Predigttext Weihnachten 2020

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.

Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 

Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt. Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein. (Buch des Propheten Jesaja 10,1-10)

„Es ist ein Ros´ entsprungen/ aus einer Wurzel zart“ – selten hat sich eine saubere Aussprache so gelohnt: An Weihnachten geht es – zumindest metaphorisch – um Rosen und nicht um Pferde; um Sprösslinge und nicht um Rösser. Wenn hier und heute jemand herumspringt, dann sind das kleine Kinder unterm Weihnachtsbaum; oder eigentlich das eine Kind Gottes in der Weihnachtskrippe, und das springt noch nicht – weil es nämlich im wesentlichen liegt oder getragen wird im Arm der Eltern, deren Herz wir uns aber sehr wohl als vor Glück hüpfend und springend vorstellen dürfen.

Wie alle Eltern werden sie dieses unfassbare, unverdiente und unvergleichliche Glück empfunden haben über ihr neugeborenes rosiges leicht verschrumpeltes Kindlein; aber dabei kaum selbst als Eltern im Stall herumgesprungen sein, die eine vor Erschöpfung nicht und der andere aus solidarischer Erschöpfung nicht (oder auch aus der stillen Freude, nicht selbst Gebärer zu sein; wie meine Großmutter – Gott hab sie selig – gesagt haben soll: „Würden die Kerls die Kinder bekommen, wären die Menschen längst ausgestorben.“ Da könnte was dran sein; vgl. auch die einschlägigen Erkenntnisse zum „Männerschnupfen“.)

„Es ist ein Ros´ entsprungen“ – verdankt sich der prophetischen Zeile aus dem prophetischen Text des Jesaja, die und der seit jeher – also zumindest seitdem Christen über Christi Geburt nachgedacht haben, auf Jesus von Nazareth bezogen wurden, wieso ihn die Weihnachtsgeschichte in Bethlehem statt im näherliegenden Nazareth geboren sein lässt: Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Also eigentlich „Reis“ wie Reisig statt „Rose“. Also Ästchen, oder Zweiglein statt Blume; aber da wollen wir nicht zu genau hinschauen, da Genauigkeit bei der Betrachtung von Wundern diese beschädigen könnten. Ob Reis oder Ros – da sprießt etwas hervor, ein Sprössling der Familie David, uralter judäischer Adel von königlich-messianischem Geblüt, ausgewählt von Gott zum guten König über sein Volk.

Der christliche Glauben pfropft hier nichts auf oder ein zur Erschleichung eines Adelstitels, auf den Jesus zweifellos verzichten könnte, sondern um eine theologische Aussage zu veranschaulichen: Der hier gemeinte und geglaubte Christus ist der jüdische-davidische Messias, auf den Gottes Volk wartet und dessen Herrschaft in umfassender Weise ersprießlich sein wird.

Denn viel wichtiger als die Fragen der Phonetik oder der Historik oder meinetwegen der Pomologik ist hier die Theo-logik, was denn das für ein göttlicher Herrscher sei, wenn er kommt, dieser Messias und was sein messianisches Reich wäre, wenn er es aufrichtet. Ein geisterfüllter Herrscher und Messias jedenfalls, voll des Geistes des Herrn, des Geistes der Weisheit und des Verstandes, des Geistes des Rates und der Stärke, des Geistes der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.

Von allen guten Geistern angeblasen, bewegt und begleitet wird er Gottes Idee eines moralischen Universums durchsetzen, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Beides steht noch aus: Gerechtigkeit und Frieden für die ganze Welt, Schalom für Mensch und Tier, genauer sogar für jedes Blümelein und für jeden Spross; Das steht noch aus, steht nach einhelliger Meinung der Bibel noch aus, weshalb man sich über die immer nur wundern kann, die sich darüber wundern, dass und warum trotz eines gerechten und friedenbringenden Gottes noch soviel Ungerechtigkeit und Unfrieden in der Welt sei.

Der „Frieden auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“ steht noch aus, der Weihnachtsfrieden formuliert eine Zukunft, eine Utopie, aber als eine konkrete Utopie – also eine, die unser Denken und Fühlen jetzt schon bewegt, damit sich unsere Welt jetzt schon verändert, damit wir unsere Welt jetzt schon verändern. (Mit dem Begriff der konkreten Utopie bezeichnet Ernst Bloch die Hoffnung als die die Gegenwart verändernde Kraft aus den Bildern der Zukunft: „Es kommt darauf an das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.“ „Sozialutopie arbeitet als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“)

Die konkreten Zukunftsbilder, die der Prophet vor uns ausbreitet, sind dazu geeignet und haben die Kraft, unsere Gegenwart zu verändern: Frieden und Gerechtigkeit in jeder Ecke der Welt und in jedem Winkel der Natur: Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 

„Geist“ ist biblisch unter anderem die Kraft, die mich etwas von einem anderen Standpunkt als meinem eigenen aus vorstellen lässt:

  • „Geist“ lässt mich den Konflikt mit den Augen meines Gegners betrachten;
  • „Geist“ erzählt eine Geschichte aus der Perspektive der Marginalisierten, der Armen, der Frauen, der Kinder;
  • „Geist“ interessiert sich für mehr als die anthropozentrische Weltsicht sondern auch für Wölfe und Lämmer, Löwen und Nattern, Aale und Habichte, Ochsen und Esel;
  • „Geist“ schildert die Gegenwart aus dem Blickwinkel einer möglichen Zukunft.

Durch Gottes Geist – den Geist des Herrn, den Geist der Weisheit und des Verstandes, den Geist des Rates und der Stärke, den Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn – verlassen wir das Gefängnis unserer bloß eigenen Privatwelt, legen wir unsere egoistische egozentrische Befangenheit ab: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – indem du deines Nächsten Standpunkt einnimmst und seine Sichtweise ausprobierst. Damit ich nicht richte nach dem, was meine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was meine Ohren hören, sondern mit Gerechtigkeit.

Weihnachten lebt vom empathischen Geist der Utopie:

  • Himmel und Erde verbinden sich im „englischen“ Ruf – also dem Ruf des Engels – nach Frieden und Gerechtigkeit;
  • Marginalisierte werden vom Rand in die Mitte gerückt;
  • Frauen und Kinder schreiben die Geschichte – in Hütten, nicht in Palästen;
  • armselige Hirten werden königliche Herolde
  • und noch die Krippenfolklore durchbricht die gewohnte, auf Menschen fixierte Sichtweise, indem sie Ochs und Esel zum Christkind stellt und den ewigen Frieden – so wenig wahrscheinlich er uns vorkommen mag – an der Vielfalt der friedlich vereinten Arten veranschaulicht: an Wolf und Lamm, an Panther und Böcklein, an Kalb und Löwe, an Kuh und Bärin, an Löwe und Rind, an Menschenkind und Schlange. Und wir haben ökologischen Respekt und den Schutz der Artenvielfalt für neue Ideen gehalten!

Das ganze hat nur Sinn, wenn ich verstehe, dass der weite Blick in die Vergangenheit einen noch weiteren in die Zukunft gewährt – und damit – und erst damit – mich in meiner Gegenwart erreicht, damit ich sie verändere. Selten also könnte ein Lied so sehr den weihnachtlichen Sinn verfehlt haben wie das „Alle Jahre wieder“ unserer Kindheit, wenn es die jährliche Wiederkehr des ewig Gleichen besingt, und als Besitzanspruch auf Heimat im Idyll die Weihnachtsbotschaft in ihr Gegenteil verkehrt. Dagegen bleibt festzuhalten: „Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ (Ernst Bloch)

Denn das bezeichnet den eigentlichen „ernsten ausgewachsenen Feiertagsnotstand“ (ausgerufen vom unvergleichlichen Chevy Chase in seiner Weihnachtskomödienfarce „Schöne Bescherung“ aus dem Jahr 1989; unbedingt wiedersehen!), wenn ich Weihnachten für verfügbar halte, es als meinen Besitz, ja Raub erachte, auf den ich Anspruch habe und den ich nach meinem Gutdünken verhunzen kann, schepperndes Familienglück und greller Frohsinn inklusive. (Es sollen ja schon Pfarrer am Heiligen Abend in ihrer Kirche Schimpfe bekommen haben, wenn sie nicht fröhlich genug geschaut haben.)

Wenn uns dieses blöde Virus in all seiner Grausamkeit eins lehren kann, dann das: dass Weihnachten unverfügbar bleibt, es eben nicht uns gehört; dass es unseren Zugriff verweigert, es sich nicht in Besitz nehmen lässt; dass es wie ein Ross scheut und davonspringt, wenn wir ihm zu nahe treten; oder aber – als zartes Pflänzchen für uns aufblüht, wenn wir nicht darauf herumtrampeln.

Wir müssen Weihnachten in diesem Jahr anders feiern – aber wir können das auch: rücksichtsvoller, empathischer, utopischer – und in der Hoffnung, im nächsten Jahr es wieder anders, vor allem gemeinsamer feiern zu können – ohne dass doch alles einfach so wäre wie früher. Denn alles so bleiben, wie es immer schon war – das soll es ja an Weihnachten gerade nicht. Amen.