Weihnachten ist die Zeit der Wunder. Wir öffnen ein Buch und lesen vom Geizhals Scrooge, der zum Menschenfreund gewandelt wird.
Wir laden uns ein Film herunter und erleben wie ein einsamer Polizist John McClane eine Terrorgruppe vermöbelt – so wie Kevin allein zu Haus oder allein in New York die beiden besonders blöden Banditen vernascht.
Wir gehen ins Theater und sehen und hören davon, wie zwei Besenbinderkinder Hans und Grete sich und viele andere in unterirdischen Höhlen gefangene Kinder – Wer Ohren hat, der höre! – aus der blutigen Hand der gar nicht so putzigen Knusperhexe mit dem putzigen Namen Rosina Leckermaul befreit: „Erlöst, befreit für alle Zeit.“
Und ich behaupte, dass der weihnachtliche Kern dieser Weihnachtsgeschichten in der Erlösung durch Liebe liegt, die uns Gott – uns und selbst allen, die von Gott nichts mehr wissen wollen – ursprünglich in die Krippe in Bethlehem hineingelegt hat. Noch die säkulare Weihnachtsreligion ist eine Erlösungsreligion und verdankt sich der Geburt Gottes in die heilige Familie.
Weihnachtswunder, Weihnachtszauber, Weihnachtsmärchen – heute Abend, und in diesen Tagen, aber ganz besonders heute Abend erleben und begehen wir den religiösen Ausnahmezustand, Gott erscheint in dieser ihm – und uns durch ihn – geweihten Nacht. Alles wird anders, wenn Gott erscheint. Heute Abend dürfen wir das, sollen wir das sogar glauben: das große Wunder von Gottes Erscheinung; sollen es für möglich halten, sollen wie die Kinder den Zauber der Heiligen Nacht nicht für umtriebigen Budenzauber und schon gar nicht für faulen Zauber halten – sondern für möglich halten. Denn als Kinder Gottes sind wir – auch wir Älteren – heute gemeint.
In einer Gesprächsrunde im Advent unter dem Titel „Winterwonderland – Wer glaubt denn noch an Wunder?“ diskutierten wir uns an die Frage heran, ob man für Wunder zu jung oder zu alt sein könnte; also umgekehrt, ob ganz junge oder doch eher sehr alte Menschen empfänglich sind für Wunder. Selbstverständlich waren die Meinungen geteilt, und während für die einen ein Mangel an Wissen den Wunderglauben begründete und damit erklärte – „Man muss unwissend genug sein, um etwas für ein Wunder zu halten“ – machten andere geltend, dass erst die lange Erfahrung in der normalen Welt für das Wunder sensibilisiere – „Man muss lebenserfahren genug sein, um Wunder überhaupt wahrzunehmen“.
Insgesamt erschien es uns sinnvoll, das Wunder – und eben auch das Weihnachtswunder – nicht auf das widernatürliche Spektakuläre zu reduzieren, sondern seine Funktion und seine Wirkung zu betrachten. Wunder wirken ganz ungeachtet der Wirklichkeit, die sich da ereignet haben mag: piepegal ob wirkliches oder scheinbares Wunder. Wunder wirken – und zwar so:
„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023).
Und er fährt fort: „Nicht von ungefähr wird das Wort theos im Griechischen ursprünglich als Prädikatsbegriff für derartige Widerfahrnisse gebraucht. Es kennzeichnet ein Ereignis das Ordnung, Struktur, Sinn, Berechenbarkeit ins Chaos der Welterfahrung bringt. Wo sich solche Ordnung im Chaos ereignet, rufen Menschen im antiken Griechenland theos, und wo das geschieht, wo sich die Welt wider alle Erwartung als kosmos erweist, muss man im Mythos reden.“ (ebd.)
Mythos in diesem Sinne – also Gottesrede, die in unserem menschlichen Chaos göttliche Ordnung schafft – Mythos in diesem Sinne, der uns an Weihnachten zur Verfügung steht, und als letzte ferne Quelle aller Weihnachtsmythen gelten kann, findet sich in der Bibel, findet sich in der Tiefe der christlichen Tradition. Der Apostel Paulus fasst diesen Mythos für uns heute so zusammen:
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott. (Galaterbrief 4,3-7)
So wie wir Weihnachten ohnehin schon immer feiern, als Familienfest, und so wie uns das die Erlösungsdramen der Kultur vorführen als Rettung und Widerherstellung der Familie – durch die Scrooges und MacLanes, die Kevins, Hänsels und Gretels und alle anderen Weihnachtshelden in ihren populären Verkleidungen auf ihren scheinbar säkularen Undercover-Missionen – genau als solches Fest der Familie ist Weihnachten von Gott gemeint: Nur eben als Fortsetzung und Steigerung in eine höhere Ordnung. Gemeinsam mit seinem Sohn, der heute zur Welt kommt, dürfen wir uns – gleich welchen Alters – als Kinder Gottes glauben und dürfen wir ihn Vater, ja Papa nennen: Abba, lieber Vater!
„Abba“ – das ist Verniedlichungsform und Kosewort, das als sprachliche Lallform die ersten Sprechversuche des Kleinkinds abbildet: Mama, Papa, Daddy, Abba. Sie setzt den intimen Beziehungszusammenhang und selbstverständliches, fragloses Vertrauen zwischen Eltern und Kind voraus, begründet nicht nur unseren Spracherwerb, nicht nur unser Denken und Fühlen – sondern überhaupt erst unseren Platz in dieser Welt.
Im Glauben an den heute – wunderlich, wundersam, wundervoll – neugeborenen Gottessohn werden wir eingeladen, unsere Gottesbeziehung nach diesem Modell Abba, lieber Vater! zu modellieren. In dem bedingungslosen Vertrauen auf den väterlichen, mütterlichen Gott liegt das wunderbare Geheimnis unserer Erlösung. Keine andere Bindung, kein äußerer Zwang – kein Gesetz in der Sprache des Paulus – kann und soll sich zwischen uns und Gott drängen. Darin liegt unsere Befreiung, unsere Erlösung.
„Erlöst, befreit für alle Zeit“ – besser als es die Kinder im Theater singen, kann es die Bibel auch nicht sagen.