Predigttext für den 15. Sonntag nach Trinitatis, 20. September 2020

Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. 5Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; 6aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. 7Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.8Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. (…)

15Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. 16Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, 17aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.18Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 19Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. 20Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach.

21Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22Und Gott der HERR baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. (1. Mose 2,4b-25)

Verbotene Früchte von verbotenen Bäumen sind die verlockendsten. Wer´s nicht glaubt, soll gelegentlich beim Gemeindegarten vorbeikommen, jetzt im goldenen Herbst, wenn die Quitten durch die Blätter leuchten und langsam in der Septembersonne reifen. Unwiderstehlich für nicht wenige, die sie dann abrupfen. Zur Rede gestellt, warum sie sie denn nicht fertig reifen lassen und nicht mal fragen, ob sie sich welche nehmen können – sie sind nämlich wie jedes Jahr schon den Nachbarn und Bekannten versprochen – stellen sie sich meistens frech und dumm: „Die paar Früchte“ – „Die gehören doch keinem“ – „Die fallen doch sonst runter und verfaulen“ – „Jetzt haben sie sich mal nicht so, ich dachte sie sind von der Kirche“ Jeder Spruch ein Juwel in der Tradition von Adam und Eva, die sich in Unverschämtheiten und Ausflüchten üben, aber die Verantwortung für ihr Tun verweigern.

Aber warum eigentlich solche Regeln schon im Paradies; da ist doch kein Mangel, der verwaltet werden müsste; keine Konkurrenz, der die Früchte schon versprochen wären. Warum werden schon im Paradies Grenzen gezogen durch Regeln. Wird hier nicht die urzuständliche herrliche Freiheit der Kinder Gottes sinnwidrig beschränkt und begrenzt. Besteht nicht der eigentliche und erste Sündenfall darin, die uranfängliche Autonomie des Menschen heteronom zu untergraben.

Die Autoren unserer Geschichte dachten: nein. Vielleicht weil sie eine Ahnung davon hatten und weitergeben wollten, dass alles Leben, auch alles menschliche Leben von Anfang an begrenzt ist: räumlich, durch einen Körper, der nicht gleichzeitig hier und dort sein kann – und zeitlich, durch meine Lebenszeit, gerahmt von Geburt und Tod; und durch natürliche Bedingungen begrenzt wie Klima und Geographie und Nahrungsangebot; wie auch durch Regeln und Gesetze begrenzt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Apfel, Birne oder Quitte!

Menschliches Leben ist vielfältig begrenzt, bedingt und abhängig; zuletzt und von Anfang an abhängig von unserem Schöpfergott, dem wir das anerkennen wenn wir glauben – also in und hinter den Erscheinungen der Welt nach dem Sinn fragen. Glauben sei das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ hat der Theologe Schleiermacher gesagt und damit gemeint, dass wir im Glauben die Voraussetzungen unseres Lebens anerkennen, die wir uns selbst nicht schaffen können. Über diesen Glauben kommuniziert die Bibel – auch mit uns, wenn wir sie lesen.

Die Schöpfungserzählung der Bibel ist unausschöpflich. Darin entspricht sie ihrem Gegenstand, der Schöpfung, die ist auch unausschöpflich (ganz zu schweigen vom Schöpfer selbst, der ist noch viel unerschöpflicher – schlechthin unausschöpflich) – mehr und größer als Menschen denken und forschen können. Dennoch – oder gerade deswegen – ist die Schöpfung seit jeher Gegenstand unseres Forschens und Fragens. Jede Menscheitsgeneration stellt ihre Fragen nach der Natur der Dinge auf ihre Weise und erhält die ihrer Zeit gemäßen Antworten. Die werden sich – wie die Fragen, wie die Methoden der Forschung – ändern und damit widersprechen – wenn nicht, würden wir uns ja nicht entwickeln sondern in unserem Wissen stagnieren. Es wäre schon seltsam, wenn diese Schöpfungserzählung – es gibt ja noch eine weitere, wahrscheinlich jüngere, die noch einmal ganz andere Vorstellung unterbreitet – es wäre schon seltsam, wenn diese Schöpfungserzählung von vor zweieinhalbtausend Jahren unserem heutigen Naturwissenschaftsstand entspräche; dann wären die Alten unfassbar klug oder wir unfassbar zurückgeblieben oder beides zugleich. Die Widersprüche – auch die scheinbaren Widersprüche! – der biblischen Erzählungen von der Schöpfung zu unseren modernen Erkenntnissen verstehen sich eigentlich von selbst. Das aber heißt nicht, dass nicht auch die alten Fragen und Antworten für uns interessant und erhellend sein können, und manchmal sogar – sie müssen ja nur lange genug vergessen sein – überraschen und für neu gehalten werden.

Überraschen muss, dass seit jeher Menschen ihre Geschlechterverhältnisse verhandeln – von Anfang an auch in der Bibel, auf diesen ersten Seiten schon. Beide Schöpfungserzählungen vertreten ganz unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens. Während die erste und jüngere wie selbstverständlich und mit der Erklärung, dass Gott den Menschen zu seinem Bilde schuf, ein Modell der Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau vertritt –„Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“ – , erklärt die zweite und ältere, also unser heutiger Predigttext, mythologisch-phantasievoll Unterschied und Unterordnung der Frau unter den Mann als später und aus dem Mann heraus gebildetes Wesen – „Gott nahm (dem schlafenden Adam) eine Rippe und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ Die Frau als sekundär und abgeleitet vom Mann, wie sie diese Geschichte im Gegensatz zur anderen sieht, klingt auch im hübschen Wortspiel „Mann-Männin“ an, mit dem Luther das eigentlich unübersetzbare hebräische Wortpaar „isch – ischah“/“Mann – Frau“ übersetzt: man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.

Diese und weitere Unterschiede, Varianten und unzählige Widersprüche in der Bibel selbst laden zum weiterdenken und natürlich auch zum Aushalten von Widersprüchen ein. Wenn die Autoren der Bibel das schon aushalten, sich gegenseitig zu widersprechen – und zwar absichtsvoll und keineswegs aus Versehen – sollten wir es auch aushalten – und zwar so, dass wir den anderen trotzdem gelten lassen. Das wäre doch schon echter Fortschritt in den Fragen der Geschlechterverhältnisse unserer Zeit, in den Gender-Debatten, also Widerspruch zuzulassen, in beide Richtungen zuzulassen; ins Gespräch kommen, ohne den eigenen Standpunkt zu absolutieren, ihn dennoch zu vertreten – aber den anderen auch wahrnehmen.

Die Bibel überrascht mit der Vielfalt der Positionen, die sie aushält (die sie durchaus nicht immer aushält, es gibt auch Unduldsamkeit in der Bibel, der aber oft ebenfalls innerbiblisch widersprochen wird). Das ist der theologische Ertrag historischer Kritik an der Bibel: der Glauben ist vielfältig und verändert sich und bleibt sich in den Veränderungen treu. Umso mehr schmerzt es, dass die Bibel von einigen trotzdem als fundamentalistische Rechthaberfibel gelesen wird. Gerade die Schöpfungserzählungen werden zum Kampfplatz der eigenen Allwissenheitsfantasien; dabei taugen die dafür am wenigsten, wenn nämlich Pointe und punchline der Schöpfungsgeschichte ausgerechnet – wie wir heute lesen – die menschliche Nacktheit ist: Vor Gott sind wir nackt. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.

(So rechtfertige ich einen meiner Lieblingskalauer, nämlich über die „Nacht der Kirchen“, die ich als Aktion immer zu aktionistisch und dabei banal fand und daraus im Spaß „Nackt in der Kirche“ gemacht habe, um das Blöde an ihr zu entblößen. Wenn schon Quatsch dann richtig. Und wenn ernsthaft Nacht der Kirche, dann doch wohl die Osternacht oder der Heilige Abend! Das ändert aber nichts daran, dass wir im vergangenen Jahr eine sehr schöne Nacht der Kirche auch in der Thomaskirche gefeiert haben – und nach dem Corona-Spuk auch wieder feiern werden.)

Vor Gott sind wir nackt: Damit ergeht keine Aufforderung Speckröllchen und Falten in naturistischen Paradiesgärtlein auszuführen, sondern Nacktheit zeigt Verletzlichkeit und Zartheit des menschlichen Körpers und damit zeichenhaft Abhängigkeit und Freiheit des Menschen. „Die Nacktheit als Motiv der Begegnung von Gott und Mensch symbolisiert ein sich Öffnen, ohne etwas von sich zurückzuhalten. Sie stellt die unüberbietbare Unmittelbarkeit und eine vorbehaltlose Offenheit der Beziehung von Gott und Mensch heraus.“ (Johanna Rahner, Ein nackter Gott? 2008)

Nackt sind wir, wie Gott uns schuf (zumindest galt das, solange es keine Schönheitsoperationen und Tattoostudios gab – aber das ist ein anderes Thema, vielleicht aber auch nicht.) Als Nackte kehren wir zum Schöpfungsmoment zurück und werden unserer Geschöpflichkeit gewahr, genauer als geistlich Nackte: Selig sind die geistlich Nackten, wie Jesus bekanntlich nicht sagte.

Damit könnte gemeint sein, sich aller Hüllen und Masken zu entledigen (außer der einen Maske natürlich, mit der wir in dieser Zeit unseren Nächsten lieben, indem wir ihn vor uns schützen und damit uns selbst); damit könnte gemeint sein, sich aller Hüllen und Masken zu entledigen, mit denen wir uns verkleiden und verstellen; alle Hüllen zu beseitigen, in denen wir uns sehen wollen – und eben nicht mehr wirklich sehen; damit wir uns so sehen, wie wir sind und wie wir gemeint sind – von Gott, unserem Schöpfer.

Und damit könnte ebenfalls gemeint sein, dass wir als Nackte unterschiedslos – also bis auf den kleinen, aber überschätzten Unterschied – gleiche und gleichberechtigte Menschen sind. All men are created equal; alle Menschen sind gleich – als Gleiche – geschaffen: Nackt in eine freundliche Welt hinein geschaffen.

Amen.