Predigttext für den Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 8. November 2020

Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: »Friede und Sicherheit«, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut. (1. Brief des Paulus an die Thessalonicher 5,1-11)

Wer meine Älteste fragt, was ihr die liebste Jahreszeit und der liebste Monat sei, dann antwortet sie im Frühling, dass es der Frühling ist – und im November dass es der November ist. Als unerschütterlich positiver Mensch – von mir Miesepeter hat sie das nicht – als Kind des Lichts kann sie die Zeiten nehmen und lieben, wie sie kommen – und natürlich hat sie recht damit, denn auch ein Spaziergang im herbstlichen Nebel, in dem sich die Bäume verflüchtigen, ist an sich und unvergleichlich schön – und in der tiefstehenden Novembersonne doch auch oder noch mehr; und wenn dann noch die Kraniche ziehen zu Tausenden über Stadtwald und Stadt hinweg mit ihrem weitdringenden Trompetenruf, ihrer perfekten Flugordnung, die sich auch auflösen kann in Treffen der verschiedenen Teilschwärme in wilden Kreisen und Begegnungen mit scheinbar noch lauteren und wilderen Rufen, tagelang, stundenlang wie in dieser Woche – dann lässt sich unsere Welt doch gar nicht anders als gute Schöpfung verstehen, in der die Natur und wir in ihr wohlgeordnet sind: Ordnung, „Friede und Sicherheit“. So kann es bleiben – aber so bleibt es oft nicht.

Der Zug der Kraniche ist seit alters als Zeichen gedeutet worden – als Glücksbringer im Frühling, als Winterboten im Herbst – in Ermangelung vermeintlich besserer Vorhersagen; aber auch das haben wir in dieser Woche gelernt, das Demoskopen mit ihren Prognosen danebenhauen können und den hohen Anspruch, den sie in ihren vornehmen Bezeichnungen hochtrabend gräzisieren – der Demoskop ein „Volksseher“, also so eine Art gesellschaftlicher Prophet und seine Prognose ein „Vorwissen“ – auch diesmal nicht einlösen. Dann doch lieber Kaffeesatzlesen oder der Flug der Kraniche.

„Sieh da, sieh da Timotheus, die Kraniche des Ibikus!“ Bei Friedrich Schiller – den man als Jugendlicher, der seine Ballade auswendig lernen sollte, nicht lieben musste – wird sehr schön deutlich, dass Schicksalzeichen, als welche die Kraniche gesehen werden, überaus vieldeutig sind: die Mörder entlarven sich selbst durch diesen Ruf und bekommen ihre Strafe, die Tat wird vergolten, und die Gesellschaft erlebt ihre Welt als moralisches Universum, in der Gerechtigkeit über den Tod hinaus regiert.

„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ heißt es anderswo beim selben Schiller zum selben Thema und wir können davon ausgehen, dass Schiller seinen Paulus kannte, wie wir unseren Schiller kennen – also vielleicht nicht ganz textsicher, aber doch so, dass wir die Pointe drauf haben: „Zwei Blumen für den weisen Finder,/ Sie heißen Hoffnung und Genuß./ Wer dieser Blumen Eine brach, begehre/Die andre Schwester nicht./ Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre/ Ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre./ Die Weltgeschichte ist das Weltgericht./ Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen,/ Dein Glaube war dein zugewog´nes Glück./ Du konntest Deine Weisen fragen,/ Was man von der Minute ausgeschlagen,/ Gibt keine Ewigkeit zurück.“( Schiller, Resignation)

Nur dass Paulus nicht zwei Lebensentwürfe wie bei Schiller („Zwei Blumen“: das Leben in Hoffnung und Glauben und das Leben im diesseitigen Genuß) gleichwertig nebeneinanderstellt, sondern aufs Entschiedenste den ersten befürwortet: Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, um so den Tag des Herrn also das Weltgericht zu erwarten. Mit dieser eindeutigen Wertung, sagt Paulus auch, dass trotz aller ausgleichenden Gerechtigkeit, die auch schon in dieser Welt geschieht – vielleicht einfach so, dass sich manche Tragödien als Farce wiederholen und damit aufheben (wie wir es gerade in Amerika erleben) – diese weltliche Gerechtigkeit nicht reicht (auch in Amerika werden die tiefen Wunden, die ein böser und dummer Präsident geschlagen hat, nur in tiefen Narben verheilen) sondern erst Gott am Ende Gerechtigkeit schaffen wird. Nach Paulus ist die Weltgeschichte eben nicht schon das Weltgericht – das steht noch aus.

Und das entlastet uns übrigens auch von Fehlzuschreibungen und Missdeutungen, Tyrannen für göttliche Werkzeuge und Seuchen für göttliche Strafen zu halten. Wir sollen und brauchen nicht Gott in die Schuhe schieben, was durch die Bosheit der Menschen und den Gang der Natur ganz gut zu erklären ist. Genauso wenig wie wir im Weltgeschehen einzelnen Geschehen das Gericht Gottes zuschreiben können, sollen wir über Zeiten und Stunden spekulieren, wann es den anbricht: Denn der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.

So ist mit dem heutigen Paulustext eine klare Wahlempfehlung zu machen: Lebt als Kinder des Lichts, Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut.

Und dass das Leben als Kinder des Lichts auch ungemütlich sein kann, wusste Paulus, hat es ja selbst in einem bewegten Leben erlebt und verschweigt es uns auch hier nicht: Zieht euch warm an! (Nicht nur im November, nicht nur in der ungeheizten Kirche.) Legt euch an den Panzer des Glaubens und der Liebe und den Helm der Hoffnung auf das Heil! Tragt die Maske – würde er zweifellos heute sagen. Und sagt ja zu dem Leben, dass uns Gott gegeben hat – auch im traurigen Monat November, wenn die Kraniche nach Deutschland hinüberziehen. Amen.