Hört doch, was der Herr sagt: »Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!«
Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des Herrn, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der Herr will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen! »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der Herr dir alles Gute getan hat.«
»Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Buch des Propheten Micha 6,1-8)
Weil den Menschen aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition das gesagt ist, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott, freuen sie sich an Wort und Gesetz Gottes und feiern das jährlich in einem frohen, fröhlichen, ausgelassenen Fest, dem Fest der Freude an der Tora, Simchat Tora. Es ist gut, dass dem Menschen von Gott gesagt ist, was gut ist. Und das muss gefeiert werden.
Vor etlichen Jahren bin ich mehr oder weniger durch Zufall in dieses Fest hineingeraten, in Jerusalem im Herbst und habe das miterleben können: Ausgelassenheit und Trunkenheit, Musik auf den Straßen, Singen und Tanzen, Torarollen in die Luft gehalten und Männer in religiöser Kleidung im Kinderreigen, reine und ansteckende Freude! Freude darüber, dass gesagt ist, von Gott gesagt ist, was gut ist.
Letztes Jahr an Simchat Tora war alles anders, als ausgerechnet an diesem Tag, genau an diesem Tag die schlimmsten Feinde der Juden – aber es gibt ja so viele Judenfeinde – das Land überfielen und seine Menschen massakrierten und die Festfreude in eine Totenklage verwandelten. Die ist bis heute nicht verklungen, sondern nur umso lauter und verstörender geworden über der sich aus dem Massaker der Hamas herausentwickelnden Gewalt und Gegengewalt, der Schläge und Gegenschläge, der Kriege und Gegenkriege, die uns – als hätten wir das nötig – gezeigt haben, was böse und abgrundtief böse ist.
Und so war dieses wunderbare Fest der Freude über das Gesetz Gottes in diesem Jahr beinahe zerrissen oder beinahe erdrückt zwischen seiner Idee und der Wirklichkeit, auf die sie traf; zwischen dem Bösen, das sich zeigt, und dem Guten, was uns gesagt ist. Als vergangenen Donnerstag Simchat Torah in Jerusalem und überall, wo jüdische Menschen leben, gefeiert wurde, geschah das ausweislich der Meldungen und Berichte nur gleichsam unter einem Schleier, einer Decke der Trauer, der Unsicherheit und des Zorns – vom Iron Dome darüber, ohne den Feier und Leben in Israel angesichts der fortdauernden Angriffe gar nicht möglich wären, zu schweigen .
Und dennoch haben sich offenkundig die wenigsten von der Feier dieses Festes abhalten lassen, haben dennoch und trotz allem im Getöse des Bösen die Stimme des Guten vernommen und gehört und sich sagen lassen, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Dem kommt zu Gute, dass unser schönes Prophetenwort ja selbst aus einer Streitsituation entsteht, in einen Streit hineingesprochen ist und diesen Streit erst beendet. Ein Streit, ein Rechtstreit wird geführt, es geht um Israel – wem sonst, ist man versucht zu fragen. Seine Lebensführung wird kritisiert. Niemand ist so israelkritisch wie die Propheten des alten Israel – da können selbst die modernen Antisemiten noch etwas lernen. Und der Streit sucht sich das größte mögliche Forum, die ganze Welt, die Grundfesten der Erde, alle sollen es mitbekommen und alle bekommen es mit. Gott selbst wird als Richter angerufen und sagt als Zeuge aus. Er rekapituliert seine Geschichte der Wohltaten am Volk Israel, Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und Übereignung des neuen Landes, in dem Milch und Honig fließen. Das Land ist bekanntlich noch heute Gegenstand des Streits; und schon damals ist – grausig genug – von den eigenen Kindern als Opfer und Lösegeld die Rede. Mit ihnen zu bezahlen, ist Gottes Willen ausdrücklich nicht!
Sondern Gottes Willen an sein Volk und alle Menschen ist: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Wie so oft in einem Streit führt ein Wechsel der Perspektive weiter. Die aufeinander fixierten Konfliktparteien sollen ihren Blick heben, sollen prüfen – nicht was sie schon immer gemeint und gesagt haben – sondern, was ihr Leben trägt, wie Gott ihr Leben trägt. Aber weil einem in dem in Rede stehenden Konflikt sofort einfällt, dass hier nicht ein Zuwenig sondern ein Zuviel der Religion das eigentliche Problem sein könnte – scheint sich hier doch ein völlig irre laufender religiöser Eifer und Wahn Bahn zu brechen: Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde? – deswegen und dagegen spricht die prophetische Weisheit von der Demut vor Gott. Damit sei hier nicht Unterwerfung sondern Selbstprüfung gemeint, also eine ehrliche Antwort auf die ehrliche Frage, ob das Gott jetzt wirklich so gemeint hat, wie ich es meine. Religiöse Demut wäre dann die Haltung, die zwischen Gottes und meinem Willen zu unterscheiden vermag und sich im Zweifel für Gottes Willen entscheidet. Nicht mein sondern dein Wille geschehe!
So wenig wir im Nahostkonflikt nur Beobachter sind, bleiben wir als Leser der Propheten des Alten Testaments bloße unbeteiligte Mithörer. Das Hört doch, was der Herr sagt ist auch zu uns gesagt, wenn wir es hören und wenn wir es denn hören wollen. Herausreden gilt dann nicht. Auf Nichtwissen können wir nicht plädieren. Denn: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Genau dieses berühmte doppelte Gebot der Liebe, der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten, empfiehlt uns Jesus aus seiner jüdischen Tradition der Toralehre als Zusammenfassung des Gesetzes, ja mehr noch, als Zusammenfassung des Glaubens und der Religion, und zwar ebenfalls in der offenen Haltung des Suchens und Empfangens, was der Prophet Micha hier Demut nennt. Wissen, dass ich nicht alles weiß. Schon gar nicht besserwissen, was andere vor uns wussten und doch Gott am besten weiß. Und gleichzeitig nicht so tun, als hätte ich davon nix gehört, was Gott uns gesagt hat, was uns gesagt ist.