Predigttext für den 4. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juli 2020

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.
Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
(Brief des Apostel Paulus an die Römer 12, 17-21)

Der Apostel Paulus nimmt hier eine Idee von Jesus auf, ohne diesen wörtlich zu zitieren: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.“ (Lukasevangelium 6, 27; wobei wir natürlich nicht wissen, wie wörtlich oder wie frei Lukas Jesus zitiert, da die Jesusworte bei Matthäus noch einmal anders klingen: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ´Du sollst deinen Nächsten lieben´ [3.Mose 19,18] und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Matthäusevangelium 5, 43-45)

„Liebt eure Feinde!“ Das klingt so absurd wie es ur-christlich zu sein scheint: Wenn ich meine Feinde liebe, dann sind sie es ja gar nicht mehr! Eben drum! Es geht nicht um die Einführung einer eigentlich unmöglichen spirituellen Spezialdisziplin verbunden mit den berühmt berüchtigten Kampf- und Laufsportarten: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ (Matthäus 5,39-41 par Lukas) Es geht keineswegs um den Spaß an einer scheinbar ganz verqueren ethischen Forderung, sondern mit Ernst um das Ende von Feindschaft und Gewalt.

In der Schule gehen wir das regelmäßig durch. Da findet sich schnell Einigkeit über die Unmöglichkeit der Forderung und Entrüstung über das geforderte Handeln:

„Wenn ich dem Angreifer auf dem Schulhof oder in der Nacht in der Stadt nach einem Schlag auch noch die andere Backe hinhalte, verschlimmere ich doch die Situation (feurige Kohlen auf sein Haupt).“

„Immer nur nachgeben funktioniert nicht, dann komme ich nie zu meinem Recht.“

„Es gibt einfach Typen, mit denen man keinen Frieden halten kann.“

Stimmt alles, aber wie kann dann Gewalt begrenzt und beendet werden? Oft hilft es ja, sich der Gewalt einfach zu entziehen: man vermeidet brenzliche Situationen und schlimme Gegenden (die in Amerika-Reiseführern empfohlene Frage am Hoteltresen, in welchen Straßen man „safe“ ist, und ab wo es „unsafe“ wird, zielt darauf ab) , man wechselt die Straßenseite, man flieht (auch eine evolutionär sehr bewährte Laufdisziplin im Umgang mit Gewalttätern). Blöd nur, wenn der Angreifer schneller ist oder sich zwischendurch in andere Gegenden ausgebreitet hat. Dann brauche ich weiteren Schutz.

In modernen Gesellschaften ist der Schutz des einzelnen an Organe des Staates delegiert: Polizei und Justiz nach innen und Landesverteidung nach außen. Aber auch Polizisten und Soldaten sind fehlbare, irrtumsfähige Menschen und entwickeln darüber hinaus Eigenlogiken als waffentragende Gruppierungen. Jeder, der einigermaßen bei Trost ist, wird sofort die Notwendigkeit dieser Träger des staatlichen Gewaltmonopols einsehen. Andrerseits gehören sie wie jede staatliche Einrichtung gewissenhaft kontrolliert. Anzeigen gegen einzelne Polizisten, die sich etwas zu Schulden haben kommen lassen, sind eine Selbstverständlichkeit; Anklagen und Beschuldigungen gegen „die Polizei“ sind haltlos und falsch. Aber noch die beste Polizei bleibt eine Notlösung, indem sie zwar notwendig ist, die durch Ausbrüche von Gewalt hervorgerufene Not aber nur begrenzen und nicht beenden vermag. („Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ Barmer Theologische Erklärung 5, 1934)

Christen und Kirchen haben in ihrer Geschichte durchweg und von wenigen Ausnahmen abgesehen Staat, Polizei und das Gewaltmonopol des Staates anerkannt und wollten doch auch auf die Bergpredigt hören und Jesus folgen. Es ging darum, beides zu vereinbaren: Gewaltverzicht und Feindesliebe auf der einen Seite, die Anerkennung der Bedrohung durch Gewalt und ihre Begrenzung durch staatliche Gegengewalt auf der anderen Seite. Nicht alle Vorschläge zu ihrer Vereinbarkeit können als gelungen angesehen werden, wenn etwa die Geltung der Bergpredigt zeitlich, räumlich oder personell so eng begrenzt wurde, dass sie eigentlich gar nicht mehr galt (also z.B. nur zur Zeit Jesu oder nur in den Klostermauern oder nur im Privaten). Eher gelungen scheinen die Auslegungen, die nach dem Sinn und dem Geist der Jesusgebote fragen.

Und hier kommt Paulus ins Spiel. Er zitiert Jesus nicht wörtlich, wiederholt das „Liebet eure Feinde!“ laut und vernehmlich nicht, aber er nimmt es erkennbar auf und befragt seinen Sinn. Anders als immer wieder behauptet, zeigt sich Paulus dabei überaus lebensnah.

Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Damit erkennt der Apostel Paulus und er erkennt es an, dass mein Friedenswillen notwendig aber keineswegs hinreichend für den Frieden ist: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ (Schiller, Wilhelm Tell IV,3) Umgekehrt muss ich natürlich der Versuchung widerstehen, das als bloße Ausrede zu verwenden, dass wenn´s kracht, immer der andere Schuld ist.

Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

Es wird den jüdischen Talmud-Gelehrten Rabbi Paulus (ehemals Saulus) geschmerzt haben, dass Feindesliebe in solchen Gegensatz zu den Lehren des Alten Testaments gerückt wurde („Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ´Du sollst deinen Nächsten lieben´ [3.Mose 19,18] und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch …“ Matthäus 5,43), deshalb bemüht er sich hier und im Folgesatz um gleich zwei Schriftzitate, die zeigen, wie sehr Feindesliebe in der Fluchtlinie alttestamentlichen und jüdischen Denkens liegt: Nicht wir sollen (Gerechtigkeit wiederherstellende) Vergeltung anstreben, sondern das Gott überlassen. (Das sein Zitat vom „rächenden Gott“ seine eigenen Probleme hat, nimmt Paulus in Kauf.) Es gibt Feinde, aber Feindschaft soll nicht auch noch gepflegt und vergrößert werden.

Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Auch das zweite Schriftzitat verankert die Feindesliebe im Alten Testament und benennt darüber hinaus eine psychische Ambivalenz des Gegengewaltverzichts: Der kann auch beschämen und provozieren und im ungünstigen Fall neue Gewalt erst anstacheln. (Die „glühenden Kohlen“ können bloße Folge aber auch volle Absicht des Gewaltverzichts sein – dann als passive Aggressivität. Damit verkehrte sich die Bergpredigt in ihr Gegenteil.)

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Darum geht es: Um die Überwindung der Strukturen des Bösen, das immer neues Böses aus sich heraussetzt, sich gegenseitig bedingt und steigert („Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“ Schiller, Wallenstein – Die Piccolomini V,1; noch prägnanter: „Blood will have blood.“ Shakespeare, Macbeth III,4) Schon der – rechtmäßige und notwendige – Selbstschutz in Notwehr kann das anfängliche Böse steigern und muss daher unbedingt auf das Notwendigste begrenzt bleiben. Wer sich von seinem Gegner Gewalt als sein eigenes Handeln aufzwingen lässt, hat schon verloren. Wir müssen dem Feind die Feindschaft verweigern, da nicht mitmachen, wenn´s irgendwie geht.

Und dann ist unsere Phantasie zum Frieden gefragt. Wir brauchen Beispiele, Bilder, Geschichten des Friedens – und die müssen wir uns weitererzählen. Vielleicht hat es ja diese merkwürdigen Typen in merkwürdigen Situationen wirklich gegeben: Der eine, der sich nicht hauen wollte und deshalb auf eine Backpfeife die andere Backe hingehalten hat; die andere, der es zu blöd war, um einen Mantel zu streiten und ihn der Streitenden überlassen hat; oder die, die uns erst die Gemeinschaft aufgenötigt haben und die wir dann nicht allein gelassen haben. Vielleicht haben wir ja mal ähnliches erlebt – im Auto die Vorfahrt gewährt, die der andere gar nicht hatte; oder im Gespräch auf eine Belehrung verzichtet, die auf den zweiten Blick eh nicht nötig war.

Dem Feind die Feindschaft verweigern und aus dem Gegner – meinem „Fernsten“ – meinen Nächsten machen; das ist nicht leicht aber in meinem ganz eigenen Interesse. Verzicht auf Gegnerschaft ist ein Gewinn für mich selbst. Mir selbst geht es dann besser, wenn ich im Frieden leben kann. In den anderen den Menschen sehen, der ich auch bin; im anderen Gottes Kind erkennen; so wie Jesus das lehrt: „auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Matthäus 5,45) Mein Gegner ist auch nur ein Mensch – auch ein Mensch.

Klaus Neumann, Pfarrer