Predigttext für den 9. Sonntag nach Trinitatis, 9. August 2020

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. (Buch des Propheten Jeremia 1,4-10)

Zumutung und Ermutigung

„Du, laß dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich.

Du, laß dich nicht erschrecken
In dieser Schreckenszeit. …“

Ermutigung von Wolf Biermann. So hat Wolf Biermann gesungen, von der Ermutigung gesungen; davon gesungen, sich nicht von Furcht bestimmen zu lassen, in dem festen Vertrauen darauf, nicht alleine zu sein; und darin eben auch seinen Teil zu leisten auszureißen und einzureißen, zu zerstören und verderben und zu bauen und pflanzen; wie Biermann es mit dem ihm eigenen und nicht unbegründeten Selbstbewusstsein 25 Jahre nach dem Mauerfall im Deutschen Bundestag gesagt hat, wenn er sich selbst eine nicht geringe Rolle beim Kampf gegen den totalitären „Drachen“ DDR zumaß, den er „zersungen“ habe.

Biermann hat nicht aus christlichem Glauben gehandelt, aber sein Glauben an Gerechtigkeit hatte für ihn eine religiöse Kraft, die unwiderstehlich war, also unwiderstehlich für ihn, dass er sich ihr hätte entziehen können, aber auch unwiderstehlich für seine Gegner, die pseudokommunistische Diktatur, die ihm – dem Sänger – und ihr – seiner Kraft – letztlich nichts Wirksames entgegenhalten konnten: nicht zwölfjährige Quarantäne mit Berufsverbot, nicht das volle Stasi-Programm und auch nicht das zwangsweise Exil der Ausbürgerung.

Wo nehmen diese Leute ihre Kraft her, diese Sänger und Propheten, was ist das für eine große Kraft, sich gegen die – ungerecht – Herrschenden und gegen die – falsche – herrschende Meinung zu stellen? Wobei uns ja klar ist, dass nicht jedes Dagegenstellen berechtigt oder sinnvoll ist, das hätten die Covidioten und Verschwörungstheoretiker gern, dass man sie für Propheten hielte. Sind sie aber nicht, höchstens falsche Propheten, vor denen Jeremia gelegentlich auch warnt: Hört nicht auf die Worte der [falschen] Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch: denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen. Und nicht aus dem Mund des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es wird euch wohlgehen – und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. (Jeremia 23,16f.)

Das bloße Dagegenhalten-gegen-was-auch-immer ist es also nicht, das den Propheten auszeichnet; und andererseits auch nicht der bloße Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit; vielmehr eben beides zusammen: Weltverständnis und Mut, dieses Verständnis unter die Leute zu bringen.

Deshalb steht in der Bibel am Anfang der prophetischen Beauftragung, wie auch allgemeiner zu Beginn der Gottesbegegnung, die allerdings immer eine Beauftragung enthält, die Ermutigung des „Fürchte dich nicht!“. Sie ist nämlich auch eine Zumutung für den, der sie erlebt: Überwältigung, Erschütterung, Herausforderung, Verängstigung, Schrecken. „Was, so steht es um uns, um mich!? Und das soll ich jetzt auch noch weitersagen?! Wer wird mich hören, mir glauben?“

Als Zumutung erlebt Jeremia das, als Zumutung wird das erlebt, als ein Zu-nahe-treten, jemand tritt uns zu nahe, Gott kommt uns in seiner Begegnung und Beauftragung näher als wir uns selbst nahe sein können (wie Augustinus seine Gottesbegegnung beschreibt: deus interior intimo meo). Die von Gott ausgehende Erkenntnis der Wahrheit und die von ihm gestiftete Sehnsucht nach Gerechtigkeit sind größer und stärker als das, was ich bisher für richtig gehalten habe, und überwältigen mich. Ich kann mich nicht entziehen.

So stelle ich mir vor, was Jeremia erlebt hat und hier schildert; und so kann es auch für uns, die wir im Regelfall nicht Jeremia oder Biermann heißen und keine Propheten des Alten Testaments oder politische Sänger gegen die Diktatur sind, einen Aspekt unseres Glaubens erklären. Wenn unser Glauben mehr ist als der scheinbar fromme Überzug dessen, was wir sowieso schon immer gemeint haben, wird er dieses Moment der Überwältigung des uns nahetretenden Gottes enthalten – als Erschütterung, als Herausforderung und als Zumutung. Gott ist größer als ich selbst (Augustinus, Bekenntnisse: deus interior intimo meo et superior summo meo).

Und mit dieser Zumutung geschieht unmittelbar die Ermutigung des „Fürchte dich nicht“. Der, der mich erschreckt und erschüttert, versichert und bestätigt mich mehr als jeder andere und alles andere es könnte. Der Zumutung folgt die Ermutigung. Beide gehören zusammen, sind miteinander verschränkt.

In der Coronazeit ist ein Bibelwort besonders gehört worden: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7) Natürlich ist das alles zum Fürchten und wie sollte man nicht in dieser Zeit Angst haben – um sein Leben und das seiner Lieben. Und dennoch versichert uns Gott bei uns zu bleiben, zu uns stehen, für uns da zu sein.

Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.

Amen.