Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Matthäusevangelium 9,9-13)
Weder Zöllner noch eigentlich Sünder, da minderjährig und also auch nur vermindert schuldfähig, aber doch eine recht gemischte Gruppe und anspruchsvolle Tafelrunde: Das sind unsere Konfirmanden auch in diesem Jahr, 12 Jugendliche (wie die Apostel!), so lebendig, energisch und liebenswürdig, wie man sie sich nur wünschen kann; aber auch so anstrengend, chaotisch und einfach laut, wie man es befürchtet hatte und sowieso schon wusste.
Konfirmandenfahrt: 110 Stunden Dauerpower, atemlos und verrückt, lustig und anarchisch; von nur kurzen Phasen des Nachtschlafs unterbrochen, aber nicht wirklich unterbrochen; um gleich wieder aufzuflammen, aufzuflackern noch vor dem Frühstück; bisweilen brennt die Luft – was sage ich – diesmal brannten sogar zum Abendbrot, zu friedlichen Hotdogs auf Sandwichgurken und Röstzwiebeln, mit Desinfektionsgel flambierte Hände lichterloh; beinahe auch die Gardinen, beinahe das ganze Häuschen im winterlich-wohligen Waldkappel in Hessisch Sibirien; nur der Geistesgegenwart, der kraftvollen Stimme und dem ebenso kraftvollen Zupacken des Pädagogen verdankt sich das Fortbestehen des Hauses und die Unversehrtheit eines ganzen Konfirmandenjahrgangs 2023. Was für ein Schrecken und was für ein Glück, dass er vorüber ging!
Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Warum isst und reist unser Meister der Jugendarbeit, Achim Hoock, mit solchen Jugendlichen und lässt sich dabei von seinem nerven- und altersschwachen Pfarrer begleiten, der offensichtlich dem pubertären Sturm nicht gewachsen ist und lieber das Weite sucht. Warum tut sich der Mann das an? Warum verteidigt er leidenschaftlich diese gefährlichen Fahrten, diese beschwerlichen Begegnungen, die durchwachten Nächte und die schwarzen Ränder um die Augen? Warum verteidigt er sie mit Leidenschaft und Eifer, dass sie das Herz seiner Arbeit und die Erfüllung seiner Berufung sind – auch und gerade in den Momenten, da die Wellen über dem Kopf zusammenschlagen und die Flammen züngeln.
Ich behaupte, aus demselben, oder zumindest aus einem sehr ähnlichen Grund, der Jesus zu den Zöllnern und Sündern führt; der Jesus sagen lässt, dass er nicht zu den Gesunden, sondern zu den Kranken zu gehen berufen ist; nicht zu den Gerechten sondern zu den Sündern. Also zu denen, denen er etwas geben kann; die ihn brauchen; bei denen seine Anwesenheit und seine Tätigkeit einen Unterschied machen, ihnen zum Segen. Nur so glaubt er, die Menschen zu erreichen – und hier ist bewusst offen gelassen, wer mit diesem er gemeint ist – nur so kann er die Menschen erreichen, sie von ihrer Berufung zum Leben mit Gott überzeugen: Heute nennen wir das Konfirmation; Jesus nannte es Nachfolge: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
Die Aufforderung zur Nachfolge wie die Einladung zur Konfirmation gewinnen an Plausibilität, wenn der Auffordernde, der Einladende, Gemeinschaft gewährt, sich auch anstrengender, schlafraubender und fordernder Gemeinschaft nicht entzieht; und in dieser Gemeinschaft Gottes Barmherzigkeit erlebbar macht: »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« zitiert Jesus den Propheten Hosea. Und Pädagoge Achim Hoock zitiert und umschreibt die Barmherzigkeit Gottes mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn: „Jeder hat bei Gott eine zweite Chance.“
Aus Angst vor einem Ausverkauf der Gnade, einer allzu billigen Gnade, kritisieren die Pharisäer Jesus, die anders als ihre historischen Vorbilder, zu ihren eigenen streberhaften und besserwisserischen Karikaturen geworden sind; gezeichnet nach dem neidischen, kleinmütigen Bruder des verlorenen Sohns. Aber so wie Gott in seinem Sohn seine Komfortzone aus Heiligkeit und Herrlichkeit verlässt, „es nicht für einen Raub hält, Gott gleich zu sein, sondern Menschengestalt annimmt“ – nötig hätte er das nicht – so sollen auch wir heraus aus den Kuschelecken – und womöglich Gummizellen – unseres Glaubens, um Gottes Gnade zu zeigen und erlebbar zu machen.
Die historischen Vorbilder unserer Pharisäerfiguren in den Jesusgeschichten hatten tatsächlich einen, wie sie sagten, „Zaun um die Tora“ gemacht; also zahllose weitere Absicherungen und Regeln gefunden und erfunden, um Gottes Gesetz zu beschützen; in Wirklichkeit, um sich abzusichern, nur ja kein Gebot zu missachten, keine Regel zu verletzen – was ja zunächst aller Ehren wert ist: Alles zu tun, damit Gottes Gebot gilt. Und dazu gehörte, dass man sich von denen, die Gottes Gebote missachtet haben oder missachten könnten, fernhielt. Wer mit Zöllnern und Sündern isst, könnte dabei selber zum Sünder werden; und wer sich mit wilden Konfirmanden gemein macht und mit ihnen auf Fahrt geht, könnte dabei seinen Auftrag von Gott aus den Augen verlieren; es geht ja nicht zuerst um Vergnügen und Spaß in der Gemeinschaft, sondern um darin Gottes Barmherzigkeit zu finden. Und es ist kaum von der Hand zu weisen, dass der Umgang mit ungezähmten Jugendlichen am eigenen Lack der Zivilisation kratzt. Also doch lieber zuhause bleiben?
Jesus hat sich bekanntlich anders als die Pharisäer entschieden, er hat keine Zäune gezogen, keine Grenzen errichtet, sondern sie überschritten; er nimmt das Risiko in Kauf, missverstanden zu werden und wurde auch missverstanden; man hat ihm Mancherlei angedichtet, ihn zum „Fresser und Weisäufer“ erklärt, der Unmoral und der Gottlosigkeit bezichtigt, und so für uns „zur Sünde gemacht“, wie der Apostel Paulus schreibt. Das hat ihn letztlich das Leben gekostet und jeder muss sich fragen, ob solche Nachfolge eine Perspektive sein soll, also dass der eigene Glaube einem selbst nicht nur wohl- sondern auch wehtun kann. Ich denke da etwa an die Narben des berühmten Jenenser Jugendpfarrers König, der die Narben seines Kampfes gegen die örtlichen Naziraudis mit Schmerz und Stolz im Gesicht trug. Die Barmherzigkeit Gottes kann sich auch im Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit zeigen.
Auch wenn nicht jeder diesen Kampf und diesen in dieser Weise kämpfen muss, gehört zum Ruf in die Nachfolge – und eben auch zur Einladung zur Konfirmation – der Hinweis zu Risiken und Nebenwirkungen des Glaubens, nämlich dass er uns etwas kosten kann, dieser Glauben; hoffentlich nicht das Leben, aber vielleicht das alte Leben. Amen.