Predigttext für den 3. Sonntag nach Trinitatis, 28. Juni 2020

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast. (Buch des Propheten Micha 7, 18-20)

Vorzeiten, also zur Zeit des Propheten Micha – vielleicht vor gut zweieinhalbtausend Jahren – konnte man davon ausgehen, dass etwas in die Tiefen des Meeres hineingeworfen verschwunden und dann für immer weg ist.

Wir Heutigen wissen, dass das nicht der Fall ist, denn wir haben es blödsinnigerweise ausprobiert und fahrlässig in Kauf genommen, dass wir unseren ganzen Müll ins Meer gekippt haben und noch immer hineinkippen. Weg ist der dann gerade nicht. Zigtonnenweise Plastik, Giftmüll, Dünnsäure, Öl, Schrott – der ganze Mist, den wir produzieren, landet zu großen Teilen im Meer. Weg ist der nicht.

Auf meiner Lieblingsinsel in der Ostsee wird immer mal wieder gefährliches Gift aus Waffenschrott, den wir Deutsche am Ende des Zweiten Weltkriegs ins Meer geschmissen haben, angespült. Ich habe zwar noch nie was davon gesehen, aber es ist ein unangenehmes Gefühl, dem Zeug begegnen zu können. Es soll echt ätzend sein.

Das passt nicht zusammen: Müll im Idyll, Meer und Strand und dann gefährlicher Abfall. Für uns Urlauber passt das nicht, aber für die, die dort im Meer wohnen schon gar nicht: für Fische und Wale und Meeresschildkröten und Robben und Krebse und Seepferdchen passt das nicht und immer wieder gehen sie daran zugrunde und werden angeschwemmt mit kiloweise Müll im Bauch – wobei bei einem Seepferdchen schon ein paar Mikrogramm Plastikmüll reichen. Weg ist der Müll nicht, wenn man ihn ins Meer schmeißt.

Und eigentlich hat man das auch schon in biblischer Zeit gewusst, dass Fische und andere Meerestiere, das, was ins Meer geworfen wird, aufschnappen und sogar an Land zurück bringen können. Jona hat davon profitiert, wurde im Bauch des Wals gerettet und von ihm ans Ufer gespuckt. Oder Petrus, der den Steuergroschen im Fischmaul findet. Das, was ins Meer geworfen wird, ist nicht weg.

Und so könnte man auch fragen, ob unsere Sünden, die Gott in die Tiefen des Meeres wirft, wirklich weg sind. Mehr noch: Man kann fragen, ob man sie sich weg wünschen soll. Denn böse Taten haben ja folgen, wir haben da was angerichtet, anderen weh getan, die Natur geschädigt, uns selbst damit auch. Da kann man ja nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen; ab ins Meer und Augen zu und womöglich weiter so wie bisher. Wer kann sich das wünschen? Wahrscheinlich ist doch eher, dass das irgendwann wieder an Land gespült oder an den Strand gespuckt wird: unsere Verfehlungen und Versäumnisse, unsere Vergehen und unsere Verbrechen. Verdrängtes kehrt wieder. Und dass es sich dann rächt, dass wir da nichts aufgearbeitet und aktiv wieder gut gemacht haben, so gut es eben geht.

Vielleicht meint es Gott zu gut mit uns hier, oder der Prophet Micha meint bloß, dass es Gott so gut mit uns meint. Könnte er sich mit seiner Idee der alles zudeckenden Gnade irren? (Micha natürlich, Gott irrt sich nicht, oder doch? Kann Gott sich irren? „Da reute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden“ leitet die Sintflutgeschichte ein, als Gott alles und wirklich alles – Sünde mitsamt den Sündern – ins Meer versenkt [1. Mose 6,6] und nach überstandener Katastrophe abermals sein Handeln bereut: „Ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.“ [1. Mose 8,21] Von Gottes Reue ist öfter die Rede. Irrt wer reut? Und ist das überhaupt anders denkbar, wenn Menschen echte Freiheit haben, dass sie dann so handeln, dass auch Gott als irrtumsfähig aber auch als fähig, sich selbst zu korrigieren, gedacht werden muss? Erarre divinum est?! Wäre dann Gottes Weisheit und Allwissenheit als gerade die Fähigkeit zu verstehen, einen Irrtum einzusehen und sich selbst zu korrigieren? Könnten wir ihn uns dann nicht für unser Handeln zum Vorbild nehmen?) Auch der Prophet Micha rechnet im Wesentlichen mit einem strafenden Gott (vgl. die Kapitel 1-6 seines Buches) und hofft dennoch, dass am Ende nicht Fluch sondern Segen das entscheidende Handeln Gottes sei, nicht Strafe sondern Gnade. Welche Gnade?

Der Prophet einer anderen Situation, Dietrich Bonhoeffer (dessen 75. Todesjahr in dieser Corona-Zeit viel zu wenig gewürdigt wird und unterzugehen droht), unterscheidet billige und teure Gnade. Billige Gnade, also die vom theologischen Grabbeltisch oder vom Glaubens-Discounter sozusagen, ist zu billig, weil sie uns nicht verändert, weil sie uns eigentlich in unseren Sünden lässt. Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Das könnte auch für Gottes Gnade gelten, wenn wir sie falsch verstehen. („Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, daß die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Auf die gezahlte Rechnung hin ist alles umsonst zu haben. Unendlich groß sind die aufgebrachten Kosten, unendlich groß daher auch die Möglichkeiten des Gebrauchs und der Verschwendung. Was wäre auch Gnade, die nicht billige Gnade ist? Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. Die Kirche dieser Gnadenlehre ist durch sie schon der Gnade teilhaftig. In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. Billige Gnade ist darum Leugnung des lebendigen Wortes Gottes, Leugnung der Menschwerdung des Wortes Gottes. Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders.“ Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge 1937)

Man muss dem Propheten Micha nicht unterstellen, dass er uns Gottes Gnade zu billig verkaufen will, sondern wir selbst müssen uns hüten, den Preis für Gottes Gnade zu drücken. Wenn etwas zu billig wird, verlieren wir den Respekt davor. Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Es gibt einen fairen Preis für die meisten Dinge. Das gilt auch für die Gnade Gottes (wie übrigens für Schweinefleisch. Geiz ist nicht geil, sondern garstig und grausam, grausam gegenüber Tier und Mensch. Das hätten wir schon längst wissen können [vgl. Upton Sinclair, The Jungle von 1906 über die Zustände in den Schlachtbetrieben in Chicago] und jetzt muss es jeder wissen. Wir sollten jedenfalls nicht damit rechnen, dass Gottes Gnade unsere Verantwortung für die Misshandlung von Mensch und Tier in der Fleischindustrie zudeckt und in die Tiefen des Meeres wirft.)

Aber widerspricht das nicht dem Begriff der Gnade, wenn ich sie mir durch mein Tun verdienen muss? Irgendwie schon. Umgekehrt verhöhnt es Gott, wenn ich seiner Gnade nicht durch meine Umkehr begegne. Ich schlage Gottes Gnade ja aus, wenn ich zwar seine Wohltat entgegennehme aber seinen Willen missachte. Gnade lebt davon, angenommen zu werden.

Am Beispiel der Corona-Krise lässt sich das verdeutlichen: Wir hier werden in der überwiegenden Mehrheit relativ und einigermaßen unbehelligt aus der Krise herauskommen. Diese Gnade, die die weitaus meisten erleben und erleben werden, sollten wir aber nicht als unser Recht und schon gar nicht als unser Verdienst ansehen (und schon überhaupt gar nicht als Beleg dafür, dass „die Virus-Gefahr überschätzt wurde“ wie die Blöd-Zeitung in unüberbietbarer Idiotie diese Woche titelt). Weder können wir hier etwas für das Glück zu überleben, noch können die Menschen in Bergamo, in Madrid, in New York und jetzt in Brasilien etwas dafür, die massenhaft sterben. Aber wir können und sollen danach sehen, was wir verändern müssen, um solche Seuchen zu verhindern oder zumindest ihre katastrophalen Folgen für so viele zu verhindern. (Und selbstverständlich gilt dasselbe – vielleicht noch dringlicher – für die drohende Klimakatastrophe!) Wir sollen und müssen in dem Geschehen den prophetischen Ruf zur Umkehr hören: Kehrt um! Wie es der Täufer Johannes, den wir in der vergangenen Woche gefeiert haben, in Tradition der Propheten wie Micha uns zuruft. Kehrt um! Prüft euer Handeln! Ändert euer Leben!

Gottes Gnade bezeichnet kein: Weiter so! sondern eine zweite Chance (oder eine dritte, vierte, siebte oder von mir aus siebenundsiebzigste – nein siebenmahl siebzigste – Chance, Matthäus 18,22), unser Leben so zu ändern, einzurichten, dass es der Gnade Gottes entspricht: Dass ich das zeige, an meinem Leben zeige, dass mir das Leben von Gott geschenkt ist; Dass ich zeige, an meinem Leben zeige und damit anerkenne, dass mich Gott wunderbar gemacht hat – und alle anderen auch, und alles andere auch; Dass Gott nicht einfach meine Sünde bedeckt oder in den Tiefen des Meeres versenkt, sondern mir tragen hilft; Dass er mir hilft, mein Leben zu verändern.

Wenn es nicht so katholisch klingen würde, könnte man sagen, dass die Gnade Gottes Hilfe zur Selbsthilfe ist. Trotzdem stimmt das. (Auch Katholiken irren nicht immer! Und Recht-haben-wollen ist nicht der edelste Charakterzug der Evangelischen – selbst wenn sie mal recht haben sollten!) Nur dass die Selbsthilfe – also die Umkehr zum gottgefälligen Leben – immer und in jedem Moment aus Gnade geschieht, das wäre festzuhalten! Sie – die Gnade – ist gleichzeitig Treibstoff und Kompass unserer Umkehr ins Leben.

Aber gehen müssen wir schon selbst. Amen.