Predigttext für den 3. Sonntag nach Epiphanias, 24. Januar 2021

Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatte, starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der Herr sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 1und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des Herrn Hand hat mich getroffen. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.

(Das Buch Ruth 1,1-19)

Ausländerbiographien – Fremdlingsgeschichten (Vers 1) so wie die von Ruth – schaffen sich unter den Inländern besondere Aufmerksamkeit; sei es, dass sie von Schwierigkeiten und vom Scheitern erzählen (oft gruselig genüsslich gemein wie die Machwerke eines Sarrazin, der Einwanderer pauschal für gewaltbereit und dumm erklärt), mehr noch, wenn sie vom Erfolg, von gelungener Einwanderung erzählen, wie jetzt gerade aktuell vom türkischen Forscherpaar aus Mainz, die schneller als andere Forscher auf der ganzen Welt einen Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden haben (und doch so dumm nicht sein können). Das Buch Ruth wird ebenfalls als Erfolgsgeschichte erzählt; es erzählt von großen Schwierigkeiten gewiss, aber eben auch von abgewendetem Scheitern, auch von gelungener Integration, so gelungen und so integriert, dass Ruth zur Stammmutter des jüdischen Königs David werden konnte – also des Messias und des Christus (was ja bekanntlich dasselbe ist).

Zuerst aber erreichen nicht die Taten der Ruth sondern ihre Worte unsere Aufmerksamkeit. Und die wenigsten Brautpaare dürften sich dieses großen Erzählrahmens und dieses weltgeschichtlichen Zusammenhangs bewusst sein, wenn sie ihre Trauung und ihre Ehe unter das wunderbare Wort der Ruth stellen, das zu den beliebtesten Trausprüchen gehört: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Den meisten wird das nicht bekannt sein: Auch nicht dass sich hier die Schwiegertochter der Schwiegermutter verspricht, nicht dass sich die junge Witwe der älteren Witwe anvertraut – als Bekenntnis von Frau zu Frau – , nicht dass es zwischen Aus- und Einwanderern gesprochen ist (wobei hier beide beides schon sind oder noch werden!), auch nicht dass hier von einer Wirtschaftsflucht, nein eigentlich einer Hungerflucht erzählt wird, und nicht dass hier die legendäre Stammmutter des König David und damit des Heilands Jesus Christus vor ihrer Reise nach Bethlehem spricht. Das alles dürfte den wenigsten Brautleuten und den allerwenigsten Hochzeitsgesellschaften bewusst sein. Macht aber nichts!

Denn die Wahrheit dieses wunderbaren Wortes scheint ja trotzdem durch oder zeigt sich auch im neuen Zusammenhang, sie wird sichtbar und offenbar (nach griechischer Wahrheitslehre) und muss sich bewähren in der Beziehung (nach dem hebräischen Verständnis von Wahrheit).

Etwas bedauerlicher ist aber schon, dass oft nicht nur der Erzählzusammenhang unbewusst ist, sondern meistens auch die erklärenden nachfolgende Sätze im Trauspruch fehlen: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. Auch diese Sätze passen doch ausgezeichnet zu Ehe und ehelicher Gemeinschaft, in der Lebensgeschichten verschmelzen und Familien zusammenwachsen, Traditionen verbunden und in der auch geistige Heimaten geteilt werden, und zwar unbedingt, ohne Vorbehalt, ohne Netz und doppelten Boden – vor dem Horizont der Ewigkeit „bis der Tod uns scheidet“. Das Versprechen dort hinzugehen, wohin der andere hingeht, benennt die Liebe als gegenseitige Hingabe, nichts für sich selbst zu sein und alles für den anderen hinzugeben – und trifft also ziemlich genau die Idee der Ehe.

Wenn also nicht nur keine Einwände gegen dieses wunderbare Wort als Trauspruch vorzubringen sind, sondern es im Gegenteil nur wärmstens zum ehelichen Gebrauch empfohlen werden kann, macht es doch sein Zusammenhang in der Ruthgeschichte noch um ein Vielfaches reicher und interessanter.

Die Geschichte der Ruth teilt die Urerfahrung des Alten Israel, dass seine Herkunft als Volk weit weit weg ist und die von Gott zugeteilte Heimstatt erst nach langem Weg gefunden werden musste: „Mein Vater war ein umherziehender Aramäer“ (1. Mose 26,5), heißt es in einem kurzen Abriss der Heilsgeschichte im Alten Testament (das sogenannte „Kleine geschichtliche Credo“, so genannt vom großen Bibelwissenschaftler Gerhard von Rad). Die Vorväter – und wenn wir an Ruth denken: die Vorväter und -mütter der Israeliten sind erst nach langen Wanderungen – mit der Auswanderung, dem Exodus aus Ägypten als der markantesten Etappe der Migration – in ihre Heimat gelangt, die immer neue Heimat war.

Mit diesem Bewusstsein hat sich in Israel auch zum ersten Mal eine Vorstellung von Geschichte herausgebildet, dass eben nicht immer alles so war, wie es jetzt ist, und nicht alles so bleiben wird. Die Welt ist veränderlich, sie verändert sich – und zwar in eine von Gott gezeigte Richtung. Während in der altorientalischen Umwelt ein zyklisches Weltbild herrschte, in dem das Immergleiche am selben Ort ewig wiederkehrt, entwickelt das Alte Israel insbesondere durch seine Propheten Konzepte der Geschichte, der Veränderung und des Fortschritts. Das hat der christliche Glauben übernommen und weitergeführt, und noch die religionslosen Vorstellungen von Entwicklung und Fortschritt unserer Zeit sind geprägt von der bahnbrechenden Erkenntnis Israels, dass nicht alles bleibt wie es ist sondern einem Ziel entgegengeführt wird – nicht immer geradlinig und vorhersagbar, durchaus „aufhaltsam“ und gelegentlich auf Um- und Irrwegen, aber letztlich doch zielgerichtet.

Das ist das eigentliche Thema der Ruthgeschichte, dass Gott uns auf verborgenen Pfaden durchs Leben führt – und uns dabei zu Wanderern, zu Pilgern, zu Nomaden und Migranten macht – alle von uns in unterschiedlichem Maß und in unterschiedlicher Weise, aber irgendwie dann schon, und sei es dass wir als einer, der nur ein paar Hundert Meter von seinem Geburtsort, der Augenheilanstalt nämlich in der Kapellenstraße, heute lebt, dann eben Anteil hat an der Wandergeschichte der Eltern, die von ziemlich weither kamen – flüchtend, vertrieben die eine, der Arbeit folgend der andere – oder seiner Frau von sehr weither, die auf der anderen Seite des Globus zur Welt und von dort hierher kam. Unsere Geschichten und die Geschichte der Menschen überhaupt lassen sich nur als Wander-, als Migrationsgeschichten schreiben. Und wer das leugnet, leugnet einen Teil seiner selbst.

Ruth jedenfalls ist Migrantin; zuerst ja nicht, wenn sie vom wirtschaftsflüchtigen, nein hungerflüchtigen Auswanderer bei ihr zuhause geehelicht wird und ihm eine neue Heimat gibt; aber dann sehr wohl Migrantin, wenn sie als Einwanderin mit ihrer Schwiegermutter – auch das kann also ein gutes Verhältnis sein – in das Land ihres verstorbenen Ehemanns zieht und dort eine neue Heimat findet; geborgen vom Vertrauen, dass Gott sie führt; geborgen auch vom Vertrauen zu ihrer Familie; geborgen vom Vertrauen so sehr, dass sie eine neue, eigene Familie in ihrer neuen Heimat gründen wird – auch einen neuen Mann sich sucht und findet, dem sie das dann vielleicht – wer weiß – als Eheversprechen gesagt hat, was viele von uns unserem Gemahl versprochen haben : Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.