Predigttext für den 29. März 2020, Sonntag Judica, 5. Sonntag in der Passionszeit

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Brief an die Hebräer 13,12-14)

Es ist nicht einfach; nicht im richtigen Leben und das Bibelwort für den heutigen Sonntag ist auch nicht einfach – dazu gleich mehr. Am dritten Sonntag in der Corona-Quarantäne haben wir uns an vieles gewöhnt, an das man sich eigentlich nicht gewöhnen kann: vor allem, dass wir andere Menschen zu meiden haben; Nächstenliebe als Entfernung von meinem Nächsten zu üben; als soziales Wesen sich sozial distanzieren. Außerdem: Das Leben der Gesunden liegt lahm und das Leben der mit Krankheit infizierten ist bedroht. Unglaublich was die Ärztinnen und Pfleger jetzt zu leisten haben. Ich bin meinem Hausarzt auch sonst in normalen Zeiten dankbar aber jetzt tun sie, die Hausärzte, die Sprechstundehilfen viel mehr, als man von ihnen verlangen oder erwarten könnte: Sie riskieren ihr Leben für das ihrer Patienten, für meins. Als Risikopatient mit Erkältung habe ich mich testen lassen müssen in der vergangenen Woche, habe sofort einen Termin bekommen, muss nun warten auf das Ergebnis. Solange bin ich in freiwilliger Quarantäne „draußen vor dem Tor“, „vor dem Lager“; bin lahmgelegt mit so vielen anderen, lahmgelegt wie Kranke das ja immer sind, aber doch anders.

Es ist nicht einfach – auch das Bibelwort für den heutigen Sonntag ist nicht einfach, der Brief an die Hebräer ist ja nie einfach. Er versucht seine christliche Botschaft für Menschen in der jüdischen Tradition verständlich zu machen, mit zahlreichen Bezugnahmen auf das Alte Testament, auf den frühjüdischen Kult, auf Vorstellungen von Volk Gottes und priesterlichen Opfern, Vorstellungen, die wir nicht teilen, die uns fremd sind. So auch hier: Wenn von Jesu Blut die Rede ist, also von ihm als Priester und Opfer in einem, dann soll uns das eine symbolische Bedeutung haben, die uns aber verfehlt und nichts sagt, weil uns die beispielgebenden blutigen Opfer im Tempel nichts mehr sagen und der jüdischen Religion seit zweitausend Jahren ebenfalls nichts mehr sagen, weil sie ihr ebenso lange fehlen. Die Pointe an unserer Stelle, so die Experten, ist, dass Jesus „draußen vor dem Tor gelitten“ habe, „vor dem Lager“, also außerhalb der gesellschaftlichen Normalität, außerhalb der Gesellschaft und ihrer Religion, aus der er kommt. Dorthin sollen wir ihm folgen. Von dort, von draußen ergibt sich eine andere Sichtweise auf das Gewohnte.

Und damit scheint auch dieser Predigttext aus der Bibel (wie an den vergangenen Corona-Sonntagen) direkt ins Leben und in unsere Situation zu treffen. Denn genau diesen Blick von außen – von „draußen vor dem Tor“, „vor dem Lager“ – auf das Gewohnte, auf unser normales Leben zwingt uns die Quarantäne-Situation auf. Lahmgelegt, ruhiggestellt, von außerhalb (auch wenn dieses „außen“ paradoxerweise das Innere unseres Zuhauses ist, in dem wir bleiben sollen) schauen wir auf Leben und Gesellschaft, wie auch sonst, wenn wir krank sind oder Genesende sind, nur dass diesmal alle oder zumindest fast alle in derselben Lage sind. Dieser durch die Seuche aufgezwungene, neue Blick auf unser Leben, lädt ein, dieses Leben besser zu verstehen. Auch darin folgen wir unserem Bibelwort, das in einer im griechischen Original überaus kunstvollen Wendung (die in der Übersetzung verloren geht) die Überlegung weiterführt: Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Spätestens „draußen vor dem Tor, vor dem Lager“, also von außerhalb des normalen Lebens ergibt sich ein klarer Blick auf einen sehr grundsätzlichen Umstand unseres menschlichen Lebens: Alle Menschen sind sterblich, keiner wird hier bleiben. Die Sterblichkeit von Menschen liegt bei genau 100%. Damit sei kein Widerspruch zu der medizinischen und in Seuchenzeiten sehr relevanten Verwendung des Begriffs Sterblichkeit gemeint, der die (vorzeitige) Sterbeursache benennt, also etwa, dass mit einer erhöhten Sterblichkeit von soundsoviel Prozent durch das neuartige Coronavirus zu rechnen ist – obwohl doch auch die Überlebenden sterblich bleiben und sterben werden. Diese nur scheinbare und eigentlich offensichtliche sprachliche Ungenauigkeit in der Medizin, macht sie durch eine schöne Worterfindung zum selben Thema mehr als wett: PYLL (potential years of life lost), was man mit „Verlorene Lebensjahre“ übersetzen kann (alles nachzulesen auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts rki.de, auf der man in dieser Zeit viel Zeit verbringen kann). Der Zusammenhang beider Sterblichkeitsbegriffe liegt in der Wertschätzung unseres begrenzten Lebens. Das ist so kostbar, dass alles zu seiner Erhaltung zu tun ist. Das ist so kostbar, weil es zu Ende gehen wird. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt.

Unser Bibelwort – wie der christliche Glauben – bleibt nicht bei diesem „Memento mori“ („Sei dir der Sterblichkeit bewusst“) stehen, sondern setzt es fort: sondern die zukünftige suchen wir! Damit wird der natürlichen Sterblichkeit der Menschen durchaus nicht einfach eine Unsterblichkeit durch Gott entgegengesetzt, so wenig etwa das Abendmahl, auf das wir gegenwärtig verzichten müssen, eine Unsterblichkeitsmedizin ist, obwohl es im Überschwang gelegentlich so genannt wurde (griechisch: „pharmakon athanasias“). Menschen sind und bleiben sterblich, aber wir, die wir daran glauben, haben eine Zukunft über das Sterben hinaus bei Gott. Vorösterlich wird das hier korrekt als „Suchen, Streben, Begehren“ bezeichnet – im Glauben nämlich, solange wir hier auf Erden leben. Wir „haben“ die Zukunft bei Gott im Glauben – und nicht so, wie wir hoffentlich bald ein Mittel gegen die neue Seuche haben werden, welches die Sterblichkeit verringern, uns aber – das muss uns nicht enttäuschen! – keineswegs unsterblich machen wird. Selbst die hoffentlich baldige Entdeckung eines Mittels, eines Impfstoffes gegen Covid-19 lässt uns Menschen 100% sterblich bleiben!

Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Auch an diesem dritten und in jeder Weise – auch theologisch – herausforderndem Corona-Sonntag richtet uns das Bibelwort den Blick nach vorne. Der Zeitpunkt für eine Rückkehr in unser normales Leben ist ungewiss, nicht aber, dass wir – und zwar die allermeisten von uns – in ein normales Leben zurückkehren werden: tutto andrá bene! „Alles wird gut“, wie unsere italienischen Freunde sich und uns in dieser schlimmen Zeit grüßen. Sogar davon scheint unser biblischer Autor zu wissen, wenn er nur weniger Zeilen später schreibt: Es grüßen euch die Brüder und Schwestern aus Italien. (Brief an die Hebräer 13, 24.)

Klaus Neumann, Pfarrer