Zeige deine Wunde

Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben.(Johannesevangelium 20,25)

„Zeige deine Wunde“ heißt eine Installation des Künstlers Joseph Beuys aus den Jahren 1974-75, die zu ihrer Zeit große Unruhe geschaffen hat: zu irre, zu teuer, zu verstörend. Genau so muss Kunst sein! Die Installation zeigt Gegenstände aus Klinik und Pathologie und zwar jeweils paarweise. Sie verweist auf die Verletzlichkeit von uns Menschen, unsere Angewiesenheit auf jemanden, der uns liebt, und sie verweist auf die Geschichte, die den Namensgeber unserer Gemeinde bekannt gemacht hat.

Jesus zeigt dem zweifelnden Thomas seine Wunde. Dann und deshalb kann dieser an ihn glauben. Erst die Wunde, die Verletzung, die Verletzlichkeit des Menschen Jesus machen ihn glaubwürdig – für Thomas und damit für uns. Da ist einer wie wir, die wir verletzlich und verletzt leben. Die Wunde zeigt, dass Jesus nicht bloße Fiktion, nicht bloße Fantasie, keine Einbildung ist, sondern ein wirklicher Mensch, der wirkliche Mensch Jesus. So betrachtet erzählt Johannes nicht die Geschichte vom „ungläubigen Thomas“, sondern vom „wirklichen Jesus“.

Die Aufforderung des Thomas „Zeige deine Wunde“ hat seit jeher (nicht erst seit Beuys) dazu angeregt, das „Zeige deine Wunde“ zu zeigen, sozusagen als Intensiv- und Dringlichkeitsstufe der Passionsbetrachtung: Ich sehe im Thomasgeschehen nicht „nur“ den leidenden Jesus, sondern ich sehe, wie jemand den leidenden Jesus zu begreifen versucht, wie jemand deshalb mit seinen Händen in die Wunde greift, wie jemand seine Finger in die Wunde legt. Gerade die barocken Darstellungen kennen keine Scheu, uns mit dem Anblick der maximal invasiven Finger des Thomas in der Wunde des Jesus – faszinierend und erschreckend – zu verstören. So wie früher, wenn wir uns gegenseitig die blutenden Knie beim Spielen zeigten und dann – angezogen und abgeschreckt – hinschauen mussten, aber eigentlich nicht hinschauen konnten. Die Wunde zu zeigen, offenbart meine Verwundbarkeit als Mensch und weist mich damit als Mensch aus. Indem ich meine Wunde zeige, offenbare ich mich auch als Individuum, als dieser eine besondere Mensch mit dieser einen, eigenen und besonderen Wunde: Zeige deine Wunde! Worin besteht meine Verletzlichkeit, wo ist meine Schmerzgrenze, was ist meine Verwundung, die ich trage? Indem ich so frage und den anderen so fragen lasse, wird die Wunde zum Zugang zu meinem Innersten, zu dem, was mich ausmacht, zu meiner Seele. Nicht jeden geht das an, aber die, die es angeht, lernen mich kennen. Die Wunde zu zeigen, sich gegenseitig die Wunde zu zeigen, zeigen zu können, heißt Liebe, weil es das Vertrauen voraussetzt, dass dem eigenen Leiden ein Mitleiden entspricht.

Darauf – auf diesem Hineinfühlen und Mitfühlen (analog dem Fassen und Greifen der Hände) – beruhen unsere Liebesverhältnisse – zu unseren Lieben, zu Gott. Zeige deine Wunde! ist also die Aufforderung sich lieben zu lassen, seine Verletzlichkeit einem anderen anzuvertrauen, seine Verletzung zur Öffnung zum Innersten seiner selbst zu machen, sich zu offenbaren. Deshalb zeigt Jesus seine Wunden und deshalb müssen wir in der Nachfolge Jesu unsere eigenen Wunden nicht verbergen.

Klaus Neumann, Thomasgemeinde