Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat. (Markusevangelium 14,3-9)
Wie gelähmt sitzen wir unter der Quarantäne, die ganze Welt steht still, das Leben ist unterbrochen; aber nicht heilsam unterbrochen, wenn Fest und Feier, auch gottesdienstliche Feiern unseren Alltag heilsam unterbrechen; sondern lähmend, erstarrend, erstarrt: Stillstand, Lockdown. Nur die Seuche rast, das Virus rast um die Welt; bringt alles in Unordnung, heillose Unordnung, zerbricht Ordnungen und Gewissheiten, bringt Großmächte ins Wanken, scheint die Welt in das voranfängliche Chaos zurückzustürzen. In den Erfahrungsberichten der italienischen Ärzte ist von Danteschen Szenen die Rede, vom Inferno; und wir können das irgendwie nachvollziehen, wenn wir die Bilder aus Bergamo, aus Madrid, aus New York sehen. Wir erleben live in Amerika wie politische Idiotie Menschen, eine Gesellschaft ins Unglück stürzt, leiden da mit, denn die betroffenen Orte gehören als Urlaubsziele, als Studienorte und Arbeitsplätze längst zur Lebenswelt von so vielen von uns; wir leiden da mit und hoffen doch, dass vernünftige Regierung bei uns und anderswo dazu beitragen möge, das Schlimmste zu verhindern. Vieles zerbricht heillos, wird es Heilung geben?
Unter der ungeheuren Wucht der Eindrücke könnte sogar der Bibeltext zerdrückt werden, zerbrechen, auch unserer heute. Es könnte sein, dass wir in ihm keine Deutung unserer Situation finden, allein schon deshalb, weil wir eine Deutung nicht suchen; etwa weil wir Religion für ein Hobby und einen Zeitvertreib hielten, nix Ernstes eben, so dass sie zu schweigen hätte in einer richtig ernsten Situation wie dieser, was unsere Kirche merkwürdigerweise auch von sich aus weitgehend tut, nämlich schweigen (man kann ja auch laut und schrill schweigen via Internet oder durchs Fernsehen), anstatt auch dieser extremen Situation eine Deutung aus der Bibel zu geben. (Das muss keineswegs die Deutung sein, die dieser Prediger, bzw. in diesen Zeiten der „Predigttexter“ gefunden hat! Auch und gerade in der Auseinandersetzung und im Streit mit der angebotenen Deutung lässt sich eine eigene finden.)
Auch in unserem Text zerbricht etwas; in heilloser Weise für die Jünger, heilvoll, sinnstiftend dagegen nach den Worten Jesu. Das zerbrochene Gefäß, das verschüttete Öl sollen mit Jesus nicht als Verschwendung und Verlust gedeutet werden, sondern als Zeichen von etwas Neuem von Gott her. In einigen Tagen, am Karfreitag, wird genau das unser Thema sein: Wie kann im gebrochenen, zerbrochenen Leben Jesu Sinn zu sehen und Heil zu finden sein? Dieser Frage setzen wir uns mindestens jährlich und spätestens in der heute beginnenden Karwoche aus, aber eigentlich ja immer. Als sterbliche Menschen haben wir unsere Sterblichkeit zu bewältigen – und nicht nur dann, wenn sie uns religiös in der Karwoche beschäftigt oder in diesen Wochen durch eine Seuche hart bedrängt.
Wie soll das gehen: Sterblichkeit bewältigen oder im Tod Jesu einen Sinn sehen? Etwas vereinfacht gesagt bietet der christliche Glaube dafür an, unser Leben als von Gott gegeben zu verstehen. Dieses Leben wird auch wieder von Gott zurückgenommen: „Leben oder Sterben wir, so sind wir des Herrn“ sagt der Apostel Paulus. Das zerbrechende und dennoch von Gott gehaltene Leben Jesu soll uns zeigen, dass auch wir zerbrechliche Menschen von Gott gehalten sind und gehalten werden. Wir sind das Gott wert.
In unserer Geschichte heute liegt die Pointe auf dem unkalkulierbaren Wert und der absoluten Kostbarkeit des Lebens des Menschen Jesus wie jedes Menschenlebens. Selbst das schönste Gefäß, das teuerste Öl steht in keinem Verhältnis zum Wert eines Menschenlebens, nicht obwohl dieses Leben zerbrechlich ist, sondern weil es zerbrechen wird, allzu bald: mich aber habt ihr nicht allezeit. Ein Berechnen menschlichen Werts wird zurückgewiesen und damit das ökonomische Paradigma der Weltdeutung, nach dem angeblich alles einen berechenbaren und dann eben auch verrechenbaren Wert hätte, auch menschliches Leben.
Damit erweist sich die Bibel erneut als aussagefähig für unsere Situation: Ein Abwägen menschlichen Werts ist zurückzuweisen, gerade wenn es etwas kostet, selbst in der größten Not. Jedes Leben verdient den zu seiner Erhaltung nötigen Einsatz (wohl wissend das jedes Leben zu seiner Zeit zu Ende geht). Im übrigen gilt das andere: Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun. Solidarität mit den Schwächeren ist die menschliche Antwort darauf, dass Gott jedes Leben für kostbar und wertvoll erachtet und uns jedes Menschenleben für kostbar und wertvoll zu erachten nahelegt. Wir können das zeigen, was wir glauben, indem wir uns gegenseitig helfen und ganz besonders denen, die sich nicht selbst helfen können.
Klaus Neumann, Pfarrer