Predigttext für den 1. Sonntag nach Epiphanias, 10. Januar 2021

Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern. (Brief des Paulus an die Römer 12, 1-8)

„Wir werden uns am Ende eine Menge verzeihen müssen“ – hat der Gesundheitsminister am 24. April des letzten, sehr besonderen Jahres gesagt und damit plötzlich und unerwartet einen Ton getroffen, der lange nachhallt. Im zunehmend kakophonen Getöse, in dem beinahe jede Maßnahme gegen die Seuche in Ultraschallgeschwindigkeit zum Versagen, zum Fiasko, zum Debakel, zum Chaos und zum Irrsinn – was für ein Irrsinn! – geschrien und geschrieben wird, wenn sie nicht sofort und unmittelbar erfolgreich ist oder auch nur nicht von allen verstanden wird, klingt in der vielleicht auch nur beiläufig gemeinten Bemerkung eine tiefe Lebensweisheit und zentrale Wahrheit des christlichen Glaubens durch: Wir werden uns – und nicht nur am Ende – eine Menge verzeihen müssen: und wir können das auch, weil wir immer schon – wenn wir es denn wahrnehmen und wahrhaben – in einem Zusammenhang des Verzeihens und der Barmherzigkeit aufgehoben und umfangen sind: mehr noch: in ihm empfangen werden; nicht umsonst heißt einer der hebräischen Begriffe aus dem Alten Testament für Barmherzigkeit auch Mutterleib. Der barmherzige Gott ist wie die Mutter, die einem das Leben gab – oder wie der Vater, der uns verlorene Töchter und Söhne annimmt, immer wieder annimmt und uns in Barmherzigkeit verzeiht. Deshalb ist uns gesagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36)

Und deshalb rahmt der Apostel Paulus seine Gedanken zum Leben der Gemeinde mit dem Begriff der Barmherzigkeit, der immer das Verzeihen als den Verzicht auf Durchsetzung eigenen Rechts und eigener Möglichkeiten – und sei es das vermeintliche Recht sich auch mal gehörig aufzuregen – meint. Barmherzigkeit kann sogar sein, einfach mal die Klappe zu halten; meistens ist sie mehr, viel mehr: Sie räumt mir und allen anderen trotz meiner Unzulänglichkeiten und Verfehlungen und die der anderen einen Platz zu Leben ein. Alles Leben und eben auch das Gemeindeleben verdankt sich aus christlicher Sicht und aus christlichem Glauben der Gnade und der Barmherzigkeit unseres Gottes. „Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ Ohne Gnade ist nicht nur alles nichts, sondern ist überhaupt nichts.

Das ist aber nicht die Logik dieser Weltzeit, dieses Äons oder Säkulums – nicht Wesen und Form der säkularen Welt in der wir leben, weshalb das Ministerwort so herausklingt im Lärm und so funkelt im Dunkeln. In der säkularen – oder weitgehend säkularisierten – Welt gilt eigentlich das Recht des Stärkeren, der Kampf ums Dasein, das survival of the fittest, Konkurrenz und Kampf und Freiheit als Freiheit mich gegen die anderen, auch gegen die Natur und letztlich sogar gegen mich selbst durchzusetzen, kämpfend durchzusetzen.

Im Gegensatz dazu überschreibt Paulus seine Gedanken zum Leben der Gemeinde als vernünftigen, wörtlich „logischen“ Gottesdienst – also als der Logik der Barmherzigkeit folgenden Gottesdienst – und fordert seine Schwestern und Brüder, also uns, dazu auf, nicht der säkularen Logik dieser Welt zu folgen, sich nicht ihrem Schema anzupassen und uns ihr gleichzuschalten, sondern sich selbst zu ändern, zu verwandeln, eigentlich sich einer unser ganzes Selbst und Wesen verwandelnden Metamorphose (wie die Raupen zum Schmetterling) zu unterziehen, um erneuert und wie wiedergeboren dem Willen Gottes, also dem schöpferischen Gnadenwillen Gottes zu folgen und das ganze Leben zu widmen: Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Dazu hat uns Gott Gaben gegeben, Geistesgaben, nein: Gnadengaben. Paulus ersetzt ausdrücklich den damals gebräuchlicheren Begriff Geistesgaben („pneumatika“) durch seine eigene Wortschöpfung „Charismen“, um das gnadenhafte unserer Fähigkeiten und Begabungen herauszustreichen und sie nicht etwa einem überlegenen in uns wohnenden Geist zuzuschreiben. Insofern verwenden wir heutzutage den Begriff Charisma zumindest missverständlich, wenn wir ihn der besonderen, strahlenden, überlegenen Wirkung einer brillanten und dominanten Persönlichkeit anheften – die etwa alle Blicke auf sich zieht, wenn sie den Raum betritt und deren Worte uns unmittelbar treffen, erschüttern und bewegen. Solchen religiösen Geniekult hatte Paulus in Korinth kennen und ablehnen gelernt, weil er der säkularen Leistungsideologie folgt und Gemeinschaft zerstört: Schneller, höher, weiter gehört auf den Sportplatz aber nicht in die Kirche. Ihm ist wichtig, alle Gaben gleichermaßen – auch die unscheinbaren und scheinbar unbedeutenden – als Gottesgaben zu würdigen und für die Gemeinde fruchtbar zu machen – ohne Hierarchie der Gaben und der Begabten – was ja eine gewisse Relevanz und eine gehörige Brisanz für eine heutige Gemeindeorganisation und damit auch für den zweiten Programmpunkt unseres heutigen Vormittags hat.

Des Paulus Bild dafür ist das eines Körpers mit seinen Organen und Gliedern, das in der Antike weit verbreitet war und das er mit der Vorstellung des verborgenen Christus in, mit und unter den Christen – vor allem aber nicht nur! – beim Abendmahl verbindet. So wie wir alle zu Christus gehören, gehören wir alle zusammen – mit unseren Unterschieden und unterschiedlichen Gaben aber ohne Rangfolge und Hierarchie.

Dass dieses Bild gelinde gesagt zum Missbrauch einlädt, wenn nicht sogar dazu verführt, in dem es bestehende Machtverhältnisse verklärt oder verschleiert, liegt auf der Hand und ist oft bemerkt worden: Was nützt die beschworene Gleichrangigkeit den „Füßen“, wenn sie wie Fußabtreter, und was dem „Gesäß“, wenn es wie der letzte – nein, das sag ich jetzt nicht – behandelt werden. Es kommt darauf an, die behauptete Würde erfahrbar und erlebbar und damit wirklich zu machen, und die zuerst darin besteht, die jeweilige Funktion in ihrem Eigenwert zu würdigen: Was wären wir ohne unsere Füße, die uns gerade jetzt durch den Winterwald tragen können; und was – ja was? – ohne funktionierende Verdauung.

Genau darauf (also nicht auf die Darmtätigkeit sondern auf den jeweiligen Eigenwert jedes Organs im Zusammenhang des Organismus) zielen die treffenden, nur scheinbar redundanten und gerade darin subtilen, bisweilen sogar zartfühlenden Bemerkungen des Apostels: Vor allem geht es ihm darum, dass jeder das mache und so gut wie möglich mache, was ihm durch Gottes Gnade eben gut zu machen gegeben und deshalb seines Amtes ist (da kann man sich auch verdammt täuschen, vor allem auch über sich selbst!): der Tröster soll trösten, der Lehrer lehren, der Prophet Gesellschaftskritik üben und der Helfer Hilfe leisten; orientiert an der Sache selbst und an denen, auf die meine Tätigkeit zielt; nicht als Egotrip und nicht als Showbusiness, also eben nicht nach der Aufmerksamkeitsökonomie der säkularen Welt – sondern orientiert an der Gnade Gottes als Prinzip und Ziel.

Besonders überzeugen mich die drei Wendungen am Ende:

Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn: Nichts ist schlimmer als Almosen und praktische Barmherzigkeit zum Zweck der moralischen Selbstvergrößerung oder auch nur als inquisitorischen Schnüffelei der Wohlhabenden in den kargen Verhältnissen der Armen. Man hilft nur, wenn man nur helfen will.

Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig: – wörtlich steht da „mit Eifer“. Also: Sich nicht lange bitten lassen, selbst die Dinge in die Hand nehmen, Probleme sehen, das Notwendige tun – die gemeinsame Sache als die eigene begreifen. Auch da mag es Übertreibungen geben, wenn der Eifer in Eigenmächtigkeit umschlägt; also: die eigene Sache als gemeinsame Sache begreifen.

Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern; wörtlich „in Fröhlichkeit“ dessen, dem selbst Barmherzigkeit widerfahren ist.

Der Predigttext bricht an dieser Stelle ab, was schade ist, denn Paulus setzt seine Bemerkungen zum Leben der Gemeinde fort – und zwar mit dem paulinischen Großthema der Liebe, die für ihn im wesentlichen auch nichts anderes ist als eine Begabung aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit – und zwar die größte: „die Liebe aber ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13); die Liebe nämlich, die nichts für sich selbst zu sein vermag, „nicht das ihre sucht“; die nicht plattmacht und quetscht, sondern die einem anderen einen Platz einräumt; die verzichten und vieles verzeihen kann.