Johannes Brahms‘ „Schicksalslied“ nach Friedrich Hölderlin

Das Jahr 2020 kennt neben Beethoven noch einen weiteren großen Jubilar. Vor 250 Jahren, am 20. März 1770, wurde Friedrich Hölderlin geboren, einer der größten deutschen Dichter – zu seiner Zeit nur von wenigen erkannt und erst im 20. Jahrhundert rezipiert, etwa von nicht weniger als 20 Komponisten. Von der strengen Mutter für das evangelische Pfarramt vorgesehen, konnte sich Hölderlin nie dazu durchringen. Die Poesie galt ihm alles. Als hochgebildeter, von der griechischen Antike faszinierter „Sprachkünstler“ erneuerte er die traditionellen Gedichtformen und schuf in seinem Roman „Hyperion“, in seinen Hymnen, Oden und Elegien einen bis dahin ungekannten Ton von hohem Pathos und außergewöhnlicher Musikalität. Selbst wenn man seine Gedichte nicht kennt, hat man vielleicht schon von seiner bewegten Biografie, seiner tragischen Liebe zu Suzette, der Frau des Frankfurter Bankiers Gontard, oder vom Tübinger „Hölderlin-Turm“ gehört, wo der an einer schweren Psychose erkrankte Dichter von 1806 bis zu seinem Tod 1843 bei einer Schreinerfamilie untergebracht war und von ihr gepflegt wurde. Einen guten Einstieg in Hölderlins Welt bietet z.B. das „Schicksalslied“ für Chor und Orchester von Johannes Brahms. In seiner Schönheit und Dramatik erinnert das im Sommer 1868 begonnene Werk an Brahms‘ Deutsches Requiem von 1867. Die emotionale Fallhöhe des Gedichts aus „Hyperion“ setzt der Komponist in einen quasi lichtdurchfluteten, schwebenden ersten Teil und einen stürmischeren, düsteren zweiten Teil um. Beim dritten Teil, der Wiederholung des sanften Anfangs, war sich Brahms auch noch nach der Uraufführung 1871 unschlüssig. Er beließ es dabei. Das Gedicht endet in Verzweiflung – die Musik aber sollte, wie das Requiem, mit der Hoffnung ausklingen.

Anne Sophie Meine

Schicksalslied
aus Hölderlins Roman „Hyperion oder
der Eremit in Griechenland“ (1797/99)

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Mehr zu Hölderlin unter www.hoelderlin2020.de: mit vielen interessanten Texten, (virtuellen) Ausstellungen, Gesprächen und Radio-Podcasts.
Lyrik-CD: Friedrich Hölderlin: Gedichte. Mit Mathias Wiemann. SWR2 Lesung
1947/1956, SWR edition 2013.
Musik-CD: J. Brahms: Werke für Chor und Orchester, u.a. Danish National Choir & SO, Gerd Albrecht, Chandos 2004.