Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, und der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde einige schicken aus der Versammlung des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! (Offenbarung des Johannes 3,7-13)
Ein Brief, ein Weihnachtsbrief vielleicht; die gibt’s immer noch und trotz allem – trotz Email, Whatsapp, Twitter jetzt X. Manche von uns schreiben tatsächlich noch Briefe auf Papier und die meisten freuen sich nach wie vor, wenn in diesen Tagen zwischen Rechnungen und Werbung ein wirklicher, wahrer Brief im Briefkasten steckt.
Meine Mutter – Gott hab sie selig – war eine fleißige Briefeschreiberin zu ihren Lebzeiten, was ich lange mit jugendlicher Arroganz verspottet habe, zu ausführlich, zu lang, zu langweilig waren mir ihre Schreiben. Ich wusste doch schon längst, von was sie schrieb und warum um alles in der Welt sollte sich irgendjemand dafür interessieren? Tat es aber doch offensichtlich; denn manche dieser Weihnachtsbrieffreundschaften überdauerten Jahrzehnte, ohne dass sich Absender und Adressaten sonst groß getroffen oder gesprochen hätten. Diese Briefe und Gegenbriefe haben eine soziale Verbundenheit geschaffen, denen im Unterschied zur Kommunikation heute in den sogenannten sozialen Medien ein viel intensiverer Austausch mit erheblicher höherer Verbindlichkeit und dabei in einem deutlich geschützteren Rahmen eignete. Mögliche negative Folgen durch allzu große Offenherzigkeit waren auf das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger begrenzt; selbst die Weitergabe an Dritte hätte keinen allzu großen Schaden anrichten können – völlig anders als in der modernen elektronischen Plauderei.
Und völlig anders natürlich auch als im Kontext einer Diktatur, die sich nicht nur für die großen Umsturzpläne interessiert, sondern für jede Kleinigkeit und obendrein jede Kleinigkeit zu großen Umsturzplänen aufbläst. Da lässt sich in unserer Nähe an die Verhältnisse in der DDR denken und an die Schnüffeleien der Stasi, die ja nicht nur privateste Briefe geöffnet, sondern auch noch an verdächtigen Socken geschnüffelt hat. Da lässt sich aber auch – und damit nähern wir uns langsam unserem Predigttext – an die Verhältnisse einer religiösen Minderheit in einem Gewaltstaat denken, also etwa der Christen im römischen Reich.
Zu der Zeit nämlich schreibt dieser Johannes hier, aus seinem fernen Exil an die ihm vertrauten Gemeinden im Westen der heutigen Türkei, in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea – unter den Bedingungen einer ebenfalls überall Verschwörung witternden Diktatur und dem Siegel der Verschwiegenheit. Johannes möchte Kontakt halten, möchte aufmuntern, möchte Ratschläge geben, Trost spenden und zwar, ohne dass ihn der zuständige römische Stasioffizier versteht; also verschlüsselt, verborgen, in Geheimsprache. An uns zweitausend Jahre jüngere Leser hat er dabei am wenigstens gedacht, aber wir müssen das jetzt miteinander ausbaden, dass wir nicht gleich alles verstehen: Schlüsselmeister, satanische Versammlungen, himmlisches Jerusalem – das lässt sich ja noch einigermaßen zuordnen; aber das Tier aus dem Abgrund, Schalen und Posaunen, die Frau und der Drache, der Engel mit dem Büchlein, apokalyptische Reiter, die Hure Babylon, das tausendjährige Reich, von denen es im übrigen Buch der Offenbarung nur so wimmelt – das alles ist uns fernen Lesern zunächst ein gut verschlüsselter Text, ein Buch mit sieben Siegeln, von dem ja auch im Zusammenhang die Rede ist und für das erst das rechte Gehör zu entwickeln ist: Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Unter den Bedingungen der Überwachung und Androhung von Gewalt durch die beherrschende Macht schreibt Johannes von Befreiung und Erlösung. Der anmaßenden Frechheit der Gewaltherrschaft und ihrer Macht setzt er – ebenfalls frech, aber ganz anders frech – aus einer Position völliger Machtlosigkeit die machtvolle Vision einer durch Gott herbeigeführten Herrschaft des Rechts und des Friedens entgegen, eine Hoffnung, die sich die Adressaten seiner Schreiben bewahren sollen – auch wenn sie unwahrscheinlich bis zum Irrwitz ist. Dass es besser werden kann und einst besser werden wird, diese Hoffnung sollen wir uns nicht ausreden lassen, von niemanden, auch nicht von denen in unseren Versammlungen, die sich als die unsrigen ausgeben, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Gegen solche trost- und hoffnungslosen Redner des Unglaubens hilft nur Glauben und Geduld.
Und es hilft natürlich die Abwehr der übergroßen Versuchung falscher, unhistorischer Konkretionen. Die Auslegungsgeschichte der Johannesoffenbarung hat vor allem unter solchen falschen Anwendungen und Zuordnungen gelitten, wenn nämlich ihre Bilder sozusagen frei Schnauze auf historische Konstellationen angewendet wurde, deren berüchtigtste der Missbrauch der Vorstellung eines Tausendjährigen Reiches durch die Nazis war. Johannes aber spricht zuerst in seine Zeit, und schreibt seinen Brief in seine Zeit.
Die Anknüpfungsmöglichkeit – das haben uns unsere Lehrer eingeschärft – liegt nicht in der Deutung dieses oder jenes historischen oder aktuellen Geschehens durch einzelne Motive im Buch der Offenbarung, sondern in seiner Darstellung des Glaubens: Glauben in den Verhältnissen des aggressiven Unglaubens, Hoffnung gegen alle Hoffnung, Geduld trotz Hast und Hetze.
In seiner extremen Notlage findet Johannes extreme Bilder nicht nur des liebenden und tröstenden, sondern auch des mächtigen und kämpfenden Gottes, die unsere Vorstellungskraft reichlich strapazieren – uns eben bis zum äußersten fordern. Sie sagen uns mehr als wir uns zu sagen trauen würden; sagen an, wieso die Geduld der Geduldigen nicht umsonst sein muss, und keine Einladung zur Resignation ist. Gott regiert, auch wenn alles dagegen spricht. Das ist die starke Behauptung des Johannes ohne jeden schwachen Beweis.
Und damit löst er eine der Aufgaben eines Briefeschreibers, bzw. eines Briefes ein: Uns etwas zu sagen, was wir uns selbst nicht sagen können. Das bewahrt den Brief vor der Langeweile des längst Bekannten oder ewig Gleichen. Heute jedenfalls hören und lesen wir etwas Neues, das neu bleibt, auch wenn wir es schon gelegentlich gehört haben. Amen.