteste Krieg – nämlich der zur Verteidigung nach einem Überfall – droht sich zu verkehren. So wie wir es gerade erleben.

Die Propheten der Bibel haben die Vorstellungen eines gerechten Friedens der Kraft des Geistes Gottes zugeschrieben. Sie haben dabei Konzepte der Geistwirkung entwickelt wie Trost und Hoffnung inmitten maximaler Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit – wie Hesekiel hier in seiner Gräberfeldvision: Gottes Geist des Lebens schafft ungeahnte Lebensmöglichkeiten noch in der scheinbar überwältigenden Wirklichkeit des Todes; das Gräberfeld, das Trümmerfeld ersteht zu neuem Leben.

Die Propheten haben weitere für künftige Friedensordnungen nützliche Wirkungen des Geistes beschrieben, wie Recht und Gerechtigkeit, wie Versöhnung und Vergebung, wie Großzügigkeit und Freizügigkeit. Insbesondere die Fähigkeit zur Empathie – also im Anderen, im Nächsten mich selbst zu erkennen – wird Gottes Geist zugeschrieben. Jede dieser Wirkungen kann uns selbstverständlich, ja trivial erscheinen; angewendet auf Gegner und Feind klingen sie beinahe wie ein Skandal. Aber Frieden ohne Gerechtigkeit für den ehemaligen Feind, wird es nicht geben. Und nur wenn ich ihn irgendwann für einen Menschen wie mich halte, wird er Frieden halten.

Wenn es auch richtig ist, sich nicht zum Gefangenen seiner Träume zu machen, bestehen die Propheten darauf, sich gleichfalls nicht zum Gefangenen einer vorfindlichen Wirklichkeit zu machen, sondern diese für veränderlich zu halten. So wie es jetzt ist, muss es nicht bleiben. Und die Bedingungen der Möglichkeit solcher Veränderungen bezeichnet die Bibel als Geist, Gottes Geist in uns, Atem des Lebens.

Predigt zur Konfirmation, 12. Mai 2024

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe; er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten. In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit. Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um die Fülle der Zeiten heraufzuführen, auf dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn. In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden, die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt, nach dem Ratschluss seines Willens, damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben, die wir zuvor auf Christus gehofft haben. In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt, nämlich das Evangelium von eurer Rettung in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist, welcher ist das Unterpfand unsres Erbes, zu unsrer Erlösung, dass wir sein Eigentum würden zum Lob seiner Herrlichkeit. (Brief des Paulus an die Epheser 1,3-14) 

Ein bisschen aufgeregt scheint der Autor unserer Zeilen zu sein. Geradezu hastig packt er alles, was er sagen möchte, zusammen, anscheinend um nichts zu vergessen: So viele der großen Wörter unseres Glaubens dicht gepackt. Alles was Gott am Ende durch Christus zusammenfassen wird, scheint – in Worten – jetzt schon der eifrige Autor unserer Zeilen, wohl ein übereifriger Schüler des Apostels Paulus, zusammen fassen zu wollen: Siegel, Segen und Lob; Himmel und Erde; Liebe und Wohlgefallen; Gnade und Erlösung; Erwählung und Vergebung der Sünden; Weisheit, Klugheit, Wahrheit; Erbe und Hoffnung. Voller Koffer, schweres Gepäck.

Aufgeregt wie ich bin an diesem aufregenden Tag, geht es mir ähnlich, möchte ich auch alles, alles sagen, was heute zu sagen ist, nichts vergessen – und am besten auch noch alles dazu packen, was im vergangenen Jahr zu kurz gekommen sein könnte; möchte selbst gerne als eifriger Apostelschüler gefunden werden, der nichts vergisst und nichts verpasst.

Allein, das kann ich nicht für mich, nicht für uns in Anspruch nehmen: jetzt nichts zu vergessen und übers Jahr nichts verpasst zu haben. Konfirmandenunterricht und Konfirmation müssen da eher Fahrstunden und Fahrprüfung gleichen in dem Sinne, dass sie – wie mein geduldiger Fahrlehrer damals nicht müde wurde zu betonen – nur gerade so die Fahrtüchtigkeit bescheinigen und mehr zum Weiterlernen befähigen und ermutigen sollen. Sie stellen eigentlich keinen Abschluss dar, sondern erteilen die Lizenz, nun selbständig weiter zu lernen – und hier bei uns dann doch: selbständig weiter zu glauben.

Konfirmation bezeichnet also – um es beinahe mit den Worten eines berühmten Jubilars zu sagen – nur den Anfang vom Ausgang des Menschen aus seiner unverschuldeten religiösen Unmündigkeit. Es geht darum, die Aufforderung – Habe Mut dich deines Glaubens zu bedienen: Credere aude! – diese Aufforderung weiter zu verfolgen, ihr im Leben und durch das Leben zu folgen; auf sie zu hören, auch wenn sie kaum zu vernehmen ist und wir sie kaum vernehmen wollen – in dem ganzen Getöse und Gebrabbel um uns herum und in uns drin.

Glaube bezieht sich auf das, was sich nicht selbst versteht und was sich unserem Verstand entzieht, auf das Geheimnis also, von dem in unserem aufgeregt aufregenden Text die Rede ist. Was einigermaßen interessant ist, versteht sich nicht von selbst, sondern kostet Mühe, es verstehen zu wollen. Damit wäre also auch der einjährige Konfirmandenunterricht gerechtfertigt. Aber das wirklich Interessante – also was die Welt im Innersten zusammenhält – kostet richtig große Mühe, lange Mühe, manchmal auch vergebliche Mühe. Es sind ja so viele von uns, die wir nicht fertig werden mit dem Interessanten und uns deshalb mit dem Uninteressanten zufrieden geben; das Falsche glauben, das falsche Leben. Glaube als die Suche nach dem Weltgeheimnis kostet Mühe und Mut. Die Mühe und den Mut, sich nicht mit dem Zweitbesten in unserem Leben abzugeben, dürfte sich lohnen. Wenn der ewige Vizemeister endlich gewinnt, das ist doch was, oder?

Wir haben uns bemüht im vergangenen Jahr damit anzufangen. Haben dabei gemerkt, dass das auch in einer kleinen aber feinen Gruppe gehen kann – oder eben wie in großen Gruppen bisweilen scheitert. Wo zwei oder drei – oder eben vier – beisammen sind, da bin ich mitten unter euch, sagt Jesus. Auch mit vier Windrichtungen lässt sich der ganze Erdkreis und mit vier Jahreszeiten ein ganzes Jahr beschreiben; wie es vier Evangelisten gelingt, ein lebendiges Bild des Christus zu zeichnen. Und es soll Augenblicke geben – durchaus auch mal donnerstags am späten Nachmittag, da sind vier nicht zu wenig, sondern beinahe zu viel. „Vier fahr´n. Da sind also vier Menschen unterwegs. Und wer sind diese vier? Sind es die vier Jahreszeiten? Die vier Musketiere? Oder sind es vier alle“ In dieser bis heute gültigen Parodie auf Reden, wie wir sie gerade hören, Ottos berühmten „Wort zum Montag“, stolpert der Meister des Albernen, der Virtuose des zappeligen Klamauks und Tröster unserer Seelen über die Vierzahl als Vielzahl, über die Vierzahl als Ausdruck von Vollständigkeit und Vollkommenheit. Vier sind viele – auch wenn es anders aussieht. Noch so ein Geheimnis, dass sich nicht jedem sofort erschließt.

Wenn aber Gott das Geheimnis der Welt bezeichnet, ist mit einem moralischen Universum zu rechnen, in dem jeder Mensch und jede Tat zählt – übrigens auch, wenn mich keiner sieht, wenn ich nicht erwischt werde oder wenn es sowieso alle machen. Weil es nicht egal ist, wer wir sind und was wir tun, sind wir aufgefordert heilig und untadelig zu leben und zu unseren Taten und Untaten zu stehen: Ja, das war ich! zu sagen – anstatt: Das war ich nicht. Weil das nicht nur nicht jedem sondern keinem immer gelingt, bleiben wir angewiesen auf die Vergebung unserer Sünden – und aufgefordert bei anderen ebenso zu verfahren; so zu handeln, dass die Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte – weil es das universale Gesetz ist: „Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen ebenso.“ (Jesus in der Bergpredigt, Matthäus 7,12)

Darauf heute Siegel und Segen. Amen.

Kindermusical: Die Hochzeit zu Kana

Die Kinderchöre von St. Kilian und der Thomasgemeinde laden herzlich ein zum Kindermusical in der Thomaskirche

Die Hochzeit zu Kana

am Sonntag, 05. Mai 2024 um 16:00 Uhr unter der Leitung von Anja Komarnicki und Gabriela Blaudow.

Der Eintritt ist frei – Spenden sind erwünscht.

Weitere Vorstellungen wird es am Samstag, 25. Mai und am Sonntag, 26. Mai im Ferrutiushaus Kostheim geben.

Palmsonntag, 24. März 2024

Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
(Brief des Paulus an die Philipper 2, 5-11)

Zitate sind Glückssache: So schmückt die Kuppel des wieder aufgebauten Berliner Stadtschlosses ein Spruchband mit folgendem, die Bibel zitierenden Text: „Es ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zu Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Wie wir gerade gehört haben stammt der zweite Teil des Spruchs aus unserem Predigttext, diesem kleinen Stückchen aus dem Philipperbrief über den Weg des Gottessohnes in das Leiden und Mitleiden mit uns Menschen hinab. Dieses Pauluszitat über Machtverzicht und Selbsterniedrigung wird in den immer mal wieder aufflammenden Debatten über Rechtmäßigkeit und Symbolwert dieses Schlosses der Preußenkönige diskutiert.

Erst in der vergangenen Woche überschlugen sich wieder die Schlagzeilen darüber, als nämlich – Sie haben es in der Zeitung gelesen – acht Prophetenfiguren: Jesaja, Hosea, Zephania, Zacharias, Jonas, Daniel, Jeremias, Hesekiel auf das selbige Dach gehievt wurden, um dieses wie das erwähnte Spruchband zu schmücken. Während sich die einen über den wiederaufgebauten Touristenmagnet und insgesamt doch ziemlich ansehnlichen Hingucker in ihrer sonst nicht gerade durch Schönheit auffallenden Stadt freuen, kritisieren andere hart den Zierrat auf dem Dach des Schlosses und poltern: „Man muss inzwischen von einer bewussten fundamental-christlichen Unterwanderung des Stadtschlosses ausgehen, die sich bestens in die islamophoben Tendenzen der Zeit einfügt.“ (in einer Pressemitteilung der „Schlosskritiker“ Oswalt und Zimmerer, zitiert nach berliner-zeitung.de vom 19.3.2024) Für meinen Geschmack schießt diese unfreiwillig komische Kritik angesichts von acht Propheten des Alten Israel, die zuerst von Juden, erst viel später von Christen gehört und überdies weithin im Islam verehrt und teils sogar im Koran als Vorbild gelobt und empfohlen werden, deutlich über das Ziel hinaus: Zitate sind Glückssache, aber ihre Kritik eben manchmal auch.

Übrigens ist der auf dem Berliner Schlossdach zitierte Bibelvers nach Meinung der Gelehrten ebenfalls schon ein Zitat, als Schlussvers eines frommen Liedes der ersten Christen, das der Apostel Paulus hier zitiert – um die christliche Ethik des Verzichts, der Selbstbeschränkung, der Rücksichtnahme und des freiwilligen Ablegens von Privilegien am Geschick Jesu zu illustrieren.

Nach christlichem Glauben hätte es sich der Gottessohn gewiss gemütlicher machen können, eben zur Rechten Gottes sitzend, dort bleibend und alle Vorrechte seines göttlichen Geblüts genießend.

Das hat er nicht gemacht. Er hat nicht an seinem göttlichen Vorrecht wie an einem durch Raub erlangten Besitz festgehalten, Gottes Sohn zu sein und zu bleiben. Sondern er ist als erster Diener der Menschheit selbst Mensch geworden unter Verzicht auf seine göttlichen Vorrechte. Um es mit den Worten unseres Praktikanten Mattis Krauth zu sagen: „Obwohl Jesus alle Möglichkeiten hatte, die einem Gott zur Verfügung stehen, hat er darauf verzichtet, diese Möglichkeiten auch voll auszuschöpfen, d.h. er hat alle seine Rechte aufgegeben.“

Das ist ein unerhörter Gedanke, dass der Gottessohn, also Gott selbst auf seine Göttlichkeit verzichtet, mehr noch: auf sein Leben verzichtet und gleich wie wir Menschen stirbt; mehr noch: den schmählichsten, qualvollsten Tod, den sich die Folterer und Totschläger des alten Rom ausdenken konnten, auf sich nimmt: den Tod am Kreuz.

Mit dem Kreuz als Fluchtpunkt liest sich die Passionsgeschichte, insbesondere die Geschichte der heute beginnenden Karwoche als Geschichte der freiwilligen Entäußerung und der Selbsterniedrigung: Der Einzug des Gottessohnes als Bettlerkönig des gemeinen Volkes auf einem Esel; die Fußwaschung als Demutsgeste; schließlich die Duldung von Verleugnung, Verrat und Gewalt. Am Ende hängt Gott nackt, aller Rechte und Werte entkleidet, seiner Würde entblößt am Kreuz. Der, der ganz oben sein sollte, ganz unten; der Hohe ganz niedrig; der Allmächtige machtlos; der Gerechte rechtlos; der das Leben schuf, tot.

Und das soll nun uns – die wir es schon als Zumutung empfinden, einem anderen Vorfahrt zu gewähren, oder an der Tür Vortritt zu lassen – Beispiel und Vorbild sein? Verzichten auf unser gutes Recht? Verzichten auf das bisschen Macht, das wir haben? Abschied vom Grundrecht der Autonomie? Ohne Selbstbehauptung, ohne Selbstbestimmung leben? Statt sich nichts gefallen lassen – alles gefallen lassen? Wie soll das gehen in einer wie schon immer aggressiven Welt, in der der Frömmste nicht im Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Ausdrücklich geht es dem Paulus hier in seiner Empfehlung – oder ist es eine Forderung? – zunächst um die Gesinnung der Christenmenschen untereinander, um die Gemeinschaft in der Gemeinde, die Verfassung der Kirche – und ganz bestimmt auch um die Beratungen zwischen den Gemeinden, wie wir sie jetzt im schnellen Takt mit unseren Nachbarn führen, um in den nächsten Jahren eine neue Gestalt für unsere Kirche zu finden. Wenigstens das Miteinander der Christen soll – laut Paulus, laut Christus – nicht als Machtfrage behandelt oder als Rechtsbeziehung betrachtet werden. Sondern: Der Stärkere hat was davon, wenn er dem Schwächeren Platz macht.

Und wie ist es nun mit dem preußischen König und dem Spruchband auf seinem Schloss? Wie eigentlich meistens kompliziert – und jedenfalls komplizierter als es seine Ankläger und auch seine Verteidiger wollen. Einerseits kann das Bibelwort schwerlich als Ausdruck eines chauvinistischen Machtanspruchs gedeutet werden, wenn es doch ganz im Gegenteil den größten denkbaren Machtverzicht zum Ausdruck bringt. Andererseits lässt sich kaum von Hand weisen, dass die preußischen Könige, deren berühmtester sich selbst als erster Diener seines Staates bezeichnete und gleichzeitig reine Machtpolitik betreiben konnte, wenig dafür taten, dieses Wort mit Leben zu erfüllen. Was vielleicht auch zu viel verlangt wäre, wenn noch der beste König zur Verwirklichung des Rechts auch die Macht dazu haben muss.

Deshalb gibt es die Propheten, die ja jetzt wieder steinern neben unserem Bibelvers auf dem Schlossdach stehen und deren vornehmste Aufgabe das Wächteramt gegenüber den Königen war und ist. Die königskritischen Texte eines Jesaja, Jeremia oder Hosea gehören jedenfalls zum Radikalsten, das sich die Mächtigen aller Zeiten anhören mussten. Sie haben gewusst und laut verkündet, dass Macht nicht als Raub betrachtet und Recht nicht als Vorrecht missbraucht werden soll. Amen.

Laetare, 10. März 2024

Sie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin’s nicht. Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. (Lukas 22, 54-62)

Keine Freudentränen, trotz des heutigen Freudensonntags, auch wohl keine des Schmerzes oder der Wut, sondern Tränen der Scham, dürfen wir annehmen, die dem Petrus bitter die Wangen hinunterlaufen.

„Den kenne ich nicht“, „das habe ich nicht gewusst“, „das haben wir nicht gewusst“ – mit dieser Urformel der Verantwortungsverweigerer verweigert heute Petrus, der Möchtegernmusterschüler unter den Aposteln seine Verantwortung für das Geschick seines Freundes und Meisters, seines Herrn und Heilandes.

Frau, ich kenne ihn nicht – Mensch, ich bin’s nicht – Mensch, ich weiß nicht, was du sagst: Dreimal aus Schwäche kraftvoll verleugnet – und schon ist diese grauenvolle Nacht vorbei, der Morgen graut und der Hahn kräht. Wenn es nicht so schrecklich wäre, könnte man darüber lachen, über das Versagen des Petrus mit Ansagen – lachen wie die Hühner, oder krähen wie der Hahn. Aber das Lachen bleibt im Halse stecken über die Gemeinheit des Apostels, die Feigheit eines Freundes, die Niedrigkeit eines Stellvertreters gegenüber seinem Original, das er doch vertreten soll.

Wenn Stellvertreter, dann doch wohl von uns in seinen hochfliegenden Ambitionen und seinem krachenden Scheitern, die wir so gut kennen, seinem vorlauten Bekenntnis an anderer Stelle und seiner zum Schweigen zwingenden Scham, seinem schwächlichen Willen zur Wahrheit und seinem Hang zur Lüge. Unser Stellvertreter darin; denn natürlich kennen wir das von uns selbst und aus unserer Umgebung, dass wir nicht die Kraft zur Wahrheit finden und in unserer Not den Ausweg in einer Lüge suchen. Notlügen seien erlaubt, biegen wir uns das dann zurecht. Und die Lüge des Petrus, die dem Verleugneten doch keinen weiteren Schaden zufüge und nur auf den Leugner den Schaden seiner tränenreichen Scham schütte, wäre doch genau das: eine Lüge aus Not, die sie entschuldigt. Oder etwa nicht?

Der philosophische Jubilar dieses Jahres, Immanuel Kant, ist einer der wenigen Denker, die eine absolute – durch keine Not eingeschränkte oder durch Not einzuschränkende – Pflicht zur Wahrheit vertreten. Wahrhaftig zu sprechen, fordert der eine Gesprächspartner des Petrus, und eben auch der Philosoph, und zwar nicht aus protestantischer Beschränktheit, der schlicht die Phantasie zur Lüge fehlte, sondern aus der vernünftigen Einsicht, dass schon die eine Lüge die Fähigkeit zur Wahrheit insgesamt und damit unser menschliches Zusammenleben bedroht. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“ – spricht der Volksmund, der seinen Kant vermutlich nicht gelesen, aber umso besser verstanden hat. Die eine Lüge stellt Wahrheit insgesamt infrage und bedroht damit die Verlässlichkeit unserer Beziehungen. Wenn ich anfangen muss zu fragen, ob ein ansonsten glaubwürdiger Partner diesmal aus Not oder Laune heraus lügen könnte, ist bereits alles verloren.

Dasselbe gilt übrigens für die sich ausweitende Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge, in der überhaupt das Interesse an Wahrheit verschwimmt und allmählich verschwindet – in Ausflüchten und Ausschmückungen, durch Worthülsen, mit sprachlichen Nebelkerzen und Wunderkerzen aller Art, „fake news“ und „alternative facts“ – und die lange vor Donald Trump „bullshit“ genannt wurde – Sie verzeihen die grobe Sprache. Während die Lüge ja zumindest einen negativen Bezug zur Wahrheit hat, ist dem „bullshit“ Lüge wie Wahrheit gleichermaßen – wir bleiben bei der groben Sprache – „scheißegal“; und wir müssen befürchten, dass sich auch im Raum der Kirche diese unerfreuliche Sprachform ausbreitet. (vgl. den amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt, On Bullshit 2005)

Immerhin das – also die sprachliche Ungenauigkeit in Sachen Lüge und Wahrheit – können wir dem Petrus nicht vorwerfen, der ja gleich dreimal glasklar lügt. Damit entschuldigen wir ihn natürlich keineswegs – im Gegenteil! – , zumal seine feigen Lügen deutlich zeigen, dass Wahrhaftigkeit keine philosophische Frage ist, sondern eine ethische Forderung darstellt. Der Verleugnete kommt oder bleibt durch unser Leugnen in Gefahr. Wer weiß: Vielleicht wäre ja der gefangene Jesus durch ein kräftiges Zeugnis seiner Anhänger und Sympathisanten zu retten gewesen. Und selbst wenn wir das aus historischen Gründen oder aus theologischen Vorstellungen verneinen, vielleicht könnte bei anderer Gelegenheit solches Zeugnis aus Wahrhaftigkeit und Courage Menschen retten.

Es muss uns beschämen – und heute zu Beginn der Woche der Brüderlichkeit – umso mehr beschämen, dass immer noch und gerade wieder ausgerechnet jüdische Menschen in unserer Nähe bedroht und gefährdet sind, ohne dass sie in uns Christen verlässliche, entschiedene und deutlich hörbare Fürsprecher haben. Es darf einfach nicht sein, dass 79 Jahre nach dem Krieg, der vor allem auch ein Krieg gegen die Juden war, immer noch und wieder jüdische Menschen unter uns um Leib und Leben fürchten müssen.

„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ schreibt Dietrich Bonhoeffer in seiner Zeit und verschärft so das Wahrhaftigkeitsgebot um einiges. Keine Not erlaubt die Lüge und sei es die Lüge des Schweigens, wenn Reden und Bekennen verlangt ist. Nur wenn wir uns für die Nöte der Bedrohten und Gefährdeten einsetzen – und wenn wir gerade dabei sind – für die Nöte aller(!) Bedrohten und Gefährdeten nach unseren Möglichkeiten einsetzen, haben wir das Recht, unser Seelenheil zu pflegen und Gottes Ordnung in unseren schönen Liedern zu preisen.

Wenn wir also noch letzte Woche zur Nachfolge Jesu aufgefordert wurden, sollen wir heute – und das ist kein Widerspruch! – dem Petrus die Nachfolge verweigern. Und zwar so, dass wir uns in Petrus selbst erkennen, den feigen Leugner in uns selbst. Aber so, dass wir uns damit nicht zufrieden geben, – nach dem Motto: Wenn Petrus das nicht hinbekommen hat, wie soll ich das von mir erwarten – , sondern uns geradezu selbst die Nachfolge des Leugnens und Schweigens verweigern und uns zu Jesus in unserem Nächsten bekennen. Ob uns das dann auf die Straßen treibt oder etwa den Mund öffnet bei blöden Sprüchen am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis, muss jeder für sich entscheiden.

Vielleicht hilft uns dazu ja das stolze Wort dieses anderen Erzapostels Paulus:„Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Hab 2,4): ´Der Gerechte wird aus Glauben leben.´“

Sonntag Invokavit, 18. Februar 2024

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5. Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm. (Matthäus 4,1-11)

Einiges spricht dafür, dass die Versuchungen in der Stadt verlockender und die Dämonen dort aktiver, auch attraktiver sind als auf dem Land.

Dennoch führt der Geist Jesus nicht in die Spelunken der levantinischen Hafenstädte – weit waren die nicht und werden noch heute besungen in den unsterblichen Versen des Viktor von Scheffel: „Im schwarzen Walfisch zu Askalon“; dorthin führt der Geist Jesus also nicht, genauso wenig ins teuflische Babylon selbst. Sondern: In der Wüste soll der Gottessohn seinen Gegengott treffen, ganz so wie man an besseren Tagen auch Gott selbst in der Wüste trifft – und Mose, mit dessen Worten Jesus heute dem Teufel widersteht, ja auch Gott dort gelegentlich getroffen hat. Gerade der Mangel an Ablenkung in der Wüste scheint die Konzentration auf die Begegnung mit höheren Wesen aller Art, heute also dem Teufel, zu befördern.

Kein Entschluss oder eigener Wille führt Jesus in die Wüste – hier ganz am Anfang seines Wirkens, die Haare sind noch feucht von der Taufe – sondern der Geist; genauer heißt es dort: „unter dem Geist“ wird Jesus geführt. Eine höhere Macht hat sich seiner bemächtigt und so richtig scheint Jesus nicht zu wissen, wie ihm geschieht; vorbereitet hat er sich jedenfalls nicht, kein Proviant führt er mit, vierzig lange Tage und vierzig noch längere Nächte zieht er durch die Wüste, geführt zwar – aber nicht wissend wohin.

In einer anderen Kultur als der jüdisch-christlich-biblischen finden Schamanen zu Beginn ihres Wirkens den Weg zu Geistern und Dämonen eben so wie Jesus hier durch Einsamkeit, Nacht und Hunger – weit weg von Familie und Freunden, weit weg von anderen Menschen, ohne Ansprache, tagelang, nächtelang isoliert, ohne Schlafplatz, ohne Essen. Die Sicherheit des Alltags, ihre alltägliche Wirklichkeit würde sie blind und taub machen für die jenseitige Realität, die sie suchen. So aber – losgelöst von allem – begegnen sie dem Absoluten, dem Heiligen, dem Mysterium tremendum et fascinosum – als dem Heiligen in seiner Ambivalenz aus Schrecken und Glanz.

Etwa die Jakobsepisoden der Bibel lassen sich nach dieser schamanistischen Interpretation lesen: der nächtliche Traum des jugendlichen Ausreißers ohne Abendbrot ganz allein auf freiem Feld, der Traum von der Himmelsleiter mit den göttlichen Wesen, den Engeln, auf ihr, Gottes Verheißung; oder auch der nächtliche Kampf am Bach Jabbok mit dem Dämon, der ihn verletzt und in dem Jakob am Ende Gott selbst erkennen muss, mit dem man kämpfen, den man aber nicht besiegen kann, dessen Verletzungen noch zum Segen werden.

Jesus begegnet in seiner „schamanistischen“ Episode dem dämonischen Schrecken in seinem ganzen unheiligen Glanz. Vom Geist in die Wüste geführt, 40 Tage und Nächte ohne Essen und Obdach ist er bereit für den Teufel, ihn zu erkennen und ihm zu wehren. Dieser erweist sich als arroganter Angeber, der das Blaue vom Himmel verspricht; als grober Vereinfacher – als Populist, würden wir heute sagen – mit den einfachen Lösungen für die schwierigen Probleme; als Bote der reinen Macht, die um ihrer selbst Willen verehrt werden will.

Das scheinen Menschheitsversuchungen zu sein, denen Jesus ausgesetzt ist, also Versuchungen die uns Menschen, vielleicht alle Menschen, betreffen, nur weil wir Menschen sind. Von solchen Versuchungen mag es mehr als diese drei geben, aber die hier, die der Teufel an Jesus ausprobiert, gehören bestimmt dazu, nämlich: Dass wir uns auf unsere biologischen Lebensfunktionen reduzieren, den Körper optimieren aber den Geist verkümmern lassen; dass wir Dinge ausprobieren und machen, nur weil sie machbar sind, ohne die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen; dass wir einen Menschen, oder den Menschen verherrlichen, um uns durch ihn zu ermächtigen, und dabei Gottes Herrlichkeit beschädigen.

Die mythologische Sprache der Bibel findet den Teufel als Bild für die Ursache solcher Versuchung. Aber es ist ja klar, dass der Teufel das Symbol gleichzeitig für Gegengott und Gegenmensch ist, also Gegenteil und Antithese zu uns Menschen und zu unserem Gott zugleich ist. Der Teufel predigt den Übermenschen, will uns aus unserer menschlichen Natur befreien und uns unsere Religion nehmen. Das macht ihn so modern. Der modische Transhumanismus hält sich für aktuell, wenn er die uralten faulen Versprechen des Satans wiederholt: Ihr werdet ewig leben, ihr werdet alles wissen, alles ist euch möglich: Ihr werdet sein wie Gott. Was hilft dagegen? Hilft was dagegen?

Die Zeiten sind nicht mehr so, dass es reichen würde, wie Jesus den richtigen Bibelvers vorzuhalten – mal abgesehen davon, dass er uns vermutlich im entscheidenden Moment nicht einfiele. Knoblauch, Rosenkranz und Kruzifix dürften den Teufel und seine Bande ebenfalls kaum noch beeindrucken. Und das ja nicht zuletzt deshalb, weil der entscheidende Angriff gegen unsere Menschlichkeit nicht von außen, sondern von innen, von uns selbst kommt, wenn wir uns über die Jahre eingeredet haben und es zu glauben gelernt haben, dass wir als Menschen doch eigentlich an die Stelle Gottes treten könnten, weil wir selbst so stark, und so weise und so mächtig sind. Wir – viel zu viele von uns – sind allzu bereit und ganz einverstanden, den Verheißungen von ewigem Leben und bis ins Universum reichender Macht zu glauben, wenn sie von den Herrschern dieser Welt – das war mal ein Name für den Teufel! -, den Masters of the Universe, von den strong men autoritärer Staaten oder von den High-Tech-Milliardären geäußert werden. Hilft was? Was hilft?

Es mag sich nicht für jeden anbieten, den Weg des Schamanen in die Wüste ohne Nahrung und Obdach zu gehen, um sich seinen Dämonen zu stellen und darüber Gott zu finden – auch wenn das Angebot der Kirche steht, in den nächsten sieben Wochen ohne etwas, was uns sonst so wichtig erscheint, bis Ostern auszuhalten, und damit den symbolischen Weg in die Wüste in die eigene Wirklichkeit zu ziehen.

Im besten Fall finden wir etwas heraus – über uns selbst, über Gott und die Welt – was uns weiterhilft; etwas, dass wir dem Teufel, in welcher Gestalt er uns auch trifft, entgegenhalten könnten, damit wir ihm nicht mit leeren Händen begegnen.

3. Sonntag nach Epiphanias, 21. Januar 2024

Naaman, der Feldhauptmann des Königs von Aram, war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und wert gehalten; denn durch ihn gab der Herr den Aramäern Sieg. Und er war ein gewaltiger Mann, jedoch aussätzig. Aber die Kriegsleute der Aramäer waren ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel; die war im Dienst der Frau Naamans. Die sprach zu ihrer Herrin: Ach dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien. Da ging Naaman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm an und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Lande Israel geredet. Der König von Aram sprach: So zieh hin, ich will dem König von Israel einen Brief schreiben. Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider und brachte den Brief dem König von Israel; der lautete: Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist. Und als der König von Israel den Brief las, zerriss er seine Kleider und sprach: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht!

Als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Lass ihn zu mir kommen, damit er innewerde, dass ein Prophet in Israel ist. So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und wasche dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden.

Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und hertreten und den Namen des Herrn, seines Gottes, anrufen und seine Hand über der Stelle bewegen und mich so von dem Aussatz befreien. Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn. Da machten sich seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, würdest du es nicht tun? Wie viel mehr, wenn er zu dir sagt: Wasche dich, so wirst du rein! Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein.

Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes samt seinem ganzen Gefolge. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht. …

Er aber sprach zu ihm: Zieh hin mit Frieden!

(2. Könige 5,1-19a)

Gesundheit kostet! Und Der König von Aram lässt sich die Gesundheit seines kriegswichtigen Hauptmanns einiges kosten: zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider. Kostenexplosionen im Gesundheitswesen sind scheints keine modernen Erfindungen.

Gesundheit kostet, weil sie uns kostbar ist, damals wie heute. Und wenn wir sie uns etwas kosten lassen, dann erhöht das unsere Erwartung, an den, der uns gesund machen soll.

Mach mich gesund! Ist die ausgesprochene oder meist unausgesprochene Forderung an den Arzt, oder eben wie in unserer Geschichte: wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist.

Dass sich der behandelnde Arzt oder in unserem Fall sein verantwortlicher Vorgesetzter davon unter Druck gesetzt fühlt, muss nicht verwundern: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht! Auch die heutigen Halbgötter in Weiß sind eben doch keine Götter, die zwar mittlerweile – schrecklich genug! – entgegen ihrem Auftrag töten dürfen, aber bis auf weiteres nicht lebendig machen können. Und die besseren von ihnen bemühen sich auch gar nicht erst, diesen Eindruck ärztlicher Allmacht zu erwecken.

Andrerseits dürfen wir als Patienten ein ernsthaftes Bemühen um unsere Gesundheit erwarten und sind enttäuscht, wenn es augenscheinlich daran mangelt, wenn wir den Eindruck haben müssen, dass uns nur mit halbem Ohr zugehört wurde, dass uns ein Medikament vorenthalten oder eine Therapie verweigert wurde. Allerdings kann man sich dabei natürlich auch selbst täuschen, zumal wenn wir unserem in Apothekenrundschau und bei Dr. Google angesammelten Scheinwissen zu viel zutrauen.

Der hier in unserer Geschichte empfohlene Einsatz von reinigendem Wasserbad bei Hautkrankheiten hört sich jedenfalls ganz vernünftig an und rechtfertigt erstmal nicht die heftige Empörung des Patienten über den in seinen Augen zu wenig spektakulären hygienisch-balneologischen Rat, im Jordan zu baden, was er im zornigen Reflex verwirft: Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn.

Aber seine Mitarbeiter, auf die er klugerweise hört, können ihn zur Badetherapie überreden. Er wird gesund und er, der Fremde, spricht – und das ist ja die Pointe unserer Geschichte – das Bekenntnis zum fremden Gott des Propheten, der ihm zu neuer Gesundheit verholfen hat, und der nun sein Gott wird: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel. Obendrein werden ihm die Kosten erlassen, was diesmal in Ordnung geht, weil dem Propheten Elisa ja selbst auch keine Kosten entstanden waren.

In Umkehrung unserer Redensart „Hauptsache gesund“, zielt unsere Heilungsgeschichte nicht auf die Kostbarkeit unserer Gesundheit, die sie natürlich keineswegs infrage stellt, sondern auf die Kostbarkeit unseres Glaubens, der uns zu neuem Leben befähigt: „Hauptsache Glauben“ will uns die Geschichte des Propheten Elisa lehren, hat sie recht?

Insbesondere als Kranke oder als ihre Angehörigen steigert sich natürlicherweise der Wert unserer Gesundheit zur Hauptsache. Sobald und solange wir krankheitshalber Einschränkungen unserer Lebensmöglichkeiten hinnehmen müssen, wird unsere Wiederherstellung uns beschäftigen. Gesundheit ist die Bedingung der Möglichkeit unseres Lebens, auch wenn uns klar ist, dass absolute Gesundheit und die Abwesenheit jeglicher Krankheit ein eher unrealistisches Ideal sind. Krankheit zeigt die Kostbarkeit von Gesundheit – und lässt sie uns schmerzvoll spüren. Das ist die Wahrheit unserer Redensart „Hauptsache gesund“.

Ihre Unwahrheit besteht darin, dass sie so tut – oder zumindest so verstanden werden kann – dass Gesundheit, also relative, „ungefähre“ Gesundheit nicht nur Bedingung, sondern auch Ziel unseres Lebens sei. Sowenig aber die wiederhergestellte Gesundheit die Pointe unserer Heilungsgeschichte ist – wie übrigens in keiner der Heilungsgeschichten der Bibel – , sowenig ist die Gesundheit die Pointe unseres Lebens. Wir leben nicht, um gesund zu sein; sondern wir sind gesund, um zu leben. Also: Die Frage nach der Gesundheit ist schon überaus wichtig; aber noch wichtiger ist die Frage nach dem Leben, dass mir meine Gesundheit ermöglicht.

Und nach der Bibel, wie wir heute hören und schon gelegentlich gehört haben, ist ein Leben zwar möglich aber nicht sinnvoll ohne den Glauben an Gott; weshalb die heutige Geschichte davon erzählt, wie der Weg aus Krankheit zu Heilung zu solchem Glauben an Gott führen kann. Sie behauptet nicht, dass es keinen anderen Weg zu Gott gäbe; und sie billigt der Krankheit auch keinen eigenen Erkenntniswert zu, als ob Krankheit und Heilung jedenfalls zu Gott führten; aber die Bibel verwendet die Heilung des Kranken als Gleichnis für unseren Weg zu Gott. In Krankheit und Heilung erlebe ich die Unverfügbarkeit meines Lebens, weder Geld noch Befehl können mich gesund machen. In der Heilung aus Krankheit empfange ich mein Leben neu – aus Gott im Glauben.

So ähnlich wird es Jesus, der selbst gelegentlich und bildhaft Arzt genannt wird, gemeint haben, wenn er sagt: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Amen.

Silvester 2023

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.

Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. (Prediger Salomo 3,1-15)

Nach einem Jahr voller Schrecken – annus horibilis! – hören wir auf dieses berühmte Bibelwort: Alles hat seine Zeit. Wir hören darauf auf der Suche nach Trost; dass es uns Spuren Gottes zeigen möge in dem ganzen Chaos, das wir Menschen auch in diesem Jahr angerichtet haben. Solche Spuren seines Erscheinens, die man mit Recht Wunder nennen kann, würden aus diesem Jahr kein Wunderjahr – kein annus mirabilis – machen, aber vielleicht doch etwas Licht in der Finsternis und Silberstreifen am Horizont aufzeigen. Alles hat seine Zeit, wie ist das gemeint?

Alles hat seine Zeit: Wenn sich, wie gar nicht so selten, Angehörige eines Verstorbenen dieses Bibelwort für die Trauerfeier wünschen, stelle ich – mir und Ihnen – den Autor unserer Verse, den Prediger Salomo, als alten, weisen Menschen, als Freund der Weisheit vor, genau: als Philosophen vor, der über sein Leben nachdenkt und über das Leben von uns Menschen überhaupt. Der sein Alles hat seine Zeit nicht resigniert meint, sondern der die Wechselfälle des Lebens in sein Leben integrieren kann; auch weil er so viel gesehen und erlebt hat.

Der mit seinem Alles hat seine Zeit nicht meint, dass etwa alles gleich gültig wäre, um darauf in Gleichgültigkeit, – oder wer weiß: in „Melancholie“ zu verfallen, sondern der einsieht, dass in einem langen, in seinem langen Leben für vieles, auch für vieles Gegensätzliche ein Platz ist. Und dass dieses alles – unsere Zeit und jeder ihrer Momente – in Gottes Ewigkeit gehalten und getragen ist.

Allerdings: Gerade das scheinbare Gleichgewicht der Gegensatzpaare muss ja irritieren, da sie in Wahrheit weder von uns noch von Gott gleich gewichtet werden; damit hält der Prediger nebeneinander, was so schwer auszuhalten ist: das Böse und Schlechte neben dem Guten, den Hass neben der Liebe, das Hässliche neben dem Schönen; Krankheit, Gewalt und Tod mitten im Leben.

Man kann dann – ausreichend irritiert – durchaus fragen, ob sich dieser gewichtige Text wirklich für die im Zusammenhang einer Trauerfeier angemessene Würdigung eines Menschenlebens eignet, die doch nicht auf das allgemein Gültige sondern das unterscheidend Besondere abzuheben hat: auf den Unterschied dieses zu anderen Leben.

Und man kann sich weiter fragen, ob der Autor mit seinem Wort Alles hat seine Zeit insgesamt die Unterschiede des von Gott Gewollten und von Menschen Gewünschten zu den ganzen Gottlosigkeiten und Unmenschlichkeiten ununterscheidbar verwischt – und damit in letzter Konsequenz die Idee des jüdischen und des christlichen Glaubens schmerzhaft verletzt und sogar verlässt, die doch beide gleichermaßen auf die Durchsetzung von Gottes gutem Willen zielen: „Friede auf Erde, den Menschen seines Wohlgefallens!“ Wie es uns die Engel vor ein paar Tagen gelehrt haben.

Für diese – ihrerseits irritierende, unfromme, unorthodoxe und häretische – Deutung des Prediger Salomos spricht der Kontext seiner Worte, insbesondere der Anfang seines Buches, von dem unser Alles hat seine Zeit nur die Fortsetzung ist: Alles ist eitel, heißt es dort.

Alles ist eitel. Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind – wie Luther übersetzt. Vanitas Vanitatis – Eitelkeit der Eitelkeiten – hat er in der lateinischen Übersetzung vorgefunden; und im wie so oft anschaulicheren und konkreten hebräischen Original steht: Häbäl Habelim – Windhauch der Windhauche.

Der unbekannte Autor, der erst mit der Zeit mit dem weisen König als Prediger Salomo identifiziert wird und so überhaupt erst mit seinem Text Eingang in die Bibel gefunden hat, meint damit, dass beides, menschliche Erkenntnis wie auch ihr Gegenstand, womöglich Gott selbst – Windhauch und Haschen nach Wind ist: Häbäl Habelim; alles ist eitel.

Einer unserer Lehrer in Mainz, der sein ganzes Forscherleben mit dem Prediger Salomo verbrachte, hielt in Anlehnung an Albert Camus folgende Übersetzung des Alles ist eitel für besonders treffend: Alles ist absurd. So wie im antiken Mythos Sisyphos täglich seinen Stein nach oben rollt, nur um ihn abends wieder den Berg hinunterrollen zu sehen, sind auch nach Ansicht des Predigers alle menschlichen Bemühungen um wahres Denken und richtiges Handeln vergeblich, eitel, Haschen nach Wind, absurd. Der Mensch kann dem, was schon immer war und für immer sein wird, niemals nichts durch nichts hinzufügen; sondern er bleibt gefangen in seiner sinnlosen, absurden Existenz.

In diesem Zusammenhang ist unser heutiges Alles hat seine Zeit schwer erträglich, umso mehr, wenn es wahr sein sollte. Denn angesichts von kommenden Katastrophen und gegenwärtiger Krisen und Kriegen – das reicht jetzt mal! – lässt sich kaum fröhlich resignieren, wie es der Prediger empfiehlt: dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Das kann es nicht sein, was aber dann?

Es bleibt nur der Widerspruch aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus, die auf ein moralisches Universum insistiert und mit dem Erscheinen Gottes rechnet, warum denn nicht mit dem Wunder, dass wir dieser Tage gefeiert haben; einem Wunder das dem gleichförmigen Chaos der natürlichen Welt Gottes Ordnung entgegensetzt. Für das Wunder aber gilt:

„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023), auf den wir schon am Heiligen Abend gehört haben.

Der abgeklärten Weltsicht des Prediger Salomo ist unbedingt diese gespannte Erwartung der Wunder Gottes entgegenzusetzen. Statt allem – nur weil Alles seine Zeit hat – gleiche Gültigkeit zuzusprechen und darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen, ist es an uns, die Wunder Gottes zu erkennen und anzuerkennen; noch im Jahr 2023 – eher Jahr der Schrecken als Jahr der Wunder – wird es solche Wunder gegeben haben.

Und so nehmen wir in der Hoffnung, dass Gott neue Schrecken verhindern und neue Wunder bereiten möge, das neue Jahr aus seiner Hand.

Ein Funken Hoffnung. Das West Eastern Divan Orchestra

Es sei ein „wunderlicher Zufall“, so Felix Mendelssohn Bartholdy, Enkel des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und protestantisch getauft, anlässlich seiner Wiederentdeckung von Bachs „Matthäuspassion“ 1829, „dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen“. Antisemitismus in der Klassik hat eine lange Tradition, bis heute, darüber lässt sich sehr viel schreiben. In diesen Tagen aber nach dem Schock des 7. Oktober, wo er sich im Alltag in vielerlei Gestalt, offen oder subtil, wieder Bahn bricht und jüdische Nachbarn auch in deutschen Städten massiv einschüchtern will, wo der Islamismus weiter streut, der Terror sprachlos macht und der Krieg im Nahen Osten immer größere Kreise zu ziehen droht – ist es nicht an der Tagesordnung, überhaupt noch an Musik zu denken. Oder vielleicht doch?

Am 1. November findet in Leipzig bei den Mendelssohn-Festtagen ein schon vor langer Zeit terminiertes Konzert mit Mendelssohn, Elliott Carter und Beethoven statt. Nicht das Programm, sondern die Interpreten sind es, die heute aufhorchen lassen: das West Eastern Divan Ensemble, acht Mitglieder des West Eastern Divan Orchestra. Die Geschichte dieses Sinfonieorchesters begann 1999 in Weimar, der damaligen Europäischen Kulturhauptstadt, als Experiment. Mehr durch Zufall begegneten sich Daniel Barenboim und Edward Said und wurden zu aller Überraschung Freunde: der eine ist argentinisch-israelischer Dirigent, der andere, mittlerweile verstorben, war amerikanischer Kulturwissenschaftler palästinensischer Herkunft. Sie entwickelten die Idee, in Weimar einen musikalischen Sommer-Workshop zu veranstalten und dazu junge israelische, palästinensische, jordanische, ägyptische, iranische und libanesische Musikerinnen und Musiker einzuladen: mit der Vision, dass diese sich kennenlernen, gemeinsam Musikstücke erarbeiten, diskutieren, einander zuhören und selbst angehört werden, dass sie andere Narrative verstehen, ohne sie zwingend selbst annehmen zu müssen. Ein Programmpunkt des Workshops war u.a. der Besuch des KZs Buchenwald, nur 12 km von Weimar entfernt. Kurze Zeit später wurde das West Eastern Divan Orchestra mit derselben Vision gegründet und nach Goethes gleichnamiger Gedichtsammlung benannt. Seine jungen Orchestermitglieder stammen aus Israel, vielen arabischen Ländern und Spanien, sein Sitz ist in Sevilla, ein dazugehöriges Musikkonservatorium ist in Berlin ansässig. Obwohl sie sich nur einmal im Jahr für eine längere Arbeitsphase und eine anschließende Tournee treffen, konnte das Orchester eine internationale Strahlkraft entwickeln und wurde mehrfach ausgezeichnet, z.B. mit dem Rheingau Musik Preis 2020. In diesen Tagen sind fast alle Orchestermitglieder und Studierenden durch die Ereignisse familiär oder indirekt betroffen und in großer Angst, wie Daniel Barenboim und sein Sohn Michael Barenboim, Konzertmeister und Dekan der Barenboim-Said-Akademie, berichten. Die Utopie der Völkerverständigung, der Annäherung durch Musik scheint durch die stündlichen Nachrichten widerlegt. Und doch: allein die Tatsache, dass sie in dieser Zeit geprobt, sicherlich gestritten, geweint und getrauert haben, dass Konzerte noch stattfinden und sie sich in der Musik miteinander und mit dem Publikum verbinden, ist nicht nur ein Trost, eine kurzzeitige Flucht vor der Realität, sondern auch ein Beweis dafür, was wenigstens im Kleinen möglich ist. Die Musik wirkt dann als Fokus, Rahmen und Schutz, als Ventil, als Sprache ohne Worte, die alle Emotionen aufnehmen und abbilden kann. Ein solches Konzert ist hier der Konsens auf einen gemeinsamen menschenfreundlichen Nenner, ein kollektiver Atemzug, ein Aufrichten und Besänftigen und vielleicht ein Funken Hoffnung.

Anne Sophie Meine