Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Eabbi – das heißt übersetzt: Meister -, wo wirst du bleiben? Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. (Johannesevangelium 1,35-51)
Was könnte Nathanael unter dem Feigenbaum gemacht haben?
Bevor wir, liebe Schwestern und Brüder, diese Frage allzu leichtfertig als unerheblich abfertigen – auch weil sie ja nicht zu beantworten ist, da die Bibel sich nicht weiter über diesen Nathanael äußert – sollten wir für uns klären, was wir unter einem Feigenbaum machen würden; was wir unter einem Feigenbaum machen.
Also ich genieße den Schatten unter meinem Feigenbaum, den ich zusammen mit meinem Erstgeborenen vor beinahe zwanzig Jahren gepflanzt habe und der – also der Baum, nicht der Sohn – mittlerweile einen mächtigen Stamm, eine erhabene Krone und mit ihr ein dichtes, aber luftiges Blätterdach ausgebildet hat. Gerade an diesen herrlich heißen Tagen des Sommers gibt es für mich keinen besseren Ort der Hitze zu trotzen als im Schatten meines Feigenbaumes, leichtbekleidet, ein schönes Buch, ein kaltes Getränk und die freundliche Gesellschaft meiner Lieben. Das ist das Paradies!
Und besonders weit hergeholt ist das jetzt auch nicht, einen solchen Ort unterm Feigenbaum für das Paradies zu halten, wenn doch schon Adam und Eva zu Feigenblättern als Sichtschutz ihres gerade erwachten Schamgefühls gegriffen haben: „Da wurden ihnen die Augen geöffnet und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (1. Mose 3,7) Feigen im Paradies.
Und trotz der noch unterm Feigenbaum befindlichen Gefahren durch allerlei Ungeziefer – sei es die Schlange im Paradiesgarten, sei es das Krabbelgetier in meinem – bleibt der Feigenbaum das Symbol des zwar verlorenen aber einst wiederzugewinnenden Paradieses, einer paradiesischen, friedlichen Endzeit, wie es die Propheten verkünden: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3f.)
Und solange also von anderswo – aus der Ukraine und anderswo – das Kriegsgeschrei in meinen Garten hineindringt und dröhnt und dort Feigenbäume – und nicht nur die – ausgerissen, zerhackt, verstümmelt, verbrannt, vernichtet werden, weiß ich wie vorläufig und zerbrechlich mein kleiner Paradiesgarten ist, was ihn umso kostbarer macht: mein kleines Glück im Paradies als Symbol und Vorgeschmack des großen, endgültigen.
Was immer Nathanael unter seinem – ganz gewiss ebenso kostbaren, friedlichen, paradiesischen – Feigenbaum gemacht hat: es wird ihm gefallen haben, so sehr dass er auf die Störung, man habe den Heiland gefunden, reichlich unwirsch reagiert: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Was geht mich das an? So geht es uns, wenn wir die von anderen für sensationell gehaltenen Nachrichten in eigener Beschäftigung oder Muße hören: So toll wird das schon nicht sein; hab´ ich etwa den Heiland gerade gesucht? Warum sollte mich begeistern, dass man ihn – angeblich – gefunden hat? Was wir natürlich wie gesagt nicht wissen, denn vielleicht hat ja Nathanael nach gut rabbinischer Sitte unter seinem Baum in seinen Büchern nach dem Heiland geforscht. Ist er da vielleicht nicht?
Dennoch macht sich Nathanael auf – „könnte was dran sein“ – vielleicht kennt er Philippus als seriösen Freund, der nicht zu religiösen Überspanntheiten neigt, vertraut ihm; jedenfalls verlässt er den Schatten seines Feigenbaums, betritt das helle Licht des Tages, das für ihn das noch hellere Licht der Gottesbegegnung wird, was er aber noch nicht weiß. Denn er bleibt zunächst skeptisch, spürbar zurückhaltend; kontert die forsche Begrüßung Jesu – Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist, mit einer abwehrenden Frage: Woher kennst du mich? Hört er in den Worten Jesu einen falschen Ton? („Hat der etwa gerade ´Hoho, ein Prachtbursche!´ zu mir gesagt“) Fühlt er sich gar herausgefordert über seine Ambitionen, veralbert über seinen Ehrgeiz? Fühlt er sich durchschaut als jemand, der gerne ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist, sein will – es gerne wäre – womöglich nicht ist – womöglich selbst die Sorge hat, keiner zu sein? Oder spürt er schon, dass da jemand mehr sieht als andere, so dass man auch in diesem mehr sehen kann, als zunächst angenommen.
Jesus findet in einem zweiten Anlauf das Schloss zu seinem Herzen, trifft das Kennwort, das Türen öffnet – ein bisschen so wie wir uns durch Kenntnis eines höchstpersönlichen Merkmals den Zugang zu unserem Account sichern – Geburtstag meines Großvaters, Geburtsname meiner Großmutter – und nennt den Ort, an dem Philippus ihm von Jesus erzählt hatte: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Und das gewinnt den Nathanael für Jesus: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!
Auch dieses Wort beendet noch nicht das Gespräch; das zu Erkennende scheint noch nicht erkannt zu sein – weder von Nathanael noch von den Lesern der Geschichte, also uns; es geht Jesus nicht darum durch ein bloßes Wunder der Hellseherei – das kann doch jeder, der sich einigermaßen gute Informationen verschafft – erkannt und verehrt zu werden: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Vielleicht war ihm dieses Bekenntnis des Nathanael noch zu formelhaft; wohl richtig, aber eben nur richtig gesagt – noch nicht richtig verinnerlicht, geglaubt, gelebt, gefühlt, mit allen Fasern seines Seins gespürt und erlebt: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!
Nicht das Christusbekenntnis des Nathanael sondern ein Offenbarungswort dieses Christus an ihn, an uns schließt unsere Szene ab und weist gleichzeitig über sie hinaus: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. Die Berufung der Jünger – der Andreas, der Simon, der Philippus, der Nathanael und wie sie alle heißen – ist erst der Anfang einer wunderbaren Geschichte, die sich auf allererste Anfänge bezieht, auf Jakob und seinen Traum mit der Leiter und den Engeln zwischen Himmel und Erde, und diesen Traum weiterträumt auf ein letztes Ende hin, an dem Gott alles gut gemacht haben wird durch seinen Gottes- und Menschensohn, nicht nur in meinem Paradiesgärtlein, wo ich das jetzt schon ahnen kann, sondern überall und für alle Menschen. Größeres als das, gibt es nicht zu sehen.
Und wir dürfen davon erzählen, herausgelockt aus dem Schatten unseres Feigenbaumes, gesandt in die weite Welt.