Kindermusical: Die Hochzeit zu Kana

Die Kinderchöre von St. Kilian und der Thomasgemeinde laden herzlich ein zum Kindermusical in der Thomaskirche

Die Hochzeit zu Kana

am Sonntag, 05. Mai 2024 um 16:00 Uhr unter der Leitung von Anja Komarnicki und Gabriela Blaudow.

Der Eintritt ist frei – Spenden sind erwünscht.

Weitere Vorstellungen wird es am Samstag, 25. Mai und am Sonntag, 26. Mai im Ferrutiushaus Kostheim geben.

Palmsonntag, 24. März 2024

Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
(Brief des Paulus an die Philipper 2, 5-11)

Zitate sind Glückssache: So schmückt die Kuppel des wieder aufgebauten Berliner Stadtschlosses ein Spruchband mit folgendem, die Bibel zitierenden Text: „Es ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zu Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Wie wir gerade gehört haben stammt der zweite Teil des Spruchs aus unserem Predigttext, diesem kleinen Stückchen aus dem Philipperbrief über den Weg des Gottessohnes in das Leiden und Mitleiden mit uns Menschen hinab. Dieses Pauluszitat über Machtverzicht und Selbsterniedrigung wird in den immer mal wieder aufflammenden Debatten über Rechtmäßigkeit und Symbolwert dieses Schlosses der Preußenkönige diskutiert.

Erst in der vergangenen Woche überschlugen sich wieder die Schlagzeilen darüber, als nämlich – Sie haben es in der Zeitung gelesen – acht Prophetenfiguren: Jesaja, Hosea, Zephania, Zacharias, Jonas, Daniel, Jeremias, Hesekiel auf das selbige Dach gehievt wurden, um dieses wie das erwähnte Spruchband zu schmücken. Während sich die einen über den wiederaufgebauten Touristenmagnet und insgesamt doch ziemlich ansehnlichen Hingucker in ihrer sonst nicht gerade durch Schönheit auffallenden Stadt freuen, kritisieren andere hart den Zierrat auf dem Dach des Schlosses und poltern: „Man muss inzwischen von einer bewussten fundamental-christlichen Unterwanderung des Stadtschlosses ausgehen, die sich bestens in die islamophoben Tendenzen der Zeit einfügt.“ (in einer Pressemitteilung der „Schlosskritiker“ Oswalt und Zimmerer, zitiert nach berliner-zeitung.de vom 19.3.2024) Für meinen Geschmack schießt diese unfreiwillig komische Kritik angesichts von acht Propheten des Alten Israel, die zuerst von Juden, erst viel später von Christen gehört und überdies weithin im Islam verehrt und teils sogar im Koran als Vorbild gelobt und empfohlen werden, deutlich über das Ziel hinaus: Zitate sind Glückssache, aber ihre Kritik eben manchmal auch.

Übrigens ist der auf dem Berliner Schlossdach zitierte Bibelvers nach Meinung der Gelehrten ebenfalls schon ein Zitat, als Schlussvers eines frommen Liedes der ersten Christen, das der Apostel Paulus hier zitiert – um die christliche Ethik des Verzichts, der Selbstbeschränkung, der Rücksichtnahme und des freiwilligen Ablegens von Privilegien am Geschick Jesu zu illustrieren.

Nach christlichem Glauben hätte es sich der Gottessohn gewiss gemütlicher machen können, eben zur Rechten Gottes sitzend, dort bleibend und alle Vorrechte seines göttlichen Geblüts genießend.

Das hat er nicht gemacht. Er hat nicht an seinem göttlichen Vorrecht wie an einem durch Raub erlangten Besitz festgehalten, Gottes Sohn zu sein und zu bleiben. Sondern er ist als erster Diener der Menschheit selbst Mensch geworden unter Verzicht auf seine göttlichen Vorrechte. Um es mit den Worten unseres Praktikanten Mattis Krauth zu sagen: „Obwohl Jesus alle Möglichkeiten hatte, die einem Gott zur Verfügung stehen, hat er darauf verzichtet, diese Möglichkeiten auch voll auszuschöpfen, d.h. er hat alle seine Rechte aufgegeben.“

Das ist ein unerhörter Gedanke, dass der Gottessohn, also Gott selbst auf seine Göttlichkeit verzichtet, mehr noch: auf sein Leben verzichtet und gleich wie wir Menschen stirbt; mehr noch: den schmählichsten, qualvollsten Tod, den sich die Folterer und Totschläger des alten Rom ausdenken konnten, auf sich nimmt: den Tod am Kreuz.

Mit dem Kreuz als Fluchtpunkt liest sich die Passionsgeschichte, insbesondere die Geschichte der heute beginnenden Karwoche als Geschichte der freiwilligen Entäußerung und der Selbsterniedrigung: Der Einzug des Gottessohnes als Bettlerkönig des gemeinen Volkes auf einem Esel; die Fußwaschung als Demutsgeste; schließlich die Duldung von Verleugnung, Verrat und Gewalt. Am Ende hängt Gott nackt, aller Rechte und Werte entkleidet, seiner Würde entblößt am Kreuz. Der, der ganz oben sein sollte, ganz unten; der Hohe ganz niedrig; der Allmächtige machtlos; der Gerechte rechtlos; der das Leben schuf, tot.

Und das soll nun uns – die wir es schon als Zumutung empfinden, einem anderen Vorfahrt zu gewähren, oder an der Tür Vortritt zu lassen – Beispiel und Vorbild sein? Verzichten auf unser gutes Recht? Verzichten auf das bisschen Macht, das wir haben? Abschied vom Grundrecht der Autonomie? Ohne Selbstbehauptung, ohne Selbstbestimmung leben? Statt sich nichts gefallen lassen – alles gefallen lassen? Wie soll das gehen in einer wie schon immer aggressiven Welt, in der der Frömmste nicht im Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Ausdrücklich geht es dem Paulus hier in seiner Empfehlung – oder ist es eine Forderung? – zunächst um die Gesinnung der Christenmenschen untereinander, um die Gemeinschaft in der Gemeinde, die Verfassung der Kirche – und ganz bestimmt auch um die Beratungen zwischen den Gemeinden, wie wir sie jetzt im schnellen Takt mit unseren Nachbarn führen, um in den nächsten Jahren eine neue Gestalt für unsere Kirche zu finden. Wenigstens das Miteinander der Christen soll – laut Paulus, laut Christus – nicht als Machtfrage behandelt oder als Rechtsbeziehung betrachtet werden. Sondern: Der Stärkere hat was davon, wenn er dem Schwächeren Platz macht.

Und wie ist es nun mit dem preußischen König und dem Spruchband auf seinem Schloss? Wie eigentlich meistens kompliziert – und jedenfalls komplizierter als es seine Ankläger und auch seine Verteidiger wollen. Einerseits kann das Bibelwort schwerlich als Ausdruck eines chauvinistischen Machtanspruchs gedeutet werden, wenn es doch ganz im Gegenteil den größten denkbaren Machtverzicht zum Ausdruck bringt. Andererseits lässt sich kaum von Hand weisen, dass die preußischen Könige, deren berühmtester sich selbst als erster Diener seines Staates bezeichnete und gleichzeitig reine Machtpolitik betreiben konnte, wenig dafür taten, dieses Wort mit Leben zu erfüllen. Was vielleicht auch zu viel verlangt wäre, wenn noch der beste König zur Verwirklichung des Rechts auch die Macht dazu haben muss.

Deshalb gibt es die Propheten, die ja jetzt wieder steinern neben unserem Bibelvers auf dem Schlossdach stehen und deren vornehmste Aufgabe das Wächteramt gegenüber den Königen war und ist. Die königskritischen Texte eines Jesaja, Jeremia oder Hosea gehören jedenfalls zum Radikalsten, das sich die Mächtigen aller Zeiten anhören mussten. Sie haben gewusst und laut verkündet, dass Macht nicht als Raub betrachtet und Recht nicht als Vorrecht missbraucht werden soll. Amen.

Laetare, 10. März 2024

Sie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin’s nicht. Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. (Lukas 22, 54-62)

Keine Freudentränen, trotz des heutigen Freudensonntags, auch wohl keine des Schmerzes oder der Wut, sondern Tränen der Scham, dürfen wir annehmen, die dem Petrus bitter die Wangen hinunterlaufen.

„Den kenne ich nicht“, „das habe ich nicht gewusst“, „das haben wir nicht gewusst“ – mit dieser Urformel der Verantwortungsverweigerer verweigert heute Petrus, der Möchtegernmusterschüler unter den Aposteln seine Verantwortung für das Geschick seines Freundes und Meisters, seines Herrn und Heilandes.

Frau, ich kenne ihn nicht – Mensch, ich bin’s nicht – Mensch, ich weiß nicht, was du sagst: Dreimal aus Schwäche kraftvoll verleugnet – und schon ist diese grauenvolle Nacht vorbei, der Morgen graut und der Hahn kräht. Wenn es nicht so schrecklich wäre, könnte man darüber lachen, über das Versagen des Petrus mit Ansagen – lachen wie die Hühner, oder krähen wie der Hahn. Aber das Lachen bleibt im Halse stecken über die Gemeinheit des Apostels, die Feigheit eines Freundes, die Niedrigkeit eines Stellvertreters gegenüber seinem Original, das er doch vertreten soll.

Wenn Stellvertreter, dann doch wohl von uns in seinen hochfliegenden Ambitionen und seinem krachenden Scheitern, die wir so gut kennen, seinem vorlauten Bekenntnis an anderer Stelle und seiner zum Schweigen zwingenden Scham, seinem schwächlichen Willen zur Wahrheit und seinem Hang zur Lüge. Unser Stellvertreter darin; denn natürlich kennen wir das von uns selbst und aus unserer Umgebung, dass wir nicht die Kraft zur Wahrheit finden und in unserer Not den Ausweg in einer Lüge suchen. Notlügen seien erlaubt, biegen wir uns das dann zurecht. Und die Lüge des Petrus, die dem Verleugneten doch keinen weiteren Schaden zufüge und nur auf den Leugner den Schaden seiner tränenreichen Scham schütte, wäre doch genau das: eine Lüge aus Not, die sie entschuldigt. Oder etwa nicht?

Der philosophische Jubilar dieses Jahres, Immanuel Kant, ist einer der wenigen Denker, die eine absolute – durch keine Not eingeschränkte oder durch Not einzuschränkende – Pflicht zur Wahrheit vertreten. Wahrhaftig zu sprechen, fordert der eine Gesprächspartner des Petrus, und eben auch der Philosoph, und zwar nicht aus protestantischer Beschränktheit, der schlicht die Phantasie zur Lüge fehlte, sondern aus der vernünftigen Einsicht, dass schon die eine Lüge die Fähigkeit zur Wahrheit insgesamt und damit unser menschliches Zusammenleben bedroht. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“ – spricht der Volksmund, der seinen Kant vermutlich nicht gelesen, aber umso besser verstanden hat. Die eine Lüge stellt Wahrheit insgesamt infrage und bedroht damit die Verlässlichkeit unserer Beziehungen. Wenn ich anfangen muss zu fragen, ob ein ansonsten glaubwürdiger Partner diesmal aus Not oder Laune heraus lügen könnte, ist bereits alles verloren.

Dasselbe gilt übrigens für die sich ausweitende Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge, in der überhaupt das Interesse an Wahrheit verschwimmt und allmählich verschwindet – in Ausflüchten und Ausschmückungen, durch Worthülsen, mit sprachlichen Nebelkerzen und Wunderkerzen aller Art, „fake news“ und „alternative facts“ – und die lange vor Donald Trump „bullshit“ genannt wurde – Sie verzeihen die grobe Sprache. Während die Lüge ja zumindest einen negativen Bezug zur Wahrheit hat, ist dem „bullshit“ Lüge wie Wahrheit gleichermaßen – wir bleiben bei der groben Sprache – „scheißegal“; und wir müssen befürchten, dass sich auch im Raum der Kirche diese unerfreuliche Sprachform ausbreitet. (vgl. den amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt, On Bullshit 2005)

Immerhin das – also die sprachliche Ungenauigkeit in Sachen Lüge und Wahrheit – können wir dem Petrus nicht vorwerfen, der ja gleich dreimal glasklar lügt. Damit entschuldigen wir ihn natürlich keineswegs – im Gegenteil! – , zumal seine feigen Lügen deutlich zeigen, dass Wahrhaftigkeit keine philosophische Frage ist, sondern eine ethische Forderung darstellt. Der Verleugnete kommt oder bleibt durch unser Leugnen in Gefahr. Wer weiß: Vielleicht wäre ja der gefangene Jesus durch ein kräftiges Zeugnis seiner Anhänger und Sympathisanten zu retten gewesen. Und selbst wenn wir das aus historischen Gründen oder aus theologischen Vorstellungen verneinen, vielleicht könnte bei anderer Gelegenheit solches Zeugnis aus Wahrhaftigkeit und Courage Menschen retten.

Es muss uns beschämen – und heute zu Beginn der Woche der Brüderlichkeit – umso mehr beschämen, dass immer noch und gerade wieder ausgerechnet jüdische Menschen in unserer Nähe bedroht und gefährdet sind, ohne dass sie in uns Christen verlässliche, entschiedene und deutlich hörbare Fürsprecher haben. Es darf einfach nicht sein, dass 79 Jahre nach dem Krieg, der vor allem auch ein Krieg gegen die Juden war, immer noch und wieder jüdische Menschen unter uns um Leib und Leben fürchten müssen.

„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ schreibt Dietrich Bonhoeffer in seiner Zeit und verschärft so das Wahrhaftigkeitsgebot um einiges. Keine Not erlaubt die Lüge und sei es die Lüge des Schweigens, wenn Reden und Bekennen verlangt ist. Nur wenn wir uns für die Nöte der Bedrohten und Gefährdeten einsetzen – und wenn wir gerade dabei sind – für die Nöte aller(!) Bedrohten und Gefährdeten nach unseren Möglichkeiten einsetzen, haben wir das Recht, unser Seelenheil zu pflegen und Gottes Ordnung in unseren schönen Liedern zu preisen.

Wenn wir also noch letzte Woche zur Nachfolge Jesu aufgefordert wurden, sollen wir heute – und das ist kein Widerspruch! – dem Petrus die Nachfolge verweigern. Und zwar so, dass wir uns in Petrus selbst erkennen, den feigen Leugner in uns selbst. Aber so, dass wir uns damit nicht zufrieden geben, – nach dem Motto: Wenn Petrus das nicht hinbekommen hat, wie soll ich das von mir erwarten – , sondern uns geradezu selbst die Nachfolge des Leugnens und Schweigens verweigern und uns zu Jesus in unserem Nächsten bekennen. Ob uns das dann auf die Straßen treibt oder etwa den Mund öffnet bei blöden Sprüchen am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis, muss jeder für sich entscheiden.

Vielleicht hilft uns dazu ja das stolze Wort dieses anderen Erzapostels Paulus:„Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Hab 2,4): ´Der Gerechte wird aus Glauben leben.´“

Sonntag Invokavit, 18. Februar 2024

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5. Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm. (Matthäus 4,1-11)

Einiges spricht dafür, dass die Versuchungen in der Stadt verlockender und die Dämonen dort aktiver, auch attraktiver sind als auf dem Land.

Dennoch führt der Geist Jesus nicht in die Spelunken der levantinischen Hafenstädte – weit waren die nicht und werden noch heute besungen in den unsterblichen Versen des Viktor von Scheffel: „Im schwarzen Walfisch zu Askalon“; dorthin führt der Geist Jesus also nicht, genauso wenig ins teuflische Babylon selbst. Sondern: In der Wüste soll der Gottessohn seinen Gegengott treffen, ganz so wie man an besseren Tagen auch Gott selbst in der Wüste trifft – und Mose, mit dessen Worten Jesus heute dem Teufel widersteht, ja auch Gott dort gelegentlich getroffen hat. Gerade der Mangel an Ablenkung in der Wüste scheint die Konzentration auf die Begegnung mit höheren Wesen aller Art, heute also dem Teufel, zu befördern.

Kein Entschluss oder eigener Wille führt Jesus in die Wüste – hier ganz am Anfang seines Wirkens, die Haare sind noch feucht von der Taufe – sondern der Geist; genauer heißt es dort: „unter dem Geist“ wird Jesus geführt. Eine höhere Macht hat sich seiner bemächtigt und so richtig scheint Jesus nicht zu wissen, wie ihm geschieht; vorbereitet hat er sich jedenfalls nicht, kein Proviant führt er mit, vierzig lange Tage und vierzig noch längere Nächte zieht er durch die Wüste, geführt zwar – aber nicht wissend wohin.

In einer anderen Kultur als der jüdisch-christlich-biblischen finden Schamanen zu Beginn ihres Wirkens den Weg zu Geistern und Dämonen eben so wie Jesus hier durch Einsamkeit, Nacht und Hunger – weit weg von Familie und Freunden, weit weg von anderen Menschen, ohne Ansprache, tagelang, nächtelang isoliert, ohne Schlafplatz, ohne Essen. Die Sicherheit des Alltags, ihre alltägliche Wirklichkeit würde sie blind und taub machen für die jenseitige Realität, die sie suchen. So aber – losgelöst von allem – begegnen sie dem Absoluten, dem Heiligen, dem Mysterium tremendum et fascinosum – als dem Heiligen in seiner Ambivalenz aus Schrecken und Glanz.

Etwa die Jakobsepisoden der Bibel lassen sich nach dieser schamanistischen Interpretation lesen: der nächtliche Traum des jugendlichen Ausreißers ohne Abendbrot ganz allein auf freiem Feld, der Traum von der Himmelsleiter mit den göttlichen Wesen, den Engeln, auf ihr, Gottes Verheißung; oder auch der nächtliche Kampf am Bach Jabbok mit dem Dämon, der ihn verletzt und in dem Jakob am Ende Gott selbst erkennen muss, mit dem man kämpfen, den man aber nicht besiegen kann, dessen Verletzungen noch zum Segen werden.

Jesus begegnet in seiner „schamanistischen“ Episode dem dämonischen Schrecken in seinem ganzen unheiligen Glanz. Vom Geist in die Wüste geführt, 40 Tage und Nächte ohne Essen und Obdach ist er bereit für den Teufel, ihn zu erkennen und ihm zu wehren. Dieser erweist sich als arroganter Angeber, der das Blaue vom Himmel verspricht; als grober Vereinfacher – als Populist, würden wir heute sagen – mit den einfachen Lösungen für die schwierigen Probleme; als Bote der reinen Macht, die um ihrer selbst Willen verehrt werden will.

Das scheinen Menschheitsversuchungen zu sein, denen Jesus ausgesetzt ist, also Versuchungen die uns Menschen, vielleicht alle Menschen, betreffen, nur weil wir Menschen sind. Von solchen Versuchungen mag es mehr als diese drei geben, aber die hier, die der Teufel an Jesus ausprobiert, gehören bestimmt dazu, nämlich: Dass wir uns auf unsere biologischen Lebensfunktionen reduzieren, den Körper optimieren aber den Geist verkümmern lassen; dass wir Dinge ausprobieren und machen, nur weil sie machbar sind, ohne die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen; dass wir einen Menschen, oder den Menschen verherrlichen, um uns durch ihn zu ermächtigen, und dabei Gottes Herrlichkeit beschädigen.

Die mythologische Sprache der Bibel findet den Teufel als Bild für die Ursache solcher Versuchung. Aber es ist ja klar, dass der Teufel das Symbol gleichzeitig für Gegengott und Gegenmensch ist, also Gegenteil und Antithese zu uns Menschen und zu unserem Gott zugleich ist. Der Teufel predigt den Übermenschen, will uns aus unserer menschlichen Natur befreien und uns unsere Religion nehmen. Das macht ihn so modern. Der modische Transhumanismus hält sich für aktuell, wenn er die uralten faulen Versprechen des Satans wiederholt: Ihr werdet ewig leben, ihr werdet alles wissen, alles ist euch möglich: Ihr werdet sein wie Gott. Was hilft dagegen? Hilft was dagegen?

Die Zeiten sind nicht mehr so, dass es reichen würde, wie Jesus den richtigen Bibelvers vorzuhalten – mal abgesehen davon, dass er uns vermutlich im entscheidenden Moment nicht einfiele. Knoblauch, Rosenkranz und Kruzifix dürften den Teufel und seine Bande ebenfalls kaum noch beeindrucken. Und das ja nicht zuletzt deshalb, weil der entscheidende Angriff gegen unsere Menschlichkeit nicht von außen, sondern von innen, von uns selbst kommt, wenn wir uns über die Jahre eingeredet haben und es zu glauben gelernt haben, dass wir als Menschen doch eigentlich an die Stelle Gottes treten könnten, weil wir selbst so stark, und so weise und so mächtig sind. Wir – viel zu viele von uns – sind allzu bereit und ganz einverstanden, den Verheißungen von ewigem Leben und bis ins Universum reichender Macht zu glauben, wenn sie von den Herrschern dieser Welt – das war mal ein Name für den Teufel! -, den Masters of the Universe, von den strong men autoritärer Staaten oder von den High-Tech-Milliardären geäußert werden. Hilft was? Was hilft?

Es mag sich nicht für jeden anbieten, den Weg des Schamanen in die Wüste ohne Nahrung und Obdach zu gehen, um sich seinen Dämonen zu stellen und darüber Gott zu finden – auch wenn das Angebot der Kirche steht, in den nächsten sieben Wochen ohne etwas, was uns sonst so wichtig erscheint, bis Ostern auszuhalten, und damit den symbolischen Weg in die Wüste in die eigene Wirklichkeit zu ziehen.

Im besten Fall finden wir etwas heraus – über uns selbst, über Gott und die Welt – was uns weiterhilft; etwas, dass wir dem Teufel, in welcher Gestalt er uns auch trifft, entgegenhalten könnten, damit wir ihm nicht mit leeren Händen begegnen.

3. Sonntag nach Epiphanias, 21. Januar 2024

Naaman, der Feldhauptmann des Königs von Aram, war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und wert gehalten; denn durch ihn gab der Herr den Aramäern Sieg. Und er war ein gewaltiger Mann, jedoch aussätzig. Aber die Kriegsleute der Aramäer waren ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel; die war im Dienst der Frau Naamans. Die sprach zu ihrer Herrin: Ach dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien. Da ging Naaman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm an und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Lande Israel geredet. Der König von Aram sprach: So zieh hin, ich will dem König von Israel einen Brief schreiben. Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider und brachte den Brief dem König von Israel; der lautete: Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist. Und als der König von Israel den Brief las, zerriss er seine Kleider und sprach: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht!

Als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Lass ihn zu mir kommen, damit er innewerde, dass ein Prophet in Israel ist. So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und wasche dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden.

Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und hertreten und den Namen des Herrn, seines Gottes, anrufen und seine Hand über der Stelle bewegen und mich so von dem Aussatz befreien. Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn. Da machten sich seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, würdest du es nicht tun? Wie viel mehr, wenn er zu dir sagt: Wasche dich, so wirst du rein! Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein.

Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes samt seinem ganzen Gefolge. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht. …

Er aber sprach zu ihm: Zieh hin mit Frieden!

(2. Könige 5,1-19a)

Gesundheit kostet! Und Der König von Aram lässt sich die Gesundheit seines kriegswichtigen Hauptmanns einiges kosten: zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider. Kostenexplosionen im Gesundheitswesen sind scheints keine modernen Erfindungen.

Gesundheit kostet, weil sie uns kostbar ist, damals wie heute. Und wenn wir sie uns etwas kosten lassen, dann erhöht das unsere Erwartung, an den, der uns gesund machen soll.

Mach mich gesund! Ist die ausgesprochene oder meist unausgesprochene Forderung an den Arzt, oder eben wie in unserer Geschichte: wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist.

Dass sich der behandelnde Arzt oder in unserem Fall sein verantwortlicher Vorgesetzter davon unter Druck gesetzt fühlt, muss nicht verwundern: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht! Auch die heutigen Halbgötter in Weiß sind eben doch keine Götter, die zwar mittlerweile – schrecklich genug! – entgegen ihrem Auftrag töten dürfen, aber bis auf weiteres nicht lebendig machen können. Und die besseren von ihnen bemühen sich auch gar nicht erst, diesen Eindruck ärztlicher Allmacht zu erwecken.

Andrerseits dürfen wir als Patienten ein ernsthaftes Bemühen um unsere Gesundheit erwarten und sind enttäuscht, wenn es augenscheinlich daran mangelt, wenn wir den Eindruck haben müssen, dass uns nur mit halbem Ohr zugehört wurde, dass uns ein Medikament vorenthalten oder eine Therapie verweigert wurde. Allerdings kann man sich dabei natürlich auch selbst täuschen, zumal wenn wir unserem in Apothekenrundschau und bei Dr. Google angesammelten Scheinwissen zu viel zutrauen.

Der hier in unserer Geschichte empfohlene Einsatz von reinigendem Wasserbad bei Hautkrankheiten hört sich jedenfalls ganz vernünftig an und rechtfertigt erstmal nicht die heftige Empörung des Patienten über den in seinen Augen zu wenig spektakulären hygienisch-balneologischen Rat, im Jordan zu baden, was er im zornigen Reflex verwirft: Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn.

Aber seine Mitarbeiter, auf die er klugerweise hört, können ihn zur Badetherapie überreden. Er wird gesund und er, der Fremde, spricht – und das ist ja die Pointe unserer Geschichte – das Bekenntnis zum fremden Gott des Propheten, der ihm zu neuer Gesundheit verholfen hat, und der nun sein Gott wird: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel. Obendrein werden ihm die Kosten erlassen, was diesmal in Ordnung geht, weil dem Propheten Elisa ja selbst auch keine Kosten entstanden waren.

In Umkehrung unserer Redensart „Hauptsache gesund“, zielt unsere Heilungsgeschichte nicht auf die Kostbarkeit unserer Gesundheit, die sie natürlich keineswegs infrage stellt, sondern auf die Kostbarkeit unseres Glaubens, der uns zu neuem Leben befähigt: „Hauptsache Glauben“ will uns die Geschichte des Propheten Elisa lehren, hat sie recht?

Insbesondere als Kranke oder als ihre Angehörigen steigert sich natürlicherweise der Wert unserer Gesundheit zur Hauptsache. Sobald und solange wir krankheitshalber Einschränkungen unserer Lebensmöglichkeiten hinnehmen müssen, wird unsere Wiederherstellung uns beschäftigen. Gesundheit ist die Bedingung der Möglichkeit unseres Lebens, auch wenn uns klar ist, dass absolute Gesundheit und die Abwesenheit jeglicher Krankheit ein eher unrealistisches Ideal sind. Krankheit zeigt die Kostbarkeit von Gesundheit – und lässt sie uns schmerzvoll spüren. Das ist die Wahrheit unserer Redensart „Hauptsache gesund“.

Ihre Unwahrheit besteht darin, dass sie so tut – oder zumindest so verstanden werden kann – dass Gesundheit, also relative, „ungefähre“ Gesundheit nicht nur Bedingung, sondern auch Ziel unseres Lebens sei. Sowenig aber die wiederhergestellte Gesundheit die Pointe unserer Heilungsgeschichte ist – wie übrigens in keiner der Heilungsgeschichten der Bibel – , sowenig ist die Gesundheit die Pointe unseres Lebens. Wir leben nicht, um gesund zu sein; sondern wir sind gesund, um zu leben. Also: Die Frage nach der Gesundheit ist schon überaus wichtig; aber noch wichtiger ist die Frage nach dem Leben, dass mir meine Gesundheit ermöglicht.

Und nach der Bibel, wie wir heute hören und schon gelegentlich gehört haben, ist ein Leben zwar möglich aber nicht sinnvoll ohne den Glauben an Gott; weshalb die heutige Geschichte davon erzählt, wie der Weg aus Krankheit zu Heilung zu solchem Glauben an Gott führen kann. Sie behauptet nicht, dass es keinen anderen Weg zu Gott gäbe; und sie billigt der Krankheit auch keinen eigenen Erkenntniswert zu, als ob Krankheit und Heilung jedenfalls zu Gott führten; aber die Bibel verwendet die Heilung des Kranken als Gleichnis für unseren Weg zu Gott. In Krankheit und Heilung erlebe ich die Unverfügbarkeit meines Lebens, weder Geld noch Befehl können mich gesund machen. In der Heilung aus Krankheit empfange ich mein Leben neu – aus Gott im Glauben.

So ähnlich wird es Jesus, der selbst gelegentlich und bildhaft Arzt genannt wird, gemeint haben, wenn er sagt: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Amen.

Silvester 2023

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.

Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. (Prediger Salomo 3,1-15)

Nach einem Jahr voller Schrecken – annus horibilis! – hören wir auf dieses berühmte Bibelwort: Alles hat seine Zeit. Wir hören darauf auf der Suche nach Trost; dass es uns Spuren Gottes zeigen möge in dem ganzen Chaos, das wir Menschen auch in diesem Jahr angerichtet haben. Solche Spuren seines Erscheinens, die man mit Recht Wunder nennen kann, würden aus diesem Jahr kein Wunderjahr – kein annus mirabilis – machen, aber vielleicht doch etwas Licht in der Finsternis und Silberstreifen am Horizont aufzeigen. Alles hat seine Zeit, wie ist das gemeint?

Alles hat seine Zeit: Wenn sich, wie gar nicht so selten, Angehörige eines Verstorbenen dieses Bibelwort für die Trauerfeier wünschen, stelle ich – mir und Ihnen – den Autor unserer Verse, den Prediger Salomo, als alten, weisen Menschen, als Freund der Weisheit vor, genau: als Philosophen vor, der über sein Leben nachdenkt und über das Leben von uns Menschen überhaupt. Der sein Alles hat seine Zeit nicht resigniert meint, sondern der die Wechselfälle des Lebens in sein Leben integrieren kann; auch weil er so viel gesehen und erlebt hat.

Der mit seinem Alles hat seine Zeit nicht meint, dass etwa alles gleich gültig wäre, um darauf in Gleichgültigkeit, – oder wer weiß: in „Melancholie“ zu verfallen, sondern der einsieht, dass in einem langen, in seinem langen Leben für vieles, auch für vieles Gegensätzliche ein Platz ist. Und dass dieses alles – unsere Zeit und jeder ihrer Momente – in Gottes Ewigkeit gehalten und getragen ist.

Allerdings: Gerade das scheinbare Gleichgewicht der Gegensatzpaare muss ja irritieren, da sie in Wahrheit weder von uns noch von Gott gleich gewichtet werden; damit hält der Prediger nebeneinander, was so schwer auszuhalten ist: das Böse und Schlechte neben dem Guten, den Hass neben der Liebe, das Hässliche neben dem Schönen; Krankheit, Gewalt und Tod mitten im Leben.

Man kann dann – ausreichend irritiert – durchaus fragen, ob sich dieser gewichtige Text wirklich für die im Zusammenhang einer Trauerfeier angemessene Würdigung eines Menschenlebens eignet, die doch nicht auf das allgemein Gültige sondern das unterscheidend Besondere abzuheben hat: auf den Unterschied dieses zu anderen Leben.

Und man kann sich weiter fragen, ob der Autor mit seinem Wort Alles hat seine Zeit insgesamt die Unterschiede des von Gott Gewollten und von Menschen Gewünschten zu den ganzen Gottlosigkeiten und Unmenschlichkeiten ununterscheidbar verwischt – und damit in letzter Konsequenz die Idee des jüdischen und des christlichen Glaubens schmerzhaft verletzt und sogar verlässt, die doch beide gleichermaßen auf die Durchsetzung von Gottes gutem Willen zielen: „Friede auf Erde, den Menschen seines Wohlgefallens!“ Wie es uns die Engel vor ein paar Tagen gelehrt haben.

Für diese – ihrerseits irritierende, unfromme, unorthodoxe und häretische – Deutung des Prediger Salomos spricht der Kontext seiner Worte, insbesondere der Anfang seines Buches, von dem unser Alles hat seine Zeit nur die Fortsetzung ist: Alles ist eitel, heißt es dort.

Alles ist eitel. Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind – wie Luther übersetzt. Vanitas Vanitatis – Eitelkeit der Eitelkeiten – hat er in der lateinischen Übersetzung vorgefunden; und im wie so oft anschaulicheren und konkreten hebräischen Original steht: Häbäl Habelim – Windhauch der Windhauche.

Der unbekannte Autor, der erst mit der Zeit mit dem weisen König als Prediger Salomo identifiziert wird und so überhaupt erst mit seinem Text Eingang in die Bibel gefunden hat, meint damit, dass beides, menschliche Erkenntnis wie auch ihr Gegenstand, womöglich Gott selbst – Windhauch und Haschen nach Wind ist: Häbäl Habelim; alles ist eitel.

Einer unserer Lehrer in Mainz, der sein ganzes Forscherleben mit dem Prediger Salomo verbrachte, hielt in Anlehnung an Albert Camus folgende Übersetzung des Alles ist eitel für besonders treffend: Alles ist absurd. So wie im antiken Mythos Sisyphos täglich seinen Stein nach oben rollt, nur um ihn abends wieder den Berg hinunterrollen zu sehen, sind auch nach Ansicht des Predigers alle menschlichen Bemühungen um wahres Denken und richtiges Handeln vergeblich, eitel, Haschen nach Wind, absurd. Der Mensch kann dem, was schon immer war und für immer sein wird, niemals nichts durch nichts hinzufügen; sondern er bleibt gefangen in seiner sinnlosen, absurden Existenz.

In diesem Zusammenhang ist unser heutiges Alles hat seine Zeit schwer erträglich, umso mehr, wenn es wahr sein sollte. Denn angesichts von kommenden Katastrophen und gegenwärtiger Krisen und Kriegen – das reicht jetzt mal! – lässt sich kaum fröhlich resignieren, wie es der Prediger empfiehlt: dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Das kann es nicht sein, was aber dann?

Es bleibt nur der Widerspruch aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus, die auf ein moralisches Universum insistiert und mit dem Erscheinen Gottes rechnet, warum denn nicht mit dem Wunder, dass wir dieser Tage gefeiert haben; einem Wunder das dem gleichförmigen Chaos der natürlichen Welt Gottes Ordnung entgegensetzt. Für das Wunder aber gilt:

„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023), auf den wir schon am Heiligen Abend gehört haben.

Der abgeklärten Weltsicht des Prediger Salomo ist unbedingt diese gespannte Erwartung der Wunder Gottes entgegenzusetzen. Statt allem – nur weil Alles seine Zeit hat – gleiche Gültigkeit zuzusprechen und darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen, ist es an uns, die Wunder Gottes zu erkennen und anzuerkennen; noch im Jahr 2023 – eher Jahr der Schrecken als Jahr der Wunder – wird es solche Wunder gegeben haben.

Und so nehmen wir in der Hoffnung, dass Gott neue Schrecken verhindern und neue Wunder bereiten möge, das neue Jahr aus seiner Hand.

Ein Funken Hoffnung. Das West Eastern Divan Orchestra

Es sei ein „wunderlicher Zufall“, so Felix Mendelssohn Bartholdy, Enkel des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und protestantisch getauft, anlässlich seiner Wiederentdeckung von Bachs „Matthäuspassion“ 1829, „dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen“. Antisemitismus in der Klassik hat eine lange Tradition, bis heute, darüber lässt sich sehr viel schreiben. In diesen Tagen aber nach dem Schock des 7. Oktober, wo er sich im Alltag in vielerlei Gestalt, offen oder subtil, wieder Bahn bricht und jüdische Nachbarn auch in deutschen Städten massiv einschüchtern will, wo der Islamismus weiter streut, der Terror sprachlos macht und der Krieg im Nahen Osten immer größere Kreise zu ziehen droht – ist es nicht an der Tagesordnung, überhaupt noch an Musik zu denken. Oder vielleicht doch?

Am 1. November findet in Leipzig bei den Mendelssohn-Festtagen ein schon vor langer Zeit terminiertes Konzert mit Mendelssohn, Elliott Carter und Beethoven statt. Nicht das Programm, sondern die Interpreten sind es, die heute aufhorchen lassen: das West Eastern Divan Ensemble, acht Mitglieder des West Eastern Divan Orchestra. Die Geschichte dieses Sinfonieorchesters begann 1999 in Weimar, der damaligen Europäischen Kulturhauptstadt, als Experiment. Mehr durch Zufall begegneten sich Daniel Barenboim und Edward Said und wurden zu aller Überraschung Freunde: der eine ist argentinisch-israelischer Dirigent, der andere, mittlerweile verstorben, war amerikanischer Kulturwissenschaftler palästinensischer Herkunft. Sie entwickelten die Idee, in Weimar einen musikalischen Sommer-Workshop zu veranstalten und dazu junge israelische, palästinensische, jordanische, ägyptische, iranische und libanesische Musikerinnen und Musiker einzuladen: mit der Vision, dass diese sich kennenlernen, gemeinsam Musikstücke erarbeiten, diskutieren, einander zuhören und selbst angehört werden, dass sie andere Narrative verstehen, ohne sie zwingend selbst annehmen zu müssen. Ein Programmpunkt des Workshops war u.a. der Besuch des KZs Buchenwald, nur 12 km von Weimar entfernt. Kurze Zeit später wurde das West Eastern Divan Orchestra mit derselben Vision gegründet und nach Goethes gleichnamiger Gedichtsammlung benannt. Seine jungen Orchestermitglieder stammen aus Israel, vielen arabischen Ländern und Spanien, sein Sitz ist in Sevilla, ein dazugehöriges Musikkonservatorium ist in Berlin ansässig. Obwohl sie sich nur einmal im Jahr für eine längere Arbeitsphase und eine anschließende Tournee treffen, konnte das Orchester eine internationale Strahlkraft entwickeln und wurde mehrfach ausgezeichnet, z.B. mit dem Rheingau Musik Preis 2020. In diesen Tagen sind fast alle Orchestermitglieder und Studierenden durch die Ereignisse familiär oder indirekt betroffen und in großer Angst, wie Daniel Barenboim und sein Sohn Michael Barenboim, Konzertmeister und Dekan der Barenboim-Said-Akademie, berichten. Die Utopie der Völkerverständigung, der Annäherung durch Musik scheint durch die stündlichen Nachrichten widerlegt. Und doch: allein die Tatsache, dass sie in dieser Zeit geprobt, sicherlich gestritten, geweint und getrauert haben, dass Konzerte noch stattfinden und sie sich in der Musik miteinander und mit dem Publikum verbinden, ist nicht nur ein Trost, eine kurzzeitige Flucht vor der Realität, sondern auch ein Beweis dafür, was wenigstens im Kleinen möglich ist. Die Musik wirkt dann als Fokus, Rahmen und Schutz, als Ventil, als Sprache ohne Worte, die alle Emotionen aufnehmen und abbilden kann. Ein solches Konzert ist hier der Konsens auf einen gemeinsamen menschenfreundlichen Nenner, ein kollektiver Atemzug, ein Aufrichten und Besänftigen und vielleicht ein Funken Hoffnung.

Anne Sophie Meine

1. Weihnachtstag 2023

Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein. Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille? Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh hin. Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes. Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen. Die Frau nahm das Kind und stillte es. Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es ward ihr Sohn, und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen. (2. Buch Mose 2,1-10)

Was für ein Wunder: Ein Kind wird errettet, ein Kind wird vor den genozidalen Machenschaften des Pharao gerettet, der alle neugeborenen Knaben der Hebräer töten lässt – denn „das Volk Israel mehrte sich und wurde sehr stark“ (2. Mose 1,20); deshalb „kam die Ägypter ein Grauen an vor den Israeliten“ (1,12) Um Wachstum und Stärke des Volkes Israel zu verhindern, sollen alle männlichen Babys nach der Geburt getötet werden. Was für ein abgrundtiefes Verbrechen. Und was für ein großartiges Wunder, dass das Mosebaby dennoch gerettet wird.

Ein Kind wird errettet. Ein Kind wird gerettet mit dem Verstand und der List kluger Frauen, denen das Leben wichtiger ist als die Macht; für die ein Menschenleben mehr zählt als die Loyalität zum Vater, mehr als die Macht des Königs, mehr als das Geschick des eigenen Volkes. Jedes Leben zählt, und deshalb zählt auch das Leben dieses hebräischen Knäbleins – für die eigene Mutter und Schwester sowieso, aber eben auch für die Tochter des feindlichen Herrschers, die Prinzessin des Feindes, die Tochter des blutdürstigen Pharaos: Hebrew lives matter!

Ein Kind wird errettet. Ein Kind wird gerettet unter Gottes Schutz und Schirm ganz bestimmt; aber eben auch durch Verstand und List und die Fürsorge kluger Frauen; die der Mutter zuerst – wie hält die das eigentlich aus: Trennung vom neugeborenen Kind, das sie in Lebensgefahr im schaukelnden Körbchen auf dem Nil weiß und dann in der Obhut ihrer und seiner Todfeinde; Fürsorge aber auch seiner großen Schwester, die als stille Beobachterin die Vorgänge im Blick behält und zur rechten Zeit auch den Tipp an die Tochter des Pharaos weitergibt, wer das neugeborene Kind stillen könnte, die eigene Mutter natürlich, die hat ja gerade geboren, nämlich den dessen Amme und Leihmutter sie nun sein soll.

Generationen von Kindergottesdienstkindern haben von dieser Geschichte der Rettung des Mose als Baby gehört und gelesen, haben sie gespielt und besungen, gemalt und gestaltet. Weithergeholt und leicht nachvollziehbar zugleich für uns Stadtkinder des 20. Jahrhunderts. Ist doch klar, dass dieses Baby gerettet werden muss. Wie es sich gefühlt haben wird ganz allein in seinem Körbchen? Ob es sich müde geweint hat? Kalt wird es nicht gewesen sein im Schilf auf dem Nil; aber vielleicht allzu sehr der Sonne ausgesetzt am Tag in seinem handgebastelten Brutkästchen aus Schilf, und dann vielleicht doch gefroren in der finsteren ägyptischen Nacht. Aber vielleicht ging ja auch alles recht schnell, die Stelle an der er ins Wasser gelassen wurde, war ja ganz nahe der Badestelle der Königstochter – es kommt ein Schiff geladen. Verständlich jedenfalls, dass die sich gleich für die teure Fracht interessiert. Wem würde das nicht so gehen, dass wir uns interessieren für die Babys in unserer Nähe, ein neues Leben in unserer Mitte, jedes von ihnen ein Wunder – ein feines, schönes Kind.

Generationen haben die prekäre Geburtsgeschichte des Mose mit der nicht minder prekären Geschichte Jesu verbunden; der – wie es Lukas erzählt – fern von seinem Dorf, seiner Heimat geboren wird, unvorbereitet, ohne die weisen Frauen um Mutter und Kind, die sonst wohl in jener Zeit die Geburt begleiteten; fernab vom richtigen Zuhause, in Stall oder Krippe, aber immerhin ordentlich in Windeln gewickelt; allerdings – wie es Matthäus erzählt – gleich dem Moseknaben von Geburt an bedroht von einem eifersüchtigen Herrscher, der ihm nach dem Leben trachtet und der nicht zurückschreckt vor Kindermord; zur Flucht gezwungen nach Ägypten, ins Geburtsland des Mose, sicher für Kleinkinder ist es auch da nicht, wie wir heute lernen.

Auf ihre zynische Weise haben die neidisch, eifersüchtigen Herrscher, die diesen Kindern nach dem Leben trachten natürlich recht – so wie die Tyrannen und Terrorfürsten in Russland, in Gaza und an so vielen Orten der Welt auf ihre zynische Art recht haben mit ihren Vernichtungszügen gegen die, die sich gegen ihre Gewalt wehren. Denn von diesen Gotteskindern geht Gefahr für ihre ungerechte, gewalttätige Herrschaft aus. Diese sind von Gott gesandt und eingesetzt, Recht und Gesetz wieder aufzurichten, Gnade und Barmherzigkeit zu üben, den Frieden Gottes zu bereiten.

Die Geburtsgeschichten von Mose und Jesus zeigen überdeutlich, dass die Weihnachtsbotschaft mehr ist und mehr sein will, als der Zuckerguss auf unseren Zimtplätzchen und der Puderzucker auf dem Christstollen; also mehr als die stimmungsvolle Dekoration unsere Ansprüche nach Gemütlichkeit und Festtagsstimmung. Die Botschaft der Engel ist ernst gemeint und wörtlich zu verstehen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden, den Menschen seines Wohlgefallens“, will sagen: Wer den Frieden unter Menschen verletzt, entehrt Gott und kann nicht mit seinem Wohlgefallen rechnen.

Auch wenn wir einsehen und eingestehen müssen, dass wir auf diese Weise die weihnachtliche Friedensbotschaft um einiges teurer machen, wenn im Grenzfall das Eintreten für den Frieden auch der Kampf gegen das Böse und die Bösen einschließt – verstörend genug! – bleibt die Weihnachtsbotschaft Friedensbotschaft. Denn das lässt sich doch auch an unserer Mosegeschichte heute lernen, dass das Böse mit allen aber eben auch mit unterschiedlichen Mittel zu bekämpfen ist, und dass bisweilen Ausweichen und List eher zum Ziel führen als widerstehende Gewalt. Was hätte es dem Mose geholfen, wenn ihn die Seinen mit Waffen verteidigt hätten gegen einen übermächtigen Gegner? Genau, gar nichts. Mit ihrer lebenserhaltenden List aber retten ihn Mutter und große Schwester vor dem Schwert des Pharao.

Und auch die vorübergehende Flucht der Heiligen Familie weicht dem übermächtigen Herodes aus, um ihren Jesus weiterleben zu lassen. Er hat noch so viel zu sagen, das zum Beispiel:

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Heilig Abend 2023

Weihnachten ist die Zeit der Wunder. Wir öffnen ein Buch und lesen vom Geizhals Scrooge, der zum Menschenfreund gewandelt wird.

Wir laden uns ein Film herunter und erleben wie ein einsamer Polizist John McClane eine Terrorgruppe vermöbelt – so wie Kevin allein zu Haus oder allein in New York die beiden besonders blöden Banditen vernascht.

Wir gehen ins Theater und sehen und hören davon, wie zwei Besenbinderkinder Hans und Grete sich und viele andere in unterirdischen Höhlen gefangene Kinder – Wer Ohren hat, der höre! – aus der blutigen Hand der gar nicht so putzigen Knusperhexe mit dem putzigen Namen Rosina Leckermaul befreit: „Erlöst, befreit für alle Zeit.“

Und ich behaupte, dass der weihnachtliche Kern dieser Weihnachtsgeschichten in der Erlösung durch Liebe liegt, die uns Gott – uns und selbst allen, die von Gott nichts mehr wissen wollen – ursprünglich in die Krippe in Bethlehem hineingelegt hat. Noch die säkulare Weihnachtsreligion ist eine Erlösungsreligion und verdankt sich der Geburt Gottes in die heilige Familie.

Weihnachtswunder, Weihnachtszauber, Weihnachtsmärchen – heute Abend, und in diesen Tagen, aber ganz besonders heute Abend erleben und begehen wir den religiösen Ausnahmezustand, Gott erscheint in dieser ihm – und uns durch ihn – geweihten Nacht. Alles wird anders, wenn Gott erscheint. Heute Abend dürfen wir das, sollen wir das sogar glauben: das große Wunder von Gottes Erscheinung; sollen es für möglich halten, sollen wie die Kinder den Zauber der Heiligen Nacht nicht für umtriebigen Budenzauber und schon gar nicht für faulen Zauber halten – sondern für möglich halten. Denn als Kinder Gottes sind wir – auch wir Älteren – heute gemeint.

In einer Gesprächsrunde im Advent unter dem Titel „Winterwonderland – Wer glaubt denn noch an Wunder?“ diskutierten wir uns an die Frage heran, ob man für Wunder zu jung oder zu alt sein könnte; also umgekehrt, ob ganz junge oder doch eher sehr alte Menschen empfänglich sind für Wunder. Selbstverständlich waren die Meinungen geteilt, und während für die einen ein Mangel an Wissen den Wunderglauben begründete und damit erklärte – „Man muss unwissend genug sein, um etwas für ein Wunder zu halten“ – machten andere geltend, dass erst die lange Erfahrung in der normalen Welt für das Wunder sensibilisiere – „Man muss lebenserfahren genug sein, um Wunder überhaupt wahrzunehmen“.

Insgesamt erschien es uns sinnvoll, das Wunder – und eben auch das Weihnachtswunder – nicht auf das widernatürliche Spektakuläre zu reduzieren, sondern seine Funktion und seine Wirkung zu betrachten. Wunder wirken ganz ungeachtet der Wirklichkeit, die sich da ereignet haben mag: piepegal ob wirkliches oder scheinbares Wunder. Wunder wirken – und zwar so:

„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023).

Und er fährt fort: „Nicht von ungefähr wird das Wort theos im Griechischen ursprünglich als Prädikatsbegriff für derartige Widerfahrnisse gebraucht. Es kennzeichnet ein Ereignis das Ordnung, Struktur, Sinn, Berechenbarkeit ins Chaos der Welterfahrung bringt. Wo sich solche Ordnung im Chaos ereignet, rufen Menschen im antiken Griechenland theos, und wo das geschieht, wo sich die Welt wider alle Erwartung als kosmos erweist, muss man im Mythos reden.“ (ebd.)

Mythos in diesem Sinne – also Gottesrede, die in unserem menschlichen Chaos göttliche Ordnung schafft – Mythos in diesem Sinne, der uns an Weihnachten zur Verfügung steht, und als letzte ferne Quelle aller Weihnachtsmythen gelten kann, findet sich in der Bibel, findet sich in der Tiefe der christlichen Tradition. Der Apostel Paulus fasst diesen Mythos für uns heute so zusammen:

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott. (Galaterbrief 4,3-7)

So wie wir Weihnachten ohnehin schon immer feiern, als Familienfest, und so wie uns das die Erlösungsdramen der Kultur vorführen als Rettung und Widerherstellung der Familie – durch die Scrooges und MacLanes, die Kevins, Hänsels und Gretels und alle anderen Weihnachtshelden in ihren populären Verkleidungen auf ihren scheinbar säkularen Undercover-Missionen – genau als solches Fest der Familie ist Weihnachten von Gott gemeint: Nur eben als Fortsetzung und Steigerung in eine höhere Ordnung. Gemeinsam mit seinem Sohn, der heute zur Welt kommt, dürfen wir uns – gleich welchen Alters – als Kinder Gottes glauben und dürfen wir ihn Vater, ja Papa nennen: Abba, lieber Vater!

Abba“ – das ist Verniedlichungsform und Kosewort, das als sprachliche Lallform die ersten Sprechversuche des Kleinkinds abbildet: Mama, Papa, Daddy, Abba. Sie setzt den intimen Beziehungszusammenhang und selbstverständliches, fragloses Vertrauen zwischen Eltern und Kind voraus, begründet nicht nur unseren Spracherwerb, nicht nur unser Denken und Fühlen – sondern überhaupt erst unseren Platz in dieser Welt.

Im Glauben an den heute – wunderlich, wundersam, wundervoll – neugeborenen Gottessohn werden wir eingeladen, unsere Gottesbeziehung nach diesem Modell Abba, lieber Vater! zu modellieren. In dem bedingungslosen Vertrauen auf den väterlichen, mütterlichen Gott liegt das wunderbare Geheimnis unserer Erlösung. Keine andere Bindung, kein äußerer Zwang – kein Gesetz in der Sprache des Paulus – kann und soll sich zwischen uns und Gott drängen. Darin liegt unsere Befreiung, unsere Erlösung.

„Erlöst, befreit für alle Zeit“ – besser als es die Kinder im Theater singen, kann es die Bibel auch nicht sagen.

Zweiter Advent, 10. Dezember 2023

Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, und der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde einige schicken aus der Versammlung des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! (Offenbarung des Johannes 3,7-13)

Ein Brief, ein Weihnachtsbrief vielleicht; die gibt’s immer noch und trotz allem – trotz Email, Whatsapp, Twitter jetzt X. Manche von uns schreiben tatsächlich noch Briefe auf Papier und die meisten freuen sich nach wie vor, wenn in diesen Tagen zwischen Rechnungen und Werbung ein wirklicher, wahrer Brief im Briefkasten steckt.

Meine Mutter – Gott hab sie selig – war eine fleißige Briefeschreiberin zu ihren Lebzeiten, was ich lange mit jugendlicher Arroganz verspottet habe, zu ausführlich, zu lang, zu langweilig waren mir ihre Schreiben. Ich wusste doch schon längst, von was sie schrieb und warum um alles in der Welt sollte sich irgendjemand dafür interessieren? Tat es aber doch offensichtlich; denn manche dieser Weihnachtsbrieffreundschaften überdauerten Jahrzehnte, ohne dass sich Absender und Adressaten sonst groß getroffen oder gesprochen hätten. Diese Briefe und Gegenbriefe haben eine soziale Verbundenheit geschaffen, denen im Unterschied zur Kommunikation heute in den sogenannten sozialen Medien ein viel intensiverer Austausch mit erheblicher höherer Verbindlichkeit und dabei in einem deutlich geschützteren Rahmen eignete. Mögliche negative Folgen durch allzu große Offenherzigkeit waren auf das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger begrenzt; selbst die Weitergabe an Dritte hätte keinen allzu großen Schaden anrichten können – völlig anders als in der modernen elektronischen Plauderei.

Und völlig anders natürlich auch als im Kontext einer Diktatur, die sich nicht nur für die großen Umsturzpläne interessiert, sondern für jede Kleinigkeit und obendrein jede Kleinigkeit zu großen Umsturzplänen aufbläst. Da lässt sich in unserer Nähe an die Verhältnisse in der DDR denken und an die Schnüffeleien der Stasi, die ja nicht nur privateste Briefe geöffnet, sondern auch noch an verdächtigen Socken geschnüffelt hat. Da lässt sich aber auch – und damit nähern wir uns langsam unserem Predigttext – an die Verhältnisse einer religiösen Minderheit in einem Gewaltstaat denken, also etwa der Christen im römischen Reich.

Zu der Zeit nämlich schreibt dieser Johannes hier, aus seinem fernen Exil an die ihm vertrauten Gemeinden im Westen der heutigen Türkei, in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea – unter den Bedingungen einer ebenfalls überall Verschwörung witternden Diktatur und dem Siegel der Verschwiegenheit. Johannes möchte Kontakt halten, möchte aufmuntern, möchte Ratschläge geben, Trost spenden und zwar, ohne dass ihn der zuständige römische Stasioffizier versteht; also verschlüsselt, verborgen, in Geheimsprache. An uns zweitausend Jahre jüngere Leser hat er dabei am wenigstens gedacht, aber wir müssen das jetzt miteinander ausbaden, dass wir nicht gleich alles verstehen: Schlüsselmeister, satanische Versammlungen, himmlisches Jerusalem – das lässt sich ja noch einigermaßen zuordnen; aber das Tier aus dem Abgrund, Schalen und Posaunen, die Frau und der Drache, der Engel mit dem Büchlein, apokalyptische Reiter, die Hure Babylon, das tausendjährige Reich, von denen es im übrigen Buch der Offenbarung nur so wimmelt – das alles ist uns fernen Lesern zunächst ein gut verschlüsselter Text, ein Buch mit sieben Siegeln, von dem ja auch im Zusammenhang die Rede ist und für das erst das rechte Gehör zu entwickeln ist: Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Unter den Bedingungen der Überwachung und Androhung von Gewalt durch die beherrschende Macht schreibt Johannes von Befreiung und Erlösung. Der anmaßenden Frechheit der Gewaltherrschaft und ihrer Macht setzt er – ebenfalls frech, aber ganz anders frech – aus einer Position völliger Machtlosigkeit die machtvolle Vision einer durch Gott herbeigeführten Herrschaft des Rechts und des Friedens entgegen, eine Hoffnung, die sich die Adressaten seiner Schreiben bewahren sollen – auch wenn sie unwahrscheinlich bis zum Irrwitz ist. Dass es besser werden kann und einst besser werden wird, diese Hoffnung sollen wir uns nicht ausreden lassen, von niemanden, auch nicht von denen in unseren Versammlungen, die sich als die unsrigen ausgeben, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Gegen solche trost- und hoffnungslosen Redner des Unglaubens hilft nur Glauben und Geduld.

Und es hilft natürlich die Abwehr der übergroßen Versuchung falscher, unhistorischer Konkretionen. Die Auslegungsgeschichte der Johannesoffenbarung hat vor allem unter solchen falschen Anwendungen und Zuordnungen gelitten, wenn nämlich ihre Bilder sozusagen frei Schnauze auf historische Konstellationen angewendet wurde, deren berüchtigtste der Missbrauch der Vorstellung eines Tausendjährigen Reiches durch die Nazis war. Johannes aber spricht zuerst in seine Zeit, und schreibt seinen Brief in seine Zeit.

Die Anknüpfungsmöglichkeit – das haben uns unsere Lehrer eingeschärft – liegt nicht in der Deutung dieses oder jenes historischen oder aktuellen Geschehens durch einzelne Motive im Buch der Offenbarung, sondern in seiner Darstellung des Glaubens: Glauben in den Verhältnissen des aggressiven Unglaubens, Hoffnung gegen alle Hoffnung, Geduld trotz Hast und Hetze.

In seiner extremen Notlage findet Johannes extreme Bilder nicht nur des liebenden und tröstenden, sondern auch des mächtigen und kämpfenden Gottes, die unsere Vorstellungskraft reichlich strapazieren – uns eben bis zum äußersten fordern. Sie sagen uns mehr als wir uns zu sagen trauen würden; sagen an, wieso die Geduld der Geduldigen nicht umsonst sein muss, und keine Einladung zur Resignation ist. Gott regiert, auch wenn alles dagegen spricht. Das ist die starke Behauptung des Johannes ohne jeden schwachen Beweis.

Und damit löst er eine der Aufgaben eines Briefeschreibers, bzw. eines Briefes ein: Uns etwas zu sagen, was wir uns selbst nicht sagen können. Das bewahrt den Brief vor der Langeweile des längst Bekannten oder ewig Gleichen. Heute jedenfalls hören und lesen wir etwas Neues, das neu bleibt, auch wenn wir es schon gelegentlich gehört haben. Amen.