Predigttext für den 13. Sonntag nach Trinitatis, 6. September 2020

In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam. (Apostelgeschichte 6, 1-7)

Das hört sich doch ganz vernünftig an: Ein Mangel wird festgestellt, Helfer werden beauftragt, die tägliche Versorgung von Bedürftigen, insbesondere von Witwen wird sichergestellt, ein Mangel wird behoben. Später wird man sie Diakone nennen. Und obendrein noch werden viele Priester dem Glauben gehorsam. Glaubensgehorsame Geistliche: was will man mehr? So weit, so gut. Darüber lässt sich reden. Darüber könnte man heute reden.

In den Auslegungen unserer Stelle heißt es, dass Lukas (der Autor der Apostelgeschichte und des nach ihm benannten Evangeliums) hier mit der Erwähnung der griechischstämmigen Gemeindeleiter (erkennbar an den griechischen und eben nicht hebräischen Namen) den unterschiedlichen Strömungen im frühen Christentum Rechnung trägt und auch die Konflikte unter ihnen zeigt; dass hier die „Griechen“ durch die apostolische Handauflegung aufgewertet und gleichzeitig durch ihre Bestellung zum bloßen „Tischdienst“ abgewertet werden, um dann im römischen System irgendwann als bloße „Diakone“ (da steckt das hier verwendete griechische Wort für Dienst drin) zu gelten – deutlich unterhalb der „Priester“; und dass sich hier schon der Konflikt zwischen dem Jerusalemer Petrus und dem mit der Heidenmission beauftragten Paulus abzeichnet (später zugespitzt im sogenannten „Antiochenischen Zwischenfall“: „Als aber Kephas [Petrus] nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn.“ [Galater 2,11] Paulus wirft Petrus nicht weniger als einen Verstoß gegen die „Wahrheit des Evangeliums“ vor. Von den Aposteln lernen, heißt streiten lernen.) So weit, so interessant. Auch darüber kann man predigen.

Mich interessiert heute etwas anderes: In weit größerem Maße als eine paradigmatische pragmatische Problemlösung oder eine historische Einordnung verdient ein anderes Thema des Textes unsere Aufmerksamkeit, nämlich der geradezu absurde Fall von Diskriminierung, der hier vorliegt und der so offensichtlich und dabei als so selbstverständlich geschildert wird, ohne ihn überhaupt anzusprechen, dass man ihn leicht „übersieht“ – wie die griechischen Witwen „übersehen“ werde. – Alltagsdiskriminierung könnte man dazu sagen in Anlehnung eines großartigen Buches der Journalistin Alice Hasters, das den alltäglichen Rassismus in unserer Gesellschaft beschreibt – und anklagt (Alice Hasters, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, München 2019).

Hasters schildert alltägliche Situationen, in denen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und damit aufgrund ihrer unterstellten möglichen anderen Herkunft und Kultur – ihrer „Rasse“ -diskriminiert werden. Allein schon die Frage an einen dunkelhäutigen oder asiatisch aussehenden Menschen nach seiner Herkunft – „Woher kommen Sie denn?“ – kann ausschließen, kann abwerten – insbesondere wenn sie eigentlich nichts zur Sache tut, wenn sie keinem erkennbaren Interesse an der anderen Person folgt, sondern einer bei einer ersten Begegnung unziemlichen Neugier entspringt, oder dem Gefühl, dass hier jemand ist, der da nicht hingehört. Hasters schildert Gelegenheiten, die wir – vermutlich alle von uns kennen – allerdings in der anderen Perspektive und Zielrichtung und also kaum als selbst Betroffene kennen und erlebt haben. Aber ich wette, die meisten kennen solche Szenen.

Ich erinnere mich an eine im Stadtbus hier in Wiesbaden von vor vielen Jahren, die sich mir eingeprägt hat, als Jugendlicher noch, als eine freundliche ältere Dame ein dunkelhäutiges Schulmädchen im Bus nach ihrer Herkunft fragte und das bestimmt nicht böse oder ablehnend sondern auf ihre Art freundlich meinte. Interesse an anderen ist ja eigentlich noch nichts Schlimmes: „Na, Wo kommst Du denn her?“ Das Mädchen verstand nicht gleich, worauf die Frage zielte, und nannte ihren Geburtsort irgendwo im Rhein-Main-Gebiet, worauf die Dame – nun schon etwas irritiert und dabei noch irritierender – nachfragte: „wo denn ursprünglich her“, und „woher die Eltern?“ Das war jetzt eindeutig unpassend – Was ging sie das an? Warum will sie das wissen? – auch für uns Mitfahrende unpassend, die das mitbekommen hatten, aber noch viel mehr für das Mädchen selbst, das trotz aller Irritation auch darauf antwortete und sagte, dass die Eltern auch aus diesem Ort kämen – und das glücklicherweise an der nächsten Haltestelle den Bus verlassen konnte. Auch dem Jugendlichen von vor 50 Jahren war klar, dass diese Szene improvisierter Ahnenforschung am „exotischen Objekt“ unangemessen war. Das gehört sich nicht. Aber geholfen, beigestanden haben wir anderen dem Mädchen auch nicht. Gar nicht so einfach – obwohl es doch eigentlich ganz einfach ist.

Diskriminierung – also wertende, abwertende Unterscheidung (die ursprüngliche Wortbedeutung „Diskriminierung=Unterscheidung“ hat erst im Alltagsgebrauch diese wertende und abwertende Bedeutung angenommen) aufgrund von äußerlichen Merkmalen ist ein Unrecht, das beide beschädigt: den der es begeht und den, der es erleidet. Deshalb können wir es auch nicht dem Lukas durchgehen lassen, der nichts dabei zu finden scheint, wenn griechischstämmige Witwen, wie er schreibt, „übersehen werden“ – also besonders verwundbare, ältere Menschen, Frauen, die der Hilfe bedürfen – diskriminiert und unterschiedlich behandelt, unterschiedlich bevorrechtet und benachteiligt werden – nur weil sie griechischer oder hebräischer Herkunft sind. Das ist ein Unrecht, das nicht einfach pragmatisch geregelt werden kann – sollen die Griechen doch für die Griechen sorgen! – oder historisch erklärt werden kann.

Zumal die christliche Gemeinde schon mal weiter war: Paulus – also etwa zwanzig Jahre vor Lukas – sagt ausdrücklich im schon erwähnten Brief an die Galater, dass unsere Unterschiede nicht relevant sind in der christlichen Gemeinschaft: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28) Wir wissen es besser, dass es sie gibt, immer noch – aber eigentlich kann und darf es Diskriminierung und Abwertung aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder sozialem Stand in der Gemeinschaft von Christen nicht geben.

Jesus selbst ist noch viel weiter gegangen. Er predigt nicht nur das Evangelium von der Nicht-Diskriminierung, sondern geht selbst hin zu den Ausgestoßenen, den Abgewerteten, zu denen am Rand der Gesellschaft, „den Mühseligen und Beladenen“, zu den Diskriminierten. Und viele seiner Geschichten handeln davon, dass diskriminierende Barrieren überschritten werden – wenn es etwa ausgerechnet der in der Gesellschaft verachtete Samaritaner ist, der im Gegensatz ausgerechnet zu den angesehenen Geistlichen des eigenen Volkes zum Beispiel für Nächstenliebe wird: Ausgerechnet der hilft und erfüllt Gottes Gebot.

Genau das ist es aber: Gottes Gebot – und keineswegs eine Modeerscheinung oder politisch-korrekte Heuchelei, wenn wir uns gegenseitig erinnern, uns nicht gegenseitig abzuwerten aufgrund äußerer oder auch innerer Merkmale; uns nicht einfach so oder auch absichtsvoll zu „übersehen“, nur weil wir uns gegenseitig anders sind. Als „Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins“ (in der Wendung Eberhard Jüngels) ist nicht nur Gott zu denken sondern auch die von ihm gewollte Gemeinschaft unter Menschen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28).

Das wir das noch nicht gut genug hinkriegen ist offensichtlich und schmerzhaft. Aber wir sollten es wenigstens wollen!

Klaus Neumann, Pfarrer