Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach. (Evangelium des Johannes 12,12-19)
Michael Kessler, einer der ganz wenigen gebürtigen Wiesbadener, die es nach Konrad Duden und Wilhelm Dilthey und mit den Sportskanonen Jürgen Grabowski, John McEnroe und Keke Rosberg wenn nicht zu Ruhm, so doch zu einer gewissen Bekanntheit gebracht haben, geht auf einer seiner überaus unterhaltsamen Fernsehexpeditionen in den Fernen Osten Deutschlands zu Fuß mit dem Esel Elias von Berlin durch Brandenburg, Mecklenburg und Vorpommern bis an den Ostseestrand Usedoms bei Ahlbeck. (Ah, klingt wie Urlaub!) Die gewinnende, freundliche, liebenswürdige Art – und zwar beider: die des Elias und die des Michael Kessler – öffnet ihnen Türen und Herzen der Menschen auf dem Weg wie auch der Zuschauer: siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Über den langen, manchmal beschwerlichen Weg und manche Abenteuer – sie werden bei hellem Tag beklaut und einmal reißt Elias über Nacht aus – wächst ihre Freundschaft und unsere Freundschaft zu ihnen. Natürlich zeigt Esel Elias artgemäß seine Eigenwilligkeit, seine Bockigkeit – kleidet sie aber in zurückhaltende Liebenswürdigkeit, drängt sich nicht auf, dominiert nie, lässt aber durch seine Schüchternheit hindurch auch echte Zuneigung erkennen. Nichts läge ferner, ihn für einen dummen Esel zu halten. Am Ende zerreißt es nicht nur den beiden beim Abschied am Ostseestrand das Herz, sondern uns gleich mit. Abschiedsreden – nicht ganz so lang wie die des Jesus im Johannesevangelium, die sich unserer Predigttext-Szene anschließen – können den Abschiedsschmerz kaum lindern.
Esel werden unterschätzt; noch wenn sie wie der Esel Rucio des Sancho Pansa Weltliteratur schreiben, dienen sie vor allem als Kontrast und Sidekick zum stolzen Pferd – selbst zum traurig-stolzen Klepper Rosinante des noch viel traurig-stolzeren Don Quichote, des stolzen Ritters von der allertraurigsten Gestalt. Schon die Bibel, die durchaus vom hohen Wert des Esels als Nutztier und kostbarem Besitz von Nomaden weiß, denkt den Esel als Kontrast zum hohen Ross, Herrschaftssymbol und Kriegsgerät in einem, demgegenüber der Esel als Niedrigkeitssymbol und Demutsaccessoire gilt – und so ist ja auch das Eselsgeleit als spielerische Demütigung des verhinderten Samstagabendentertainers Kessler gedacht. Will ich jemanden klein machen, setze ich ihn auf einen Esel. So wie natürlich auch in unserer biblischen Szene vom Einzug in Jerusalem, die mit struppigem Esel und kreischender Menge eher eine Parodie oder die Travestie eines Königsbesuchs darstellt. Oder wollen wir uns König Charles und seine Camilla auf Eselchen zum Staatsbesuch in Berlin vorstellen? Seine Mama – Gott hab sie selig – wäre „not amused“.
Das Spannende der Einzugsszene Jesu in Jerusalem ist, dass hier ein doppelter Film abläuft – offensichtlich und verborgen zugleich: offensichtlich unter ihrem Gegenteil und verborgen vor aller Augen: der karnevaleske Zug des Bettlerkönigs in die verkehrte Welt hinein, die aber viel wahrer ist als die wahrhaft verkehrte Welt, in die der König der Welt einzieht. Der wahre König verkleidet sich als Bettler, sein stolzes Ross als Esel und sein Gefolge als Lumpenpack.
Und wir wissen schon, dass die Bretter dieses doppelten Bodens nicht halten werden, der Mordplan ist längst geschmiedet: Den Hosianna-Rufen wird das „Kreuziget ihn“ folgen. Der Bettlerkönig wird den Fluchtod am Kreuz sterben, verspottet von seinen Hassern; als was? – als Esel natürlich, wie die früheste blasphemische Karikatur gegen die Christen und ihren Heiland zeigt, das berühmte Axelamenos-Graffito aus dem zweiten Jahrhundert an der Wand der Domus Flavia auf dem Palatin in Rom: Einer betet seinen ans Kreuz genagelten Esel an. Damit ist ausgerechnet sie das die früheste erhaltene Kreuzesdarstellung der Geschichte. Das treue Eselchen folgt seinem Herrn bis in den Tod, den Tod am Kreuz. Und wir folgen den beiden nach.
Der Evangelist Johannes wäre nicht er selbst, wenn er nicht der doppelbödigen Einzugsgeschichte der 3 älteren Evangelien noch eine dritte Bedeutungsebene hinzufügen würde. Der scheinbare Triumphzug in den schändlichen Tod wird noch einen entscheidenden Schritt – ins Leben nämlich – weiterführen, angedeutet durch den auffälligen Verweis auf die wunderbare Erweckung des Lazarus aus dem Tode, der in den anderen Evangelien fehlt, wie ja die ganze Lazarusgeschichte in ihnen fehlt: Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.
Nach der Erzählung des Evangelisten Johannes hat sich die Menschenmenge gebildet, um den zu sehen und dem zu begegnen, der den Lazarus aus dem Tod ins Leben erweckt hat, dem Bezwinger des Todes, dem Herrn über Leben und Tod, für den sein eigener Tod am Kreuz nicht Erniedrigung sondern Erhöhung, nicht Vernichtung sondern Verherrlichung bedeutet, weil in seinem Tod der Tod des Todes bereitet ist. Kein Wunder, dass wir mit seinen Jüngern davorstehen wie die Esel und es nicht verstehen. Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
Nur in einem hat Johannes nicht recht behalten, dass ihm alle Welt nachliefe. Statt Jesus ins Leben zu folgen, bestehen wir auf unseren eigenen Tod, halten ihn gar für den Goldstandard eines selbstbestimmten Lebens und denken uns inzwischen allerhand Eseleien aus, ihn vor uns selbst zu verbergen. Störrisch und bockig wehren wir uns gegen das freundliche Geleit Jesu. Störrisch und bockig wehren wir uns dagegen, Christus zu tragen. Aus reiner Eselei verweigern wir die Rolle und den Dienst, die uns fürsorglich und freundlich zugedacht sind – zu unserem Wohl, zu unserem Heil. Da wäre etwas aufzuarbeiten, etwas nachzubessern, aber wie?
Und da kämen nun also eventuell doch wieder der Esel Elias ins Spiel und sein menschenfreundlicher Begleiter auf ihren Wegen zum Menschen. Man hat von Jesus als Wandercharismatiker gesprochen und so eine Art charismatische Wanderer sind die beiden, Mensch Kessler und Esel Elias in dem erwähnten harmlos freundlichen Fernsehformat eben auch. „Was ist da los?“ – ist die Frage, die viele Türen öffnet, der Esel tut den Rest; jeder wird mit einem distanzlosen aber respektvollen Du begrüßt, „ich bin der Michael“ – nicht immer wird es erwidert, macht nichts. Immer ist klar, dass das Interesse an den anderen interesselos ist, keinen eigenen Vorteil im Sinn hat, nie jemanden vorführt, nie dominieren will, keine Privilegien einfordern oder begründen will. Die anderen werden um ihrer selbst willen akzeptiert, so verschroben, skurril und merkwürdig sie auch sein mögen; jeder Esel ist anders, wie sie beinahe im Rheinland sagen, aber keiner ist keiner.
Das entspricht ungefähr, insgesamt, ziemlich genau der Haltung, die der Apostel Paulus an anderer Stelle zur Nachfolge Christi empfiehlt. „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht“ sagt der Apostel dieses Heilands zu uns (Philipper 2). Also: Geht weite Wege, mischt euch unter die Leute, aber in gegenseitigem Dienst; ohne Anspruch auf die besseren Plätze; der Platz an der Seite Jesu ist allemal gut genug. Amen.