Ist das so? So sagt es der biblischen Überlieferung nach der Apostel Petrus, als ihm der jüdische Hohepriester verbieten will, über Jesus zu predigen. Petrus lässt sich den Mund nicht verbieten, beruft sich auf den göttlichen Auftrag und erzählt immer mehr und immer weiter von Jesus. Wie könnte er schweigen von dem, was ihn bewegt? Für ihn ist das klar: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Aber man muss diesen Satz nicht für immer wahr halten. Es sind genau solche Behauptungen, hinter denen sich religiöse Fanatiker verschanzen, wenn sie das Recht brechen, um dem vermeintlichen Auftrag eines Gottes zu folgen. Das hätten wir schon immer wissen können, dass auch fromme Menschen zu schlimmen Taten fähig sind; und nun erleben wir es mit Schrecken, dass religiöse Fanatiker unter Berufung auf Gott die schlimmsten Gräueltaten rechtfertigen. Auch Terroristen im Namen Gottes sagen diesen Satz: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen – aber dann ist er falsch und gefährlich. Wie die meisten solcher allgemeinen Sätze kann auch dieser richtig und falsch sein, je nach Situation und Sichtweise. Auch Martin Luther hat sich immer wieder auf Gottes Wort berufen, wenn er die seiner Meinung nach falsche Lehre der Menschen seiner Kirche kritisierte. Die Unterscheidung zwischen Gotteswort und Menschenwort zugunsten des ersten war ihm wichtig. Und in vielem, also etwa der Diagnose der groben kirchlichen Missstände seiner Zeit, wird man ihm heute über die Konfessionsgrenzen zustimmen. Bei anderem, also z.B. dem Verhältnis zu den Juden, muss man ihm ebenfalls im breiten Konsens heutzutage widersprechen. Da ist er gerade nicht Gottes Wort gefolgt, sondern dem Wort der Menschen seiner Zeit; da ist er hinter seinen eigenen bahnbrechenden Erkenntnissen aus dem Evangelium zurückgeblieben.
Was bleibt also von unserem Satz? Muss man Gott mehr gehorchen als den Menschen? Es kommt darauf an! Es kommt darauf an, dass ich verstehe, dass Gottes Wort, dem ich gehorchen will, nie anders als im Wort der Menschen da ist. Auch die Worte der Bibel sind von Menschen gedacht, gesprochen und aufgeschrieben worden. Und nur in den Worten der Menschen kann die Bibel heute lebendig werden, kann das Wort Gottes heute und neu „geschehen“. Deshalb ist es ja so schwierig – eigentlich unmöglich, außerhalb der Kirche Gottes Wort zu hören. Und es kommt darauf an, dass ich mich nicht mit Hinweis auf Gottes Auftrag gegen die Kritik meiner Mitmenschen immunisiere; oder im schlimmsten Fall Gottes Auftrag missbrauche, um anderen zu schaden. Im bloßen Streit der Meinungen halte ich mich tunlichst zurück mit dem dann nur scheinbar frommen Hinweis, Gott mehr gehorchen zu wollen als den Menschen. Nur wenn ich mir ganz sicher bin, wenn ich mir meiner Sache gewiss bin, wenn mein Gewissen spricht – nur dann kann ich mich darauf berufen, Gott gehorsam zu sein.
Das ist nun – glaube ich – die Wahrheit unseres Satzes: Wir verweisen damit auf eine höhere Instanz, nämlich das Gewissen, in dem Gott mit mir spricht. Und ich müsste darauf eingestellt sein, dass mir Gott nicht unbedingt das sagt, was ich hören will. Dem Gewissen zu folgen und darin Gott gehorsam zu sein, kann unbequem werden, kann Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Die sind dann auszuhalten, „weil es weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun“ (Martin Luther auf dem Reichstag in Worms 1521). Denn man muss Gott mehr gehorchen als sich selbst.
Klaus Neumann, Pfarrer der Thomaskirche