Sonntag Invokavit, 18. Februar 2024

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5. Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm. (Matthäus 4,1-11)

Einiges spricht dafür, dass die Versuchungen in der Stadt verlockender und die Dämonen dort aktiver, auch attraktiver sind als auf dem Land.

Dennoch führt der Geist Jesus nicht in die Spelunken der levantinischen Hafenstädte – weit waren die nicht und werden noch heute besungen in den unsterblichen Versen des Viktor von Scheffel: „Im schwarzen Walfisch zu Askalon“; dorthin führt der Geist Jesus also nicht, genauso wenig ins teuflische Babylon selbst. Sondern: In der Wüste soll der Gottessohn seinen Gegengott treffen, ganz so wie man an besseren Tagen auch Gott selbst in der Wüste trifft – und Mose, mit dessen Worten Jesus heute dem Teufel widersteht, ja auch Gott dort gelegentlich getroffen hat. Gerade der Mangel an Ablenkung in der Wüste scheint die Konzentration auf die Begegnung mit höheren Wesen aller Art, heute also dem Teufel, zu befördern.

Kein Entschluss oder eigener Wille führt Jesus in die Wüste – hier ganz am Anfang seines Wirkens, die Haare sind noch feucht von der Taufe – sondern der Geist; genauer heißt es dort: „unter dem Geist“ wird Jesus geführt. Eine höhere Macht hat sich seiner bemächtigt und so richtig scheint Jesus nicht zu wissen, wie ihm geschieht; vorbereitet hat er sich jedenfalls nicht, kein Proviant führt er mit, vierzig lange Tage und vierzig noch längere Nächte zieht er durch die Wüste, geführt zwar – aber nicht wissend wohin.

In einer anderen Kultur als der jüdisch-christlich-biblischen finden Schamanen zu Beginn ihres Wirkens den Weg zu Geistern und Dämonen eben so wie Jesus hier durch Einsamkeit, Nacht und Hunger – weit weg von Familie und Freunden, weit weg von anderen Menschen, ohne Ansprache, tagelang, nächtelang isoliert, ohne Schlafplatz, ohne Essen. Die Sicherheit des Alltags, ihre alltägliche Wirklichkeit würde sie blind und taub machen für die jenseitige Realität, die sie suchen. So aber – losgelöst von allem – begegnen sie dem Absoluten, dem Heiligen, dem Mysterium tremendum et fascinosum – als dem Heiligen in seiner Ambivalenz aus Schrecken und Glanz.

Etwa die Jakobsepisoden der Bibel lassen sich nach dieser schamanistischen Interpretation lesen: der nächtliche Traum des jugendlichen Ausreißers ohne Abendbrot ganz allein auf freiem Feld, der Traum von der Himmelsleiter mit den göttlichen Wesen, den Engeln, auf ihr, Gottes Verheißung; oder auch der nächtliche Kampf am Bach Jabbok mit dem Dämon, der ihn verletzt und in dem Jakob am Ende Gott selbst erkennen muss, mit dem man kämpfen, den man aber nicht besiegen kann, dessen Verletzungen noch zum Segen werden.

Jesus begegnet in seiner „schamanistischen“ Episode dem dämonischen Schrecken in seinem ganzen unheiligen Glanz. Vom Geist in die Wüste geführt, 40 Tage und Nächte ohne Essen und Obdach ist er bereit für den Teufel, ihn zu erkennen und ihm zu wehren. Dieser erweist sich als arroganter Angeber, der das Blaue vom Himmel verspricht; als grober Vereinfacher – als Populist, würden wir heute sagen – mit den einfachen Lösungen für die schwierigen Probleme; als Bote der reinen Macht, die um ihrer selbst Willen verehrt werden will.

Das scheinen Menschheitsversuchungen zu sein, denen Jesus ausgesetzt ist, also Versuchungen die uns Menschen, vielleicht alle Menschen, betreffen, nur weil wir Menschen sind. Von solchen Versuchungen mag es mehr als diese drei geben, aber die hier, die der Teufel an Jesus ausprobiert, gehören bestimmt dazu, nämlich: Dass wir uns auf unsere biologischen Lebensfunktionen reduzieren, den Körper optimieren aber den Geist verkümmern lassen; dass wir Dinge ausprobieren und machen, nur weil sie machbar sind, ohne die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen; dass wir einen Menschen, oder den Menschen verherrlichen, um uns durch ihn zu ermächtigen, und dabei Gottes Herrlichkeit beschädigen.

Die mythologische Sprache der Bibel findet den Teufel als Bild für die Ursache solcher Versuchung. Aber es ist ja klar, dass der Teufel das Symbol gleichzeitig für Gegengott und Gegenmensch ist, also Gegenteil und Antithese zu uns Menschen und zu unserem Gott zugleich ist. Der Teufel predigt den Übermenschen, will uns aus unserer menschlichen Natur befreien und uns unsere Religion nehmen. Das macht ihn so modern. Der modische Transhumanismus hält sich für aktuell, wenn er die uralten faulen Versprechen des Satans wiederholt: Ihr werdet ewig leben, ihr werdet alles wissen, alles ist euch möglich: Ihr werdet sein wie Gott. Was hilft dagegen? Hilft was dagegen?

Die Zeiten sind nicht mehr so, dass es reichen würde, wie Jesus den richtigen Bibelvers vorzuhalten – mal abgesehen davon, dass er uns vermutlich im entscheidenden Moment nicht einfiele. Knoblauch, Rosenkranz und Kruzifix dürften den Teufel und seine Bande ebenfalls kaum noch beeindrucken. Und das ja nicht zuletzt deshalb, weil der entscheidende Angriff gegen unsere Menschlichkeit nicht von außen, sondern von innen, von uns selbst kommt, wenn wir uns über die Jahre eingeredet haben und es zu glauben gelernt haben, dass wir als Menschen doch eigentlich an die Stelle Gottes treten könnten, weil wir selbst so stark, und so weise und so mächtig sind. Wir – viel zu viele von uns – sind allzu bereit und ganz einverstanden, den Verheißungen von ewigem Leben und bis ins Universum reichender Macht zu glauben, wenn sie von den Herrschern dieser Welt – das war mal ein Name für den Teufel! -, den Masters of the Universe, von den strong men autoritärer Staaten oder von den High-Tech-Milliardären geäußert werden. Hilft was? Was hilft?

Es mag sich nicht für jeden anbieten, den Weg des Schamanen in die Wüste ohne Nahrung und Obdach zu gehen, um sich seinen Dämonen zu stellen und darüber Gott zu finden – auch wenn das Angebot der Kirche steht, in den nächsten sieben Wochen ohne etwas, was uns sonst so wichtig erscheint, bis Ostern auszuhalten, und damit den symbolischen Weg in die Wüste in die eigene Wirklichkeit zu ziehen.

Im besten Fall finden wir etwas heraus – über uns selbst, über Gott und die Welt – was uns weiterhilft; etwas, dass wir dem Teufel, in welcher Gestalt er uns auch trifft, entgegenhalten könnten, damit wir ihm nicht mit leeren Händen begegnen.

3. Sonntag nach Epiphanias, 21. Januar 2024

Naaman, der Feldhauptmann des Königs von Aram, war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und wert gehalten; denn durch ihn gab der Herr den Aramäern Sieg. Und er war ein gewaltiger Mann, jedoch aussätzig. Aber die Kriegsleute der Aramäer waren ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel; die war im Dienst der Frau Naamans. Die sprach zu ihrer Herrin: Ach dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien. Da ging Naaman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm an und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Lande Israel geredet. Der König von Aram sprach: So zieh hin, ich will dem König von Israel einen Brief schreiben. Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider und brachte den Brief dem König von Israel; der lautete: Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist. Und als der König von Israel den Brief las, zerriss er seine Kleider und sprach: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht!

Als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Lass ihn zu mir kommen, damit er innewerde, dass ein Prophet in Israel ist. So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und wasche dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden.

Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und hertreten und den Namen des Herrn, seines Gottes, anrufen und seine Hand über der Stelle bewegen und mich so von dem Aussatz befreien. Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn. Da machten sich seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, würdest du es nicht tun? Wie viel mehr, wenn er zu dir sagt: Wasche dich, so wirst du rein! Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein.

Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes samt seinem ganzen Gefolge. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht. …

Er aber sprach zu ihm: Zieh hin mit Frieden!

(2. Könige 5,1-19a)

Gesundheit kostet! Und Der König von Aram lässt sich die Gesundheit seines kriegswichtigen Hauptmanns einiges kosten: zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider. Kostenexplosionen im Gesundheitswesen sind scheints keine modernen Erfindungen.

Gesundheit kostet, weil sie uns kostbar ist, damals wie heute. Und wenn wir sie uns etwas kosten lassen, dann erhöht das unsere Erwartung, an den, der uns gesund machen soll.

Mach mich gesund! Ist die ausgesprochene oder meist unausgesprochene Forderung an den Arzt, oder eben wie in unserer Geschichte: wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist.

Dass sich der behandelnde Arzt oder in unserem Fall sein verantwortlicher Vorgesetzter davon unter Druck gesetzt fühlt, muss nicht verwundern: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht! Auch die heutigen Halbgötter in Weiß sind eben doch keine Götter, die zwar mittlerweile – schrecklich genug! – entgegen ihrem Auftrag töten dürfen, aber bis auf weiteres nicht lebendig machen können. Und die besseren von ihnen bemühen sich auch gar nicht erst, diesen Eindruck ärztlicher Allmacht zu erwecken.

Andrerseits dürfen wir als Patienten ein ernsthaftes Bemühen um unsere Gesundheit erwarten und sind enttäuscht, wenn es augenscheinlich daran mangelt, wenn wir den Eindruck haben müssen, dass uns nur mit halbem Ohr zugehört wurde, dass uns ein Medikament vorenthalten oder eine Therapie verweigert wurde. Allerdings kann man sich dabei natürlich auch selbst täuschen, zumal wenn wir unserem in Apothekenrundschau und bei Dr. Google angesammelten Scheinwissen zu viel zutrauen.

Der hier in unserer Geschichte empfohlene Einsatz von reinigendem Wasserbad bei Hautkrankheiten hört sich jedenfalls ganz vernünftig an und rechtfertigt erstmal nicht die heftige Empörung des Patienten über den in seinen Augen zu wenig spektakulären hygienisch-balneologischen Rat, im Jordan zu baden, was er im zornigen Reflex verwirft: Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn.

Aber seine Mitarbeiter, auf die er klugerweise hört, können ihn zur Badetherapie überreden. Er wird gesund und er, der Fremde, spricht – und das ist ja die Pointe unserer Geschichte – das Bekenntnis zum fremden Gott des Propheten, der ihm zu neuer Gesundheit verholfen hat, und der nun sein Gott wird: Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel. Obendrein werden ihm die Kosten erlassen, was diesmal in Ordnung geht, weil dem Propheten Elisa ja selbst auch keine Kosten entstanden waren.

In Umkehrung unserer Redensart „Hauptsache gesund“, zielt unsere Heilungsgeschichte nicht auf die Kostbarkeit unserer Gesundheit, die sie natürlich keineswegs infrage stellt, sondern auf die Kostbarkeit unseres Glaubens, der uns zu neuem Leben befähigt: „Hauptsache Glauben“ will uns die Geschichte des Propheten Elisa lehren, hat sie recht?

Insbesondere als Kranke oder als ihre Angehörigen steigert sich natürlicherweise der Wert unserer Gesundheit zur Hauptsache. Sobald und solange wir krankheitshalber Einschränkungen unserer Lebensmöglichkeiten hinnehmen müssen, wird unsere Wiederherstellung uns beschäftigen. Gesundheit ist die Bedingung der Möglichkeit unseres Lebens, auch wenn uns klar ist, dass absolute Gesundheit und die Abwesenheit jeglicher Krankheit ein eher unrealistisches Ideal sind. Krankheit zeigt die Kostbarkeit von Gesundheit – und lässt sie uns schmerzvoll spüren. Das ist die Wahrheit unserer Redensart „Hauptsache gesund“.

Ihre Unwahrheit besteht darin, dass sie so tut – oder zumindest so verstanden werden kann – dass Gesundheit, also relative, „ungefähre“ Gesundheit nicht nur Bedingung, sondern auch Ziel unseres Lebens sei. Sowenig aber die wiederhergestellte Gesundheit die Pointe unserer Heilungsgeschichte ist – wie übrigens in keiner der Heilungsgeschichten der Bibel – , sowenig ist die Gesundheit die Pointe unseres Lebens. Wir leben nicht, um gesund zu sein; sondern wir sind gesund, um zu leben. Also: Die Frage nach der Gesundheit ist schon überaus wichtig; aber noch wichtiger ist die Frage nach dem Leben, dass mir meine Gesundheit ermöglicht.

Und nach der Bibel, wie wir heute hören und schon gelegentlich gehört haben, ist ein Leben zwar möglich aber nicht sinnvoll ohne den Glauben an Gott; weshalb die heutige Geschichte davon erzählt, wie der Weg aus Krankheit zu Heilung zu solchem Glauben an Gott führen kann. Sie behauptet nicht, dass es keinen anderen Weg zu Gott gäbe; und sie billigt der Krankheit auch keinen eigenen Erkenntniswert zu, als ob Krankheit und Heilung jedenfalls zu Gott führten; aber die Bibel verwendet die Heilung des Kranken als Gleichnis für unseren Weg zu Gott. In Krankheit und Heilung erlebe ich die Unverfügbarkeit meines Lebens, weder Geld noch Befehl können mich gesund machen. In der Heilung aus Krankheit empfange ich mein Leben neu – aus Gott im Glauben.

So ähnlich wird es Jesus, der selbst gelegentlich und bildhaft Arzt genannt wird, gemeint haben, wenn er sagt: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Amen.

Silvester 2023

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.

Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. (Prediger Salomo 3,1-15)

Nach einem Jahr voller Schrecken – annus horibilis! – hören wir auf dieses berühmte Bibelwort: Alles hat seine Zeit. Wir hören darauf auf der Suche nach Trost; dass es uns Spuren Gottes zeigen möge in dem ganzen Chaos, das wir Menschen auch in diesem Jahr angerichtet haben. Solche Spuren seines Erscheinens, die man mit Recht Wunder nennen kann, würden aus diesem Jahr kein Wunderjahr – kein annus mirabilis – machen, aber vielleicht doch etwas Licht in der Finsternis und Silberstreifen am Horizont aufzeigen. Alles hat seine Zeit, wie ist das gemeint?

Alles hat seine Zeit: Wenn sich, wie gar nicht so selten, Angehörige eines Verstorbenen dieses Bibelwort für die Trauerfeier wünschen, stelle ich – mir und Ihnen – den Autor unserer Verse, den Prediger Salomo, als alten, weisen Menschen, als Freund der Weisheit vor, genau: als Philosophen vor, der über sein Leben nachdenkt und über das Leben von uns Menschen überhaupt. Der sein Alles hat seine Zeit nicht resigniert meint, sondern der die Wechselfälle des Lebens in sein Leben integrieren kann; auch weil er so viel gesehen und erlebt hat.

Der mit seinem Alles hat seine Zeit nicht meint, dass etwa alles gleich gültig wäre, um darauf in Gleichgültigkeit, – oder wer weiß: in „Melancholie“ zu verfallen, sondern der einsieht, dass in einem langen, in seinem langen Leben für vieles, auch für vieles Gegensätzliche ein Platz ist. Und dass dieses alles – unsere Zeit und jeder ihrer Momente – in Gottes Ewigkeit gehalten und getragen ist.

Allerdings: Gerade das scheinbare Gleichgewicht der Gegensatzpaare muss ja irritieren, da sie in Wahrheit weder von uns noch von Gott gleich gewichtet werden; damit hält der Prediger nebeneinander, was so schwer auszuhalten ist: das Böse und Schlechte neben dem Guten, den Hass neben der Liebe, das Hässliche neben dem Schönen; Krankheit, Gewalt und Tod mitten im Leben.

Man kann dann – ausreichend irritiert – durchaus fragen, ob sich dieser gewichtige Text wirklich für die im Zusammenhang einer Trauerfeier angemessene Würdigung eines Menschenlebens eignet, die doch nicht auf das allgemein Gültige sondern das unterscheidend Besondere abzuheben hat: auf den Unterschied dieses zu anderen Leben.

Und man kann sich weiter fragen, ob der Autor mit seinem Wort Alles hat seine Zeit insgesamt die Unterschiede des von Gott Gewollten und von Menschen Gewünschten zu den ganzen Gottlosigkeiten und Unmenschlichkeiten ununterscheidbar verwischt – und damit in letzter Konsequenz die Idee des jüdischen und des christlichen Glaubens schmerzhaft verletzt und sogar verlässt, die doch beide gleichermaßen auf die Durchsetzung von Gottes gutem Willen zielen: „Friede auf Erde, den Menschen seines Wohlgefallens!“ Wie es uns die Engel vor ein paar Tagen gelehrt haben.

Für diese – ihrerseits irritierende, unfromme, unorthodoxe und häretische – Deutung des Prediger Salomos spricht der Kontext seiner Worte, insbesondere der Anfang seines Buches, von dem unser Alles hat seine Zeit nur die Fortsetzung ist: Alles ist eitel, heißt es dort.

Alles ist eitel. Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind – wie Luther übersetzt. Vanitas Vanitatis – Eitelkeit der Eitelkeiten – hat er in der lateinischen Übersetzung vorgefunden; und im wie so oft anschaulicheren und konkreten hebräischen Original steht: Häbäl Habelim – Windhauch der Windhauche.

Der unbekannte Autor, der erst mit der Zeit mit dem weisen König als Prediger Salomo identifiziert wird und so überhaupt erst mit seinem Text Eingang in die Bibel gefunden hat, meint damit, dass beides, menschliche Erkenntnis wie auch ihr Gegenstand, womöglich Gott selbst – Windhauch und Haschen nach Wind ist: Häbäl Habelim; alles ist eitel.

Einer unserer Lehrer in Mainz, der sein ganzes Forscherleben mit dem Prediger Salomo verbrachte, hielt in Anlehnung an Albert Camus folgende Übersetzung des Alles ist eitel für besonders treffend: Alles ist absurd. So wie im antiken Mythos Sisyphos täglich seinen Stein nach oben rollt, nur um ihn abends wieder den Berg hinunterrollen zu sehen, sind auch nach Ansicht des Predigers alle menschlichen Bemühungen um wahres Denken und richtiges Handeln vergeblich, eitel, Haschen nach Wind, absurd. Der Mensch kann dem, was schon immer war und für immer sein wird, niemals nichts durch nichts hinzufügen; sondern er bleibt gefangen in seiner sinnlosen, absurden Existenz.

In diesem Zusammenhang ist unser heutiges Alles hat seine Zeit schwer erträglich, umso mehr, wenn es wahr sein sollte. Denn angesichts von kommenden Katastrophen und gegenwärtiger Krisen und Kriegen – das reicht jetzt mal! – lässt sich kaum fröhlich resignieren, wie es der Prediger empfiehlt: dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Das kann es nicht sein, was aber dann?

Es bleibt nur der Widerspruch aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus, die auf ein moralisches Universum insistiert und mit dem Erscheinen Gottes rechnet, warum denn nicht mit dem Wunder, dass wir dieser Tage gefeiert haben; einem Wunder das dem gleichförmigen Chaos der natürlichen Welt Gottes Ordnung entgegensetzt. Für das Wunder aber gilt:

„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023), auf den wir schon am Heiligen Abend gehört haben.

Der abgeklärten Weltsicht des Prediger Salomo ist unbedingt diese gespannte Erwartung der Wunder Gottes entgegenzusetzen. Statt allem – nur weil Alles seine Zeit hat – gleiche Gültigkeit zuzusprechen und darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen, ist es an uns, die Wunder Gottes zu erkennen und anzuerkennen; noch im Jahr 2023 – eher Jahr der Schrecken als Jahr der Wunder – wird es solche Wunder gegeben haben.

Und so nehmen wir in der Hoffnung, dass Gott neue Schrecken verhindern und neue Wunder bereiten möge, das neue Jahr aus seiner Hand.

Ein Funken Hoffnung. Das West Eastern Divan Orchestra

Es sei ein „wunderlicher Zufall“, so Felix Mendelssohn Bartholdy, Enkel des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und protestantisch getauft, anlässlich seiner Wiederentdeckung von Bachs „Matthäuspassion“ 1829, „dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen“. Antisemitismus in der Klassik hat eine lange Tradition, bis heute, darüber lässt sich sehr viel schreiben. In diesen Tagen aber nach dem Schock des 7. Oktober, wo er sich im Alltag in vielerlei Gestalt, offen oder subtil, wieder Bahn bricht und jüdische Nachbarn auch in deutschen Städten massiv einschüchtern will, wo der Islamismus weiter streut, der Terror sprachlos macht und der Krieg im Nahen Osten immer größere Kreise zu ziehen droht – ist es nicht an der Tagesordnung, überhaupt noch an Musik zu denken. Oder vielleicht doch?

Am 1. November findet in Leipzig bei den Mendelssohn-Festtagen ein schon vor langer Zeit terminiertes Konzert mit Mendelssohn, Elliott Carter und Beethoven statt. Nicht das Programm, sondern die Interpreten sind es, die heute aufhorchen lassen: das West Eastern Divan Ensemble, acht Mitglieder des West Eastern Divan Orchestra. Die Geschichte dieses Sinfonieorchesters begann 1999 in Weimar, der damaligen Europäischen Kulturhauptstadt, als Experiment. Mehr durch Zufall begegneten sich Daniel Barenboim und Edward Said und wurden zu aller Überraschung Freunde: der eine ist argentinisch-israelischer Dirigent, der andere, mittlerweile verstorben, war amerikanischer Kulturwissenschaftler palästinensischer Herkunft. Sie entwickelten die Idee, in Weimar einen musikalischen Sommer-Workshop zu veranstalten und dazu junge israelische, palästinensische, jordanische, ägyptische, iranische und libanesische Musikerinnen und Musiker einzuladen: mit der Vision, dass diese sich kennenlernen, gemeinsam Musikstücke erarbeiten, diskutieren, einander zuhören und selbst angehört werden, dass sie andere Narrative verstehen, ohne sie zwingend selbst annehmen zu müssen. Ein Programmpunkt des Workshops war u.a. der Besuch des KZs Buchenwald, nur 12 km von Weimar entfernt. Kurze Zeit später wurde das West Eastern Divan Orchestra mit derselben Vision gegründet und nach Goethes gleichnamiger Gedichtsammlung benannt. Seine jungen Orchestermitglieder stammen aus Israel, vielen arabischen Ländern und Spanien, sein Sitz ist in Sevilla, ein dazugehöriges Musikkonservatorium ist in Berlin ansässig. Obwohl sie sich nur einmal im Jahr für eine längere Arbeitsphase und eine anschließende Tournee treffen, konnte das Orchester eine internationale Strahlkraft entwickeln und wurde mehrfach ausgezeichnet, z.B. mit dem Rheingau Musik Preis 2020. In diesen Tagen sind fast alle Orchestermitglieder und Studierenden durch die Ereignisse familiär oder indirekt betroffen und in großer Angst, wie Daniel Barenboim und sein Sohn Michael Barenboim, Konzertmeister und Dekan der Barenboim-Said-Akademie, berichten. Die Utopie der Völkerverständigung, der Annäherung durch Musik scheint durch die stündlichen Nachrichten widerlegt. Und doch: allein die Tatsache, dass sie in dieser Zeit geprobt, sicherlich gestritten, geweint und getrauert haben, dass Konzerte noch stattfinden und sie sich in der Musik miteinander und mit dem Publikum verbinden, ist nicht nur ein Trost, eine kurzzeitige Flucht vor der Realität, sondern auch ein Beweis dafür, was wenigstens im Kleinen möglich ist. Die Musik wirkt dann als Fokus, Rahmen und Schutz, als Ventil, als Sprache ohne Worte, die alle Emotionen aufnehmen und abbilden kann. Ein solches Konzert ist hier der Konsens auf einen gemeinsamen menschenfreundlichen Nenner, ein kollektiver Atemzug, ein Aufrichten und Besänftigen und vielleicht ein Funken Hoffnung.

Anne Sophie Meine

1. Weihnachtstag 2023

Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein. Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille? Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh hin. Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes. Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen. Die Frau nahm das Kind und stillte es. Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es ward ihr Sohn, und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen. (2. Buch Mose 2,1-10)

Was für ein Wunder: Ein Kind wird errettet, ein Kind wird vor den genozidalen Machenschaften des Pharao gerettet, der alle neugeborenen Knaben der Hebräer töten lässt – denn „das Volk Israel mehrte sich und wurde sehr stark“ (2. Mose 1,20); deshalb „kam die Ägypter ein Grauen an vor den Israeliten“ (1,12) Um Wachstum und Stärke des Volkes Israel zu verhindern, sollen alle männlichen Babys nach der Geburt getötet werden. Was für ein abgrundtiefes Verbrechen. Und was für ein großartiges Wunder, dass das Mosebaby dennoch gerettet wird.

Ein Kind wird errettet. Ein Kind wird gerettet mit dem Verstand und der List kluger Frauen, denen das Leben wichtiger ist als die Macht; für die ein Menschenleben mehr zählt als die Loyalität zum Vater, mehr als die Macht des Königs, mehr als das Geschick des eigenen Volkes. Jedes Leben zählt, und deshalb zählt auch das Leben dieses hebräischen Knäbleins – für die eigene Mutter und Schwester sowieso, aber eben auch für die Tochter des feindlichen Herrschers, die Prinzessin des Feindes, die Tochter des blutdürstigen Pharaos: Hebrew lives matter!

Ein Kind wird errettet. Ein Kind wird gerettet unter Gottes Schutz und Schirm ganz bestimmt; aber eben auch durch Verstand und List und die Fürsorge kluger Frauen; die der Mutter zuerst – wie hält die das eigentlich aus: Trennung vom neugeborenen Kind, das sie in Lebensgefahr im schaukelnden Körbchen auf dem Nil weiß und dann in der Obhut ihrer und seiner Todfeinde; Fürsorge aber auch seiner großen Schwester, die als stille Beobachterin die Vorgänge im Blick behält und zur rechten Zeit auch den Tipp an die Tochter des Pharaos weitergibt, wer das neugeborene Kind stillen könnte, die eigene Mutter natürlich, die hat ja gerade geboren, nämlich den dessen Amme und Leihmutter sie nun sein soll.

Generationen von Kindergottesdienstkindern haben von dieser Geschichte der Rettung des Mose als Baby gehört und gelesen, haben sie gespielt und besungen, gemalt und gestaltet. Weithergeholt und leicht nachvollziehbar zugleich für uns Stadtkinder des 20. Jahrhunderts. Ist doch klar, dass dieses Baby gerettet werden muss. Wie es sich gefühlt haben wird ganz allein in seinem Körbchen? Ob es sich müde geweint hat? Kalt wird es nicht gewesen sein im Schilf auf dem Nil; aber vielleicht allzu sehr der Sonne ausgesetzt am Tag in seinem handgebastelten Brutkästchen aus Schilf, und dann vielleicht doch gefroren in der finsteren ägyptischen Nacht. Aber vielleicht ging ja auch alles recht schnell, die Stelle an der er ins Wasser gelassen wurde, war ja ganz nahe der Badestelle der Königstochter – es kommt ein Schiff geladen. Verständlich jedenfalls, dass die sich gleich für die teure Fracht interessiert. Wem würde das nicht so gehen, dass wir uns interessieren für die Babys in unserer Nähe, ein neues Leben in unserer Mitte, jedes von ihnen ein Wunder – ein feines, schönes Kind.

Generationen haben die prekäre Geburtsgeschichte des Mose mit der nicht minder prekären Geschichte Jesu verbunden; der – wie es Lukas erzählt – fern von seinem Dorf, seiner Heimat geboren wird, unvorbereitet, ohne die weisen Frauen um Mutter und Kind, die sonst wohl in jener Zeit die Geburt begleiteten; fernab vom richtigen Zuhause, in Stall oder Krippe, aber immerhin ordentlich in Windeln gewickelt; allerdings – wie es Matthäus erzählt – gleich dem Moseknaben von Geburt an bedroht von einem eifersüchtigen Herrscher, der ihm nach dem Leben trachtet und der nicht zurückschreckt vor Kindermord; zur Flucht gezwungen nach Ägypten, ins Geburtsland des Mose, sicher für Kleinkinder ist es auch da nicht, wie wir heute lernen.

Auf ihre zynische Weise haben die neidisch, eifersüchtigen Herrscher, die diesen Kindern nach dem Leben trachten natürlich recht – so wie die Tyrannen und Terrorfürsten in Russland, in Gaza und an so vielen Orten der Welt auf ihre zynische Art recht haben mit ihren Vernichtungszügen gegen die, die sich gegen ihre Gewalt wehren. Denn von diesen Gotteskindern geht Gefahr für ihre ungerechte, gewalttätige Herrschaft aus. Diese sind von Gott gesandt und eingesetzt, Recht und Gesetz wieder aufzurichten, Gnade und Barmherzigkeit zu üben, den Frieden Gottes zu bereiten.

Die Geburtsgeschichten von Mose und Jesus zeigen überdeutlich, dass die Weihnachtsbotschaft mehr ist und mehr sein will, als der Zuckerguss auf unseren Zimtplätzchen und der Puderzucker auf dem Christstollen; also mehr als die stimmungsvolle Dekoration unsere Ansprüche nach Gemütlichkeit und Festtagsstimmung. Die Botschaft der Engel ist ernst gemeint und wörtlich zu verstehen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden, den Menschen seines Wohlgefallens“, will sagen: Wer den Frieden unter Menschen verletzt, entehrt Gott und kann nicht mit seinem Wohlgefallen rechnen.

Auch wenn wir einsehen und eingestehen müssen, dass wir auf diese Weise die weihnachtliche Friedensbotschaft um einiges teurer machen, wenn im Grenzfall das Eintreten für den Frieden auch der Kampf gegen das Böse und die Bösen einschließt – verstörend genug! – bleibt die Weihnachtsbotschaft Friedensbotschaft. Denn das lässt sich doch auch an unserer Mosegeschichte heute lernen, dass das Böse mit allen aber eben auch mit unterschiedlichen Mittel zu bekämpfen ist, und dass bisweilen Ausweichen und List eher zum Ziel führen als widerstehende Gewalt. Was hätte es dem Mose geholfen, wenn ihn die Seinen mit Waffen verteidigt hätten gegen einen übermächtigen Gegner? Genau, gar nichts. Mit ihrer lebenserhaltenden List aber retten ihn Mutter und große Schwester vor dem Schwert des Pharao.

Und auch die vorübergehende Flucht der Heiligen Familie weicht dem übermächtigen Herodes aus, um ihren Jesus weiterleben zu lassen. Er hat noch so viel zu sagen, das zum Beispiel:

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Heilig Abend 2023

Weihnachten ist die Zeit der Wunder. Wir öffnen ein Buch und lesen vom Geizhals Scrooge, der zum Menschenfreund gewandelt wird.

Wir laden uns ein Film herunter und erleben wie ein einsamer Polizist John McClane eine Terrorgruppe vermöbelt – so wie Kevin allein zu Haus oder allein in New York die beiden besonders blöden Banditen vernascht.

Wir gehen ins Theater und sehen und hören davon, wie zwei Besenbinderkinder Hans und Grete sich und viele andere in unterirdischen Höhlen gefangene Kinder – Wer Ohren hat, der höre! – aus der blutigen Hand der gar nicht so putzigen Knusperhexe mit dem putzigen Namen Rosina Leckermaul befreit: „Erlöst, befreit für alle Zeit.“

Und ich behaupte, dass der weihnachtliche Kern dieser Weihnachtsgeschichten in der Erlösung durch Liebe liegt, die uns Gott – uns und selbst allen, die von Gott nichts mehr wissen wollen – ursprünglich in die Krippe in Bethlehem hineingelegt hat. Noch die säkulare Weihnachtsreligion ist eine Erlösungsreligion und verdankt sich der Geburt Gottes in die heilige Familie.

Weihnachtswunder, Weihnachtszauber, Weihnachtsmärchen – heute Abend, und in diesen Tagen, aber ganz besonders heute Abend erleben und begehen wir den religiösen Ausnahmezustand, Gott erscheint in dieser ihm – und uns durch ihn – geweihten Nacht. Alles wird anders, wenn Gott erscheint. Heute Abend dürfen wir das, sollen wir das sogar glauben: das große Wunder von Gottes Erscheinung; sollen es für möglich halten, sollen wie die Kinder den Zauber der Heiligen Nacht nicht für umtriebigen Budenzauber und schon gar nicht für faulen Zauber halten – sondern für möglich halten. Denn als Kinder Gottes sind wir – auch wir Älteren – heute gemeint.

In einer Gesprächsrunde im Advent unter dem Titel „Winterwonderland – Wer glaubt denn noch an Wunder?“ diskutierten wir uns an die Frage heran, ob man für Wunder zu jung oder zu alt sein könnte; also umgekehrt, ob ganz junge oder doch eher sehr alte Menschen empfänglich sind für Wunder. Selbstverständlich waren die Meinungen geteilt, und während für die einen ein Mangel an Wissen den Wunderglauben begründete und damit erklärte – „Man muss unwissend genug sein, um etwas für ein Wunder zu halten“ – machten andere geltend, dass erst die lange Erfahrung in der normalen Welt für das Wunder sensibilisiere – „Man muss lebenserfahren genug sein, um Wunder überhaupt wahrzunehmen“.

Insgesamt erschien es uns sinnvoll, das Wunder – und eben auch das Weihnachtswunder – nicht auf das widernatürliche Spektakuläre zu reduzieren, sondern seine Funktion und seine Wirkung zu betrachten. Wunder wirken ganz ungeachtet der Wirklichkeit, die sich da ereignet haben mag: piepegal ob wirkliches oder scheinbares Wunder. Wunder wirken – und zwar so:

„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023).

Und er fährt fort: „Nicht von ungefähr wird das Wort theos im Griechischen ursprünglich als Prädikatsbegriff für derartige Widerfahrnisse gebraucht. Es kennzeichnet ein Ereignis das Ordnung, Struktur, Sinn, Berechenbarkeit ins Chaos der Welterfahrung bringt. Wo sich solche Ordnung im Chaos ereignet, rufen Menschen im antiken Griechenland theos, und wo das geschieht, wo sich die Welt wider alle Erwartung als kosmos erweist, muss man im Mythos reden.“ (ebd.)

Mythos in diesem Sinne – also Gottesrede, die in unserem menschlichen Chaos göttliche Ordnung schafft – Mythos in diesem Sinne, der uns an Weihnachten zur Verfügung steht, und als letzte ferne Quelle aller Weihnachtsmythen gelten kann, findet sich in der Bibel, findet sich in der Tiefe der christlichen Tradition. Der Apostel Paulus fasst diesen Mythos für uns heute so zusammen:

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott. (Galaterbrief 4,3-7)

So wie wir Weihnachten ohnehin schon immer feiern, als Familienfest, und so wie uns das die Erlösungsdramen der Kultur vorführen als Rettung und Widerherstellung der Familie – durch die Scrooges und MacLanes, die Kevins, Hänsels und Gretels und alle anderen Weihnachtshelden in ihren populären Verkleidungen auf ihren scheinbar säkularen Undercover-Missionen – genau als solches Fest der Familie ist Weihnachten von Gott gemeint: Nur eben als Fortsetzung und Steigerung in eine höhere Ordnung. Gemeinsam mit seinem Sohn, der heute zur Welt kommt, dürfen wir uns – gleich welchen Alters – als Kinder Gottes glauben und dürfen wir ihn Vater, ja Papa nennen: Abba, lieber Vater!

Abba“ – das ist Verniedlichungsform und Kosewort, das als sprachliche Lallform die ersten Sprechversuche des Kleinkinds abbildet: Mama, Papa, Daddy, Abba. Sie setzt den intimen Beziehungszusammenhang und selbstverständliches, fragloses Vertrauen zwischen Eltern und Kind voraus, begründet nicht nur unseren Spracherwerb, nicht nur unser Denken und Fühlen – sondern überhaupt erst unseren Platz in dieser Welt.

Im Glauben an den heute – wunderlich, wundersam, wundervoll – neugeborenen Gottessohn werden wir eingeladen, unsere Gottesbeziehung nach diesem Modell Abba, lieber Vater! zu modellieren. In dem bedingungslosen Vertrauen auf den väterlichen, mütterlichen Gott liegt das wunderbare Geheimnis unserer Erlösung. Keine andere Bindung, kein äußerer Zwang – kein Gesetz in der Sprache des Paulus – kann und soll sich zwischen uns und Gott drängen. Darin liegt unsere Befreiung, unsere Erlösung.

„Erlöst, befreit für alle Zeit“ – besser als es die Kinder im Theater singen, kann es die Bibel auch nicht sagen.

Zweiter Advent, 10. Dezember 2023

Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, und der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde einige schicken aus der Versammlung des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! (Offenbarung des Johannes 3,7-13)

Ein Brief, ein Weihnachtsbrief vielleicht; die gibt’s immer noch und trotz allem – trotz Email, Whatsapp, Twitter jetzt X. Manche von uns schreiben tatsächlich noch Briefe auf Papier und die meisten freuen sich nach wie vor, wenn in diesen Tagen zwischen Rechnungen und Werbung ein wirklicher, wahrer Brief im Briefkasten steckt.

Meine Mutter – Gott hab sie selig – war eine fleißige Briefeschreiberin zu ihren Lebzeiten, was ich lange mit jugendlicher Arroganz verspottet habe, zu ausführlich, zu lang, zu langweilig waren mir ihre Schreiben. Ich wusste doch schon längst, von was sie schrieb und warum um alles in der Welt sollte sich irgendjemand dafür interessieren? Tat es aber doch offensichtlich; denn manche dieser Weihnachtsbrieffreundschaften überdauerten Jahrzehnte, ohne dass sich Absender und Adressaten sonst groß getroffen oder gesprochen hätten. Diese Briefe und Gegenbriefe haben eine soziale Verbundenheit geschaffen, denen im Unterschied zur Kommunikation heute in den sogenannten sozialen Medien ein viel intensiverer Austausch mit erheblicher höherer Verbindlichkeit und dabei in einem deutlich geschützteren Rahmen eignete. Mögliche negative Folgen durch allzu große Offenherzigkeit waren auf das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger begrenzt; selbst die Weitergabe an Dritte hätte keinen allzu großen Schaden anrichten können – völlig anders als in der modernen elektronischen Plauderei.

Und völlig anders natürlich auch als im Kontext einer Diktatur, die sich nicht nur für die großen Umsturzpläne interessiert, sondern für jede Kleinigkeit und obendrein jede Kleinigkeit zu großen Umsturzplänen aufbläst. Da lässt sich in unserer Nähe an die Verhältnisse in der DDR denken und an die Schnüffeleien der Stasi, die ja nicht nur privateste Briefe geöffnet, sondern auch noch an verdächtigen Socken geschnüffelt hat. Da lässt sich aber auch – und damit nähern wir uns langsam unserem Predigttext – an die Verhältnisse einer religiösen Minderheit in einem Gewaltstaat denken, also etwa der Christen im römischen Reich.

Zu der Zeit nämlich schreibt dieser Johannes hier, aus seinem fernen Exil an die ihm vertrauten Gemeinden im Westen der heutigen Türkei, in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea – unter den Bedingungen einer ebenfalls überall Verschwörung witternden Diktatur und dem Siegel der Verschwiegenheit. Johannes möchte Kontakt halten, möchte aufmuntern, möchte Ratschläge geben, Trost spenden und zwar, ohne dass ihn der zuständige römische Stasioffizier versteht; also verschlüsselt, verborgen, in Geheimsprache. An uns zweitausend Jahre jüngere Leser hat er dabei am wenigstens gedacht, aber wir müssen das jetzt miteinander ausbaden, dass wir nicht gleich alles verstehen: Schlüsselmeister, satanische Versammlungen, himmlisches Jerusalem – das lässt sich ja noch einigermaßen zuordnen; aber das Tier aus dem Abgrund, Schalen und Posaunen, die Frau und der Drache, der Engel mit dem Büchlein, apokalyptische Reiter, die Hure Babylon, das tausendjährige Reich, von denen es im übrigen Buch der Offenbarung nur so wimmelt – das alles ist uns fernen Lesern zunächst ein gut verschlüsselter Text, ein Buch mit sieben Siegeln, von dem ja auch im Zusammenhang die Rede ist und für das erst das rechte Gehör zu entwickeln ist: Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Unter den Bedingungen der Überwachung und Androhung von Gewalt durch die beherrschende Macht schreibt Johannes von Befreiung und Erlösung. Der anmaßenden Frechheit der Gewaltherrschaft und ihrer Macht setzt er – ebenfalls frech, aber ganz anders frech – aus einer Position völliger Machtlosigkeit die machtvolle Vision einer durch Gott herbeigeführten Herrschaft des Rechts und des Friedens entgegen, eine Hoffnung, die sich die Adressaten seiner Schreiben bewahren sollen – auch wenn sie unwahrscheinlich bis zum Irrwitz ist. Dass es besser werden kann und einst besser werden wird, diese Hoffnung sollen wir uns nicht ausreden lassen, von niemanden, auch nicht von denen in unseren Versammlungen, die sich als die unsrigen ausgeben, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Gegen solche trost- und hoffnungslosen Redner des Unglaubens hilft nur Glauben und Geduld.

Und es hilft natürlich die Abwehr der übergroßen Versuchung falscher, unhistorischer Konkretionen. Die Auslegungsgeschichte der Johannesoffenbarung hat vor allem unter solchen falschen Anwendungen und Zuordnungen gelitten, wenn nämlich ihre Bilder sozusagen frei Schnauze auf historische Konstellationen angewendet wurde, deren berüchtigtste der Missbrauch der Vorstellung eines Tausendjährigen Reiches durch die Nazis war. Johannes aber spricht zuerst in seine Zeit, und schreibt seinen Brief in seine Zeit.

Die Anknüpfungsmöglichkeit – das haben uns unsere Lehrer eingeschärft – liegt nicht in der Deutung dieses oder jenes historischen oder aktuellen Geschehens durch einzelne Motive im Buch der Offenbarung, sondern in seiner Darstellung des Glaubens: Glauben in den Verhältnissen des aggressiven Unglaubens, Hoffnung gegen alle Hoffnung, Geduld trotz Hast und Hetze.

In seiner extremen Notlage findet Johannes extreme Bilder nicht nur des liebenden und tröstenden, sondern auch des mächtigen und kämpfenden Gottes, die unsere Vorstellungskraft reichlich strapazieren – uns eben bis zum äußersten fordern. Sie sagen uns mehr als wir uns zu sagen trauen würden; sagen an, wieso die Geduld der Geduldigen nicht umsonst sein muss, und keine Einladung zur Resignation ist. Gott regiert, auch wenn alles dagegen spricht. Das ist die starke Behauptung des Johannes ohne jeden schwachen Beweis.

Und damit löst er eine der Aufgaben eines Briefeschreibers, bzw. eines Briefes ein: Uns etwas zu sagen, was wir uns selbst nicht sagen können. Das bewahrt den Brief vor der Langeweile des längst Bekannten oder ewig Gleichen. Heute jedenfalls hören und lesen wir etwas Neues, das neu bleibt, auch wenn wir es schon gelegentlich gehört haben. Amen.

Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern. (Lukasevangelium 2,30-31)

Als Großvater freue ich mich am Anblick meiner Enkelin, nicht nur weil sie natürlich die weitaus schönste Vierjährige landaus, landein ist, die klügste und begabteste ohnehin. Sondern ich freue mich, dass das Leben weitergeht, mit ihr auch etwas von meinem Leben dann in der übernächsten Generation weitergeht, Erzählungen, Gewohnheiten, Werte, etwas und manches, dass mir wichtig war und mich ausmachte. Und dabei weiß ich, dass wir damit unseren Kindern und Kindeskindern manches Gepäck aufladen, an dem sie schwer zu tragen haben, Irrtümer, Macken oder auch gravierende Lebensfehler, die nicht nur die Verantwortlichen selbst in ihrer Generation belasten, sondern auch die nachfolgenden, die damit eigentlich nichts zu tun haben. So falsch war die Rede von der „Erbsünde“ nicht (ohne deshalb richtig gewesen zu sein!). Aber allzu sehr trübt das meine Freude an meiner Enkelin nicht, denn mit den vererbten Lasten hat sie ja dennoch alle Möglichkeiten eines eigenen, eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebens. Ein Enkel setzt dem Wunder des eigenen Kindes noch eins obendrauf:

Das Projekt geht weiter! Als Großvater meine ich daher, den großväterlichen Simeon verstehen zu können, der sich hochbetagt über den Anblick dieses Kleinkindes Jesus freut, ihn auf den Arm nimmt und sein Segenswort spricht: Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern – sehr zum Wunder seiner Eltern, und zwar nicht so sehr des Hochhaltens wegen (was heutige Eltern vermutlich am meisten gestört hätte: Hoffentlich lässt der Greis das Kind nicht fallen!), sondern vor allem wegen seiner Worte, die doch mit ihren hohen Erwartungen weit über jedes erwartbare Lebensziel hinausschießen, als da wäre: glänzende Karriere, bedeutende Beiträge zur Entwicklung der Menschheit, Olympiasieg oder Nobelpreis – mag ja alles angehen, aber das Heil der Völker, das Licht der Heiden überspannt den Rahmen doch um einiges, oder nicht?

Als Leser heiliger Geschichten wundert uns natürlich gar nichts, Wunder sind zu erwarten; wir haben ja schon einiges über gebärende Jungfrauen und jubelnde Engel auf dem Felde in den an dieser Stelle noch nicht abgeschlossenen ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums gelesen, was die hypertrophe Zuschreibung eines vielleicht schon leicht verwirrten älteren Herrn einsortieren hilft: Der alte Narr hat einen Narren gefressen an dem Kinde! (Was ich neulich beim Versteckspielen auch über mich gedacht habe, mit vollem Einsatz unter dem Bett, unter dem ich nur unter größter Mühe und Aufbietung aller mir verbliebenen Kräfte wieder hervorkriechen konnte, aber eben maßlos stolz über das fachkundige Urteil des Kindergartenkindes: Das war ein gutes Versteck! Und übrigens besser als das der um eine Generation näheren Mitspieler: Zum Narren gemacht, mit Staub bedeckt, aber mit Ruhm bekleckert.)

Was mich am meisten beeindruckt an dieser Szene mit dem alten Simeon und dem kleinen Kind ist das – natürlich mit der Bürgschaft Gottes versehene – unbedingte Zutrauen des Alten zum Jungen. Hier trifft kein nörgelnder Boomer auf einen Jammerlappen der Gen-X. Sondern ein Greis, dessen Lebenserfahrung und dessen Glauben an den Gott, bei dem alles möglich ist, gibt diese Möglichkeitszuschreibung (vulgo: Optimismus!) an den Jüngeren weiter. Nichts und niemand macht so viel möglich, wie einer – ob Großvater, Mutter, ein Lehrer oder eben Gott – der einem dieses Zutrauen zuspricht. Und damit dürften wir – zugegebenermaßen über manche Umwege – zum Sinn unseres Weihnachtsglaubens gekommen sein: Die Verkündigung ungeahnter Möglichkeiten an uns durch Gottes Sohn.

Klaus Neumann

Lebendiger Adventskalender 2023 – Termine

Ev. Thomasgemeinde und Kath. Kirchort St. Mauritius

4 Adventskerzen, alle 4 brennen

Mit Liedern, Geschichten und Gedichten im Kerzenschein feiern wir vom 1. bis 22. Dezember an jedem Abend um 19.00 Uhr eine adventliche Viertelstunde vor einer Tür in der Nachbarschaft.

Freuen Sie sich auf das Akkordeon-Orchester „Harmonico“ am 3.12. (16 Uhr), den ökumenischen Kindergarten am 7.12., Klaviermusik mit Gabriela Blaudow am 9.12., den Kinderchor der Thomasgemeinde am 11.12. (17.45 Uhr), die Waldweihnacht an der Feldkapelle am 17.12. (17 Uhr), Chorgesang vor der Mauritiuskirche am 18.12. und viele schöne Momente und Begegnungen bei unseren weiteren Gastgeberinnen und Gastgebern aus St. Mauritius und der Thomasgemeinde. Alle sind herzlich eingeladen!

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 19. November 2023

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!

Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Matthäus 25,31-46)

All lives matter; jedes menschliche Leben zählt; alle Leben sind wichtig.

Es ist diese Botschaft, die von der gewaltigen Bühne des Weltgerichts heute zu uns gesprochen wird; von einer Bühne, die mit ihren Requisiten und Bildern von Himmel und Hölle, vom Teufel und Engeln, mit ihrer Massenszene aller je gelebten Menschen – das kann voll werden – und mit den machtvollsten Protagonisten, die Menschen glauben können, Gott selbst und seinem Sohn: von einer Bühne also, die unsere religiöse Vorstellungskraft beansprucht und herausfordert wie keine andere, von dieser Bühne wird heute zu uns gesprochen, dass alles Leben wichtig ist, jedes menschliche Leben zählt: All lives matter.

Und zwar sind unserer aller menschlichen Leben Gott so wichtig, dass mit unserem Lebensende nicht einfach die Akten geschlossen werden, so unabgeschlossen und unabgegolten unsere Aktionen gewesen sein mögen, sondern dass sie von Gott wiederaufgenommen werden, dass er sie sich ein letztes und letztgültiges Mal noch einmal vorlegt. Nichts bleibt vergessen, nichts fällt unter den Tisch. Damit verwirklicht Gott eine Gerechtigkeit, die vor unseren Gerichten – und sei es am Ende eines langen Instanzenweges – unmöglich bleibt. Vollständige und umfassende Gerechtigkeit für alle und jeden kann es nur bei Gott geben: All lives matter, alle Leben zählen.

Kein gnädiges – und schon gar kein ungnädiges, also etwa gedankenloses, erschöpftes, unwilliges – Vergessen steht am Ende aller Zeiten und Tage, sondern vollständige, umfassende und gerechte Erinnerung als dem Geheimnis der Erlösung. Kein unterschiedsloses Zudecken mit Gnade und Begraben von Schuld steht am Ende, sondern die wahrhafte Suche, lückenlose Aufklärung, genaue Benennung: die Wahrheit als Voraussetzung von Gerechtigkeit. Kein Gericht und kein gesellschaftlicher Prozess der Aufarbeitung und Widergutmachung nach Gewaltherrschaft und Krieg kann das leisten, auch wenn sie in ihren besten Momenten diesem Ideal folgen oder doch jederzeit mit aller Kraft folgen sollten – ohne es zu erreichen. Dennoch – trotz und wegen unseres Unvermögens zu Wahrheit und Gerechtigkeit – hebt Gott unser Vergessen in seiner Erinnerung auf. Das ist das Weltgericht.

Das ist das Weltgericht, von dessen zweifachem Ausgang nicht erzählt wird, um Angst zu verbreiten, sondern um Angst zu nehmen; oder anders gesagt: von dem erzählt wird, um den Angstmachern Angst zu machen und den Ängstlichen sie zu nehmen, und damit beiden erst gerecht zu werden. Ein gerechtes Urteil kann ja nicht darin bestehen allen dasselbe zukommen zu lassen; Übeltätern und Wohltätern, Tätern und Opfern allen dasselbe. Gerechtigkeit muss Unterschiede machen. Ein gerechtes Urteil vor Gericht kann ebenso wenig wie ein um Gerechtigkeit bemühter Kommentar angesichts von Konflikten und Kriegen einfach neutral von Leid auf allen Seiten sprechen. Auch Täter können leiden und Opfer können Leid zufügen, ohne damit ein Schuldgleichgewicht herbeizuführen. Das Saldieren von Leid verdirbt die historische Buchführung.

Deshalb kann das wahre Wort – all lives matter, alle Leben zählen – zur konkreten Lüge werden, wenn es nämlich das konkrete Leid der Opfer und die konkrete Schuld der Täter überdecken soll. Black lives matter – behauptet ja nicht, dass nicht alle Menschenleben wichtig wären, sondern im Gegenteil: Weil alle Leben zählen, zählen eben auch schwarze Leben, was angesichts von schwarzem Leid und weißer Schuld aber ausdrücklich benannt werden muss. Jewish lives matter – behauptet ja nicht, dass nicht auch christliche oder muslimische, nicht auch deutsche oder palästinensische Leben wichtig wären, sondern im Gegenteil: Weil alle Leben zählen, zählen eben auch jüdische Leben, was angesichts von historischem und aktuellem Leid von Juden ausdrücklich und laut gesagt werden muss. In der konkreten Notlage kann ich nur so der allgemeinen Wahrheit – all lives matter – gerecht werden; anders wird sie angesichts eines Terrorangriffs einer Gruppe auf ein Land zur zynischen Lüge. Natürlich zählen die Menschen in Oberbayern und auf den Fidschi-Inseln – aber angesichts eines Gewaltaktes im jüdischen Israel muss das nicht extra gesagt werden. Das andere schon: Jüdische Leben zählen, jetzt!

Gerechtigkeit lebt von Genauigkeit. Gerechtigkeit erweist sich in Notlagen und gegenüber Notleidenden. Gerecht ist nicht zuerst der, der den allgemeinen Weltfrieden predigt, sondern der, der genau diesen Krieg bekämpft und genau jenen Frieden bereitet. Gerecht ist nicht zuerst der, der allen Essen und allen zu trinken gibt, sondern der, der den Hungrigen Essen und den Durstigen zu trinken gibt. Unser Gerichtsgleichnis lässt den richtenden König sagen: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Es ist die in der hebräischen Sprache „Gerechtigkeitstat“ – Zedaka – genannte Tat an den Bedürftigen gemeint, die zählt. Mit solchen Wohltaten, die das Unwohlsein Leidender lindern, machen wir deutlich, dass diese für uns zählen. Die „geringsten Brüder“ bezeichnen dabei nicht zuerst eine soziologisch beschreibbare Schicht als Unterschicht oder eine Klasse der Deklassierten, sondern unseren „Nächsten“, also die Person, die Not leidet und einen konkreten Mangel hat: Hunger, Durst, Fremdheit, Nacktheit, Krankheit, Gefängnis – und beschreibt also in zweiter Linie durchaus Personen insgesamt, deren Existenz vielfältigen Mängeln ausgesetzt sind. Diese genannten Mängel – und überhaupt Mängel wie diese – sind gemeint und schließen dann selbstverständlich Armut, Gewalt und Krieg ein. Mitzudenken ist die Fortsetzung der Reihe: Ich bin arm gewesen und ihr habt mit mir geteilt; ich habe Gewalt erfahren und ihr habt mich beschützt; ich war im Krieg und ihr habt für den Frieden gekämpft.

Unser Gerichtsbild wendet unsere Aufmerksamkeit auf die Sorge für den konkreten Fall, in dem sich unsere allgemeine Sorgepflicht erfüllt. Wir werden nicht den Hunger auf der Welt besiegen, und noch nicht einmal Jesus hat alle Kranken, die ihm begegneten, geheilt; aber wenn uns ein Hungriger begegnet oder wo wir Kranke sehen, sind wir nach unseren Möglichkeiten zur Hilfe gefordert. Der eine zählt, jeder einzelne zählt, weil alle zählen.

Aus unseren Möglichkeiten und mehr noch aus unseren Unmöglichkeiten zur Hilfe ergibt sich Gottes Zuständigkeit für das Große und Ganze. Am Weltgericht müssten wir Menschen uns verheben, schon ein Weltpolizist mutet sich zu viel zu. Aber Gott können wir das Gericht über die Welt überlassen. Auf seine Gerechtigkeit und auf seine Gnade ist Verlass. Für ihn zählen alle Menschen.