Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus jeder Stadt zu ihm eilten, sprach er durch ein Gleichnis: Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges an den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen’s auf. Und anderes fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. Und anderes fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten’s. Und anderes fiel auf das gute Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Da er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre! (Lukasevangelium 8, 4-8)
Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Damit sind wir aufgefordert, liebe Schwestern und Brüder, auf das Gleichnis etwas genauer zu hören, es für mehr zu halten als die Summe seiner Worte, für mehr und anderes als das Bild, das es erzeugt. Wer Ohren hat zu hören, soll etwas heraushören, etwas mithören, zwischen den Zeilen und über die bloßen Worte hinaus: er soll das Gras wachsen hören – um im Bild von der Saat zu bleiben.
Wenn es bei dem Gleichnis einfach um Saat und Säen ginge, um das Wachsen und Gedeihen, um Misserfolg und Erfolg in der Landwirtschaft, könnte man dem reichlich nachlässigen Sämann einfach zurufen, dass er doch etwas mehr Sorgfalt bei seiner Tätigkeit walten lassen sollte, sein Saatgut halt nicht auf Wege, nicht auf Felsen, nicht zwischen Dornen streuen sollte, sondern nur und ausschließlich auf das gute Land, denn nur dann kann ein Landwirt damit rechnen, das seine Saat aufgeht – wohl wissend, dass es tausend Gründe geben kann, wieso die Saat aufgeht – oder auch nicht aufgeht: schlechtes Saatgut, schlechtes Wetter, Dürre und Überschwemmung, Zerstörung und Krieg; es ist ja an sich schon ein Wunder, dass die Saat aufgeht. Bei mir im Garten wächst nur Unkraut
Das – also dass Ackerbau Kenntnisse voraussetzt und andernfalls von Stadtkindern verpfuscht (Pfusch am Ackerbau!) – werden nicht nur die zuhörenden Landwirte gewusst und dann schnell gemerkt haben, dass es um mehr und anderes geht; um was?
Die sogenannte Gleichnistheorie und die Deutung, die sich in den Evangelien anschließt (Lukas 8, 9-15), hält das Gleichnis vom Sämann für eine Allegorie auf das Wort Gottes, das nur von wenigen seiner Hörer recht gehört und aufgenommen wird. Diese Deutung unterscheidet die Bildebene – also Säen, Saat, Gedeihen oder Ungedeihen – von einer Sachebene – also Reden, Wort, Hören und Verstehen oder nicht Verstehen. Jedes einzelne Element der Bildebene wird einem Element auf der Sachebene zugeordnet: die verschiedenen Unorte, auf die der Samen fällt, stehen für verschiedene Menschengruppen, die nicht auf Gottes Wort hören, aber schließlich: „Das auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.“ (Lukas 8, 15)
Damit beschränkt eine solche allegorische Deutung den Sinn des Gleichnisses auf eine und nur eine Bedeutung. Mit dieser Beschränkung aber wird das Gleichnis zum bloßen Rätsel, das nach seiner Auflösung jeden Reiz verliert, es wird zur bloßen Illustration eines mehr oder weniger interessanten Lehrsatzes: „Nicht alle Hörer des Wortes verstehen es und folgen ihm“, das haben wir schon gewusst, wie langweilig, wie vorhersagbar, wie offensichtlich! Der Sinn des Gleichnisses wird verfehlt.
Demgegenüber ist das Gleichnis als offenes Kunstwerk zu würdigen mit zahlreichen Bedeutungen, die zwar auf eine Pointe hinauslaufen, sich aber keineswegs in einem Lehrsatz erschöpfen. Was sind das für Bedeutungen; und nochmal: Worum geht’s überhaupt?
Es geht eigentlich und vor allem – und darauf verweist auch der Hinweis im unmittelbaren Kontext („euch ist´s gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Reiches Gottes“, Lukas 8,10) – um das Kommen des Reiches Gottes, so wie es um das Reich Gottes bei allen Gleichnissen Jesu geht, die alle jeweils einzelne Aspekte und damit erst in ihrer Kombination insgesamt das Reich Gottes zur Sprache bringen: seine höhere Gerechtigkeit, seine ansteckende Fröhlichkeit, seine überfließende Gnade, sein überwältigendes Glück – „die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ (in der schon häufig zitierten Wendung des Schleiermacherfreunds Henrik Steffens).
In unserem Gleichnis vom Sämann geht es um das Kommen des Reiches Gottes, das kein Rätsel ist aber ein Geheimnis hat. Wie kommt etwas auf die Welt, dass nicht von dieser Welt ist, diese Welt aber gänzlich verändern und neu machen wird?
Unser Gleichnis beschreibt in bildlicher Redeweise, dass das Kommen des Reiches Gottes keinem Automatismus folgt, es aber einen quasi automatischen Aspekt hat; es passiert in einem Prozess, den Menschen nicht herbeiführen und nicht beschleunigen können, an dem wir Menschen aber dennoch beteiligt sind; einem Prozess, den Gott nicht als deus ex machina in einer machtvollen Aufhebung dieser Welt brachial erzwingt; einem Prozess, der bei aller Unvermeidlichkeit und Unaufhaltsamkeit dennoch vorübergehend vermieden und zeitweise aufgehalten werden kann – durch uns Menschen. Wie lässt sich das verstehen?
Eine Fülle von Deutungsaspekten klingt in unserem Gleichnis an; einige seien genannt, viel viel mehr ruhen in seiner Tiefe, ungehobene, zu hebende Schätze: Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Das schöne afrikanische Sprichwort z.B., das viele durch den jüngst verstorbenen Arzt und Autor Remo Largo kennengelernt haben: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ – soll heißen, dass es Prozesse gibt, etwa das Heranwachsen von Kindern oder eben das Reich Gottes, die geschehen einfach – also nicht unbedingt einfach, wenn man allein an die unermesslichen Qualen der Pubertät denkt; aber das mit dem Reich Gottes ist auch nicht viel leichter – und dass unser Einfluss darauf begrenzt ist, wie beim Sämann, dessen Saat aufgehen oder nicht aufgehen kann.
Oder das etwas grobschlächtigere germanische Sprichwort: „Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln“ – Ernteerfolg hat immer einen unverfügbaren Aspekt des Zufalls, der auch ungerecht sein kann; erstaunlich dass Reich-Gottes-Gleichnisse regelmäßig mit unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit kollidieren: der ungerechte Verwalter, die Arbeiter im Weinberg sind nur besonders krasse Beispiele einer höheren, der unseren widersprechenden Gerechtigkeit; völlig und letztlich steuerbar ist auch in unserem Gleichnis der Erfolg nicht – auch nicht durch Gerechtigkeitserwartungen: warum geht die Saat da auf und da nicht, gleiche Mühe und hinreichende Expertise einmal vorausgesetzt.
Oder das Weisheitswort aus der Bibel: „Der Mensch denkt und Gott lenkt“ (Sprüche 16,3), das auf zwei Ebenen ein und desselben Geschehens verweist, auf zwei Autoren derselben Aktion und der sichtbare menschliche ist nicht der effektive sondern der göttliche. So wie die im Ackerbau in Dienst genommene Kreativität der Natur sich im Glauben der zur Verfügung gestellten und doch unverfügbaren Kreativität Gottes verdankt.
Oder der Alltagsallgemeinplatz: „Unverhofft kommt oft“, der uns an Überraschungen, an Ungeplantes gewöhnen will, was ihm natürlich nicht gelingt, weil das Überraschende notwendigerweise überrascht – so wie die Saat, die mal aufgeht und mal nicht und in beiden(!) Fällen überraschtes Staunen hervorrufen kann.
Oder der wundervolle Aphorismus des großen Hessen Georg Christoph Lichtenberg (Lokalpatriotismus darf sein, zumal wir nicht so viele seines Kalibers haben): „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ Dass die Saat der Gedanken aufgeht, hängt nicht nur von guten Gedanken sondern auch von dem ab, der sie denken soll: Gute Saat, gute Bücher allein bringen nichts – sie müssen auch dort hinfallen, wo sie gedeihen können, bzw. von einem gelesen werden, der was daraus macht. Kapieren hilft schonmal – aber reicht noch nicht: die Gedanken müssen anverwandelt und zu eigen gemacht werden, wenn die Saat aufgehen soll.
Oder der berühmte Christian Drosten: Der hat in einem seiner Corona-Podcasts letzten Herbst ein Phänomen beschrieben, den „Perkolationseffekt“, mit dem erst das Durchtröpfeln und dann Durchlaufen des heißen Wassers durch den gemahlenen Filterkaffee im Kaffeefilter erklärt wird und das Drosten dann als Bild für die verzögerte Wahrnehmung der Durchseuchung von Bevölkerungsgruppen in einer Pandemie verwendet hat. Es läuft schon die ganze Zeit das Wasser in den mit Kaffee gefüllten Filter, aber zuerst kommt nichts heraus; dasselbe mit dem Seuchengeschehen: Ansteckungen passieren immer mehr und immer mehr, bleiben aber zunächst in der Masse der Menschen verborgen; dann aber irgendwann, läuft unten der Kaffee heraus, zuerst ein paar Tröpfchen dann ein anschwellendes Rinnsal, dann schießt der Kaffee hervor; oder eben auf einmal steigen die Infektionszahlen auch sichtbar und schnell an – so wie im vergangenen Spätherbst. Als Perkolationseffekt könnte man – meine ich – durchaus auch das Reich-Gottes-Geschehen begreifen, dass zunächst kaum sichtbar ist, erfolglos scheint, marginal – und dann aber plötzlich und unerwartet Erfolg hat, sichtbar wird, unübersehbar und alles verändernd.
Auch die Theologie hat Begriffe entwickelt oder von wo anders geborgt, solche merkwürdigen – nur bedingt steuerbaren, insgesamt unverfügbaren – Prozesse und diesen merkwürdigsten aller Prozesse, das Reich Gottes, zu begreifen: Der amerikanische Theologe Gordon Kaufman hat für das Handeln Gottes den Begriff „Serendipity“ vorgeschlagen, womit ursprünglich die Entdeckung von etwas gemeint ist, das man gar nicht gesucht hatte. Kaufmann verwendet ihn so: Während das Handeln Gottes ein großes und tiefes Geheimnis bleibt, zeigt sich rückschauend die Naturgeschichte und die Weltgeschichte als „serendipitous creativity“, und darin zeigt sich Gott. Genau das beschreibt Jesus in seinem Gleichnis vom Sämann, wenn das Reich Gottes als bloßer „glücklicher Zufall“ drastisch unterbestimmt wäre, weil es doch von Gott selbst hervorgebracht wird; aber von uns aus kann es wie Zufall aussehen, wenn die Saat nach zahlreichen Misserfolgen endlich doch aufgeht. Wenn es dann – plötzlich und unerwartet bzw. nicht mehr erwartet – doch noch los geht mit dem Reich Gottes, dann verdankt sich das der „Serendipity“ Gottes.
Ein anderer Theologe, Michael Welker aus Heidelberg, der uns schon hier in der Thomasgemeinde besucht hat, bringt das Geschehen des Reiches Gottes auf einen anderen Begriff: Er nennt es ein „Emergenz“-Geschehen, womit er meint, dass hier etwas passiert, was durch seine Vorgeschichte nicht determiniert aber auch nicht ohne diese verständlich ist: es taucht als etwas Neues aus dem Alten heraus auf, es emergiert: ebenfalls plötzlich und nicht erwartbar – aber dennoch nicht ohne Bezug zur Vorgeschichte. Wie unser Gleichnis erzählt: Das Reich Gottes bleibt zunächst weitgehend unverstanden und wird nicht wahrgenommen – erst zuletzt inmitten des unscheinbaren Geschehens taucht es auf, es emergiert und verändert alles. Alles klar mit dem Reich Gottes und seinem Kommen?
Bei der immer bloß relativen Treffsicherheit solcher Gedanken und der begrenzten Reichweite solcher Begriffe gelingt es nicht, das Bild vom Sämann wie auch die anderen Bilder vom Reich Gottes vollständig zu übersetzen und damit zu ersetzen. Man hat immer das Gefühl, ok, da ist was dran, dass stimmt schon: Unverfügbarkeit, Überraschung, glücklicher Zufall, höhere Gerechtigkeit, Perkolation, Serendipity und Emergenz – das beschreibt wichtige, wesentliche Teile des Kommens des Reiches Gottes. Aber es bleibt immer und insgesamt ein unübersetzter Rest. Das, liebe Schwestern und Brüder, muss uns nicht betrüben.
Bilder und Gleichnisse haben immer einen Überschuss an Bedeutung, einen Mehrwert an Sinn, der in Begriffen und Erklärungen nicht vollständig aufgeht. Dass wir das Gleichnis vom Sämann nicht einfach übersetzen können, lässt uns nämlich die Hör-Erfahrung der ersten Hörer Jesu nachvollziehen und miterleben. Ohne Übersetzer und Deuter als theologische Zwischenhändler können wir auf die Worte Jesu hören und ihre Wirkung erleben und darauf vertrauen, dass im Gleichnis das Reich Gottes als Gleichnis (Eberhard Jüngel) gegenwärtig wird: Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges an den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen’s auf. Und anderes fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. Und anderes fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten’s. Und anderes fiel auf das gute Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Da er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre!