Predigttext Silvesterabend 2020

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. Amen. (2. Buch Mose 13, 20-22)

„Nur ein oberflächlicher Mensch urteilt nicht nach dem Äußeren“ – Meistens ist es sehr sinnvoll mit Oscar Wilde, dem ersten Eindruck und der äußeren Erscheinung zu folgen: Wenn in der Kirche einer mit einem Talar herumsteht, wird das sehr häufig ein Pfarrer sein – und wenn im mythologischen Weltbild des Alten Orients Rauch- und Wolkensäulen umherwandern, könnte das Gott sein. Das Innere verrät sich im Äußeren, in unseren Bildern zumal; das kann als Faustregel gelten, von der es aber Abweichungen gibt. Es ist damit zu rechnen, dass gerade religiöse Gegenstände und insbesondere Gott selbst sich in vielfältigen auch unerwarteten Verhüllungen und Enthüllungen offenbart, nicht zuletzt unter seinem Gegenteil; wir kommen darauf zurück.

Beim Durchsehen der Bilder des vergangenen Jahres – also weniger bei den offiziellen Präsentationen in Zeitungen oder im Fernsehen, als vielmehr bei den eigenen Bildern, die sich auf dem Handtelefon so übers Jahr ansammeln; oder auch bei den anderen, die man als Weihnachtsfamilienkarten bekommt und die vielfach wahre Kunstwerke sind – also beim Durchsehen dieser privaten, persönlichen Bilder des Jahres 2020 fällt auf, dass das alles beherrschende Thema, die alles bestimmende Wirklichkeit – früher war das ein Gottesprädikat! („Gott als alles bestimmende Wirklichkeit“ bei Rudolf Bultmann) – also nun aber die alles bestimmende Wirklichkeit der Seuche kaum oder gar nicht vorkommt.

Auf diesen Bildern, die ich meine und die wir vermutlich alle im Smartphone mit uns herumtragen, gehen wir durch das Jahr mit lachenden, freundlichen Gesichtern, wir und unsere Lieben, an schönen Orten bei gutem, oder zumindest interessantem Wetter. Nur ganz gelegentlich blitzt eine Maske hervor und wir wissen – noch, aber in ein paar Jahren nicht mehr – aus welcher Phase der Pandemie dieses oder jene Bild stammt, also etwa zeitgleich mit den ikonisch gewordenen Bildern der Militärlaster voller Särge in Bergamo, der Behelfslazarette in New York, der Umarmung der Angehörigen durch eine Plastikfolie im Altenheim; oder der sommerlichen Idiotenpartydemos und der Beinahe-Erstürmung des Bundestages durch selbige; oder – nochmal ganz anders – der leeren Fußballstadien.

Aber in den Sammlungen der meisten von uns kommt die Seuche – merkwürdigerweise, glücklicherweise – nicht vor. Das liegt – denke ich mir – zum einen daran, dass wir trotz allem auch im vergangenen Jahr meistens das gemacht haben, was wir eben immer machen und davon auch unsere Bilder gemacht haben; und in der großen Mehrheit – wie gesagt: glücklicherweise – keinen direkten Kontakt mit den grausamen, tödlichen Seiten der Seuche hatten. Das könnte aber auch zu einem anderen Teil daran liegen, dass wir – unbewusst, bewusst – den Schrecken verdrängen und ihn mit unseren fröhlichen Bildern zudecken, verhüllen wollen: Andere mögen leiden und sterben – aber wir doch nicht! Falls das stimmt – aber vielleicht bin ich hier wieder mal zu grübelnd, zu nörgelnd – wäre das eine nicht ganz so schöne Erkenntnis über uns selbst.

Bei einem zweiten, genaueren Blick durch die Bildersammlungen, finden wir dann vielleicht aber doch die Spuren der Pandemie – die immer selben Spaziergänge im Frühjahr, die spärlich besetzten Lokale, die leeren Strandabschnitte; auch die Leerstellen könnten uns auffallen: die Menschen, die wir nicht trafen, und die Orte, die wir nicht besuchten. Es war so vieles gleich in diesem Jahr – und doch alles anders. Und wenn auch nicht alles sichtbar ist, so doch manches erkennbar unter seinem Gegenteil.

Und wenn man so weitergeht in seinen Gedanken zur Sichtbarkeit der Pandemie in unserem persönlichen Bildergedächtnis, ergibt sich – zumindest wenn uns Fragen der Religion interessieren – die Frage nach der Sichtbarkeit Gottes in diesen Tagen und der Orientierung durch unseren Glauben. Auch wer in dieser Hinsicht keine Feuersäulen oder Wolkensäulen erwartet – das wäre wohl zuviel verlangt in Zeiten säkularer Vernunft – würde sich doch Eindeutigeres über Gott oder noch besser von Gott wünschen. Welche Antworten des Glaubens finden sich in diesen Zeiten? Wo ist Gott in der Pandemie? Wer ist uns – nun sei dennoch danach gefragt – Wolkensäule am Tag und Feuersäule in der Nacht?

Nach einer Schrecksekunde des monatelangen Schweigens hat sich der Glauben in vielfältigen theologischen Stellungnahmen geäußert, ohne je kraftvoll zu einer Stimme zu finden. Die Antworten, die in früheren Zeiten plausibel waren, dass eine solche Krise Strafe oder Prüfung Gottes sein müsse, verfängt nicht mehr, da einem Gott, der die Liebe ist, ein solches strafendes oder prüfendes Handeln schlicht nicht mehr zugetraut wird. Der liebe Gott straft und prüft nicht. Einen anderen aber kennen wir nicht – nicht mehr.

Angesichts von Seuche und Seuchentod kann dann aber auch die Gottesaussage „alles bestimmende Wirklichkeit“ nicht mehr zutreffen, wenn sie es denn je getan hat. Allerdings deckt hier die Krise nur theologische Defizite auf, die es schon längst gab und die schon längst hätten bearbeitet werden müssen: Gott könnte doch nur dann gleichzeitig als „Liebe“ und als „alles bestimmende Wirklichkeit“ ausgesagt werden, wenn ich alles, was überhaupt ist, für gut erklärte, und wenn also gleichzeitig das offensichtlich Nicht-Gute: Krankheit und Leiden, Gewalt und Tod einfach für irrelevant erklärt würden. Das sollte dem christlichen Glauben eigentlich unmöglich sein, wenn es auch die Kommentare zur Pandemie immer wieder implizieren mit Behauptungen, dass doch jeder sterben müsse, und mit Beschwichtigungen, dass Krankheiten zum Leben dazugehörten; wohl wahr! Nur dass das beides vor allem Argumente nicht gegen ihre Bedeutung sondern für mitfühlende Sterbebegleitung und effiziente Krankenversorgung sind – auch Jesus hat Krankheiten nicht erklärt sondern geheilt! Und gut finden und für göttlich gewollt halten – muss man sie schon gleich gar nicht.

Der Mangel an christlichen Deutungen in der pandemischen Öffentlichkeit spiegelt sich in einem Überfluss nicht-christlicher und religionskritischer Kommentare. Die häufen auf die System-Irrelevanz von Kirche und Theologie in der Pandemie und den demoskopischen Niedergang der Institutionen noch den triumphalen Abgesang auf die Religion überhaupt – allerdings – und das muss den Polemiker in einem betrüben – war die Religionskritik auch schon mal besser, nämlich treffender und trittsicherer als heute.

Entweder sie verkauft Ladenhüter vom Grabbeltisch der Historisch-Kritischen Forschung als Sensation, etwa dass sich Religionen entwickeln und verändern und dabei immer auch Elemente ihrer Umwelt aufnehmen, und dass also z.B. in Ermangelung eines Geburtsdatums Jesu der Zeitpunkt des Weihnachtsfestes zur Wintersonnenwende sich dem Festkalender der alten Römer verdankt – was doch höchstens Konfirmanden erstaunen kann, wenn sie es als 13jährige erstmals hören.

Oder die Kritiker verzichten gleich ganz auf Recherche und „meinen“ einfach wild drauflos – nach dem Motto: Eine starke Behauptung ist immer noch besser als ein schwaches Argument, wie z.B. neulich in einer großen Wochenzeitschrift, in der ein Autor das Recht des konfessionellen Religionsunterrichts an Schulen bestreitet, was natürlich möglich ist und interessant sein kann, aber doch nicht so: Ihm war völlig entgangen, dass die kirchlichen Lehrkräfte an staatlichen Schulen selbstverständlich dem Recht des Staates und der Ordnung der Schule unterstehen, dass Lehrpläne für Religion wie für alle anderen Fächer staatlich beschlossen werden und dass genauso wenig wie der Glaube an den Satz des Pythagoras in der Mathematik der Glaube an Bekenntnissätze im Religionsunterricht benotet wird – nur kennen sollte man sie halt und wissen, was man damit anfangen kann. Am betrüblichsten aber war, dass dem Autor gerade das fehlte, was zu den wichtigsten zu erwerbenden Kompetenzen des Religionsunterrichts gehört, nämlich eine eigene Urteilsfähigkeit in Sachen der Religion auszubilden, die insbesondere auch einschließt, sich selbst in Frage zu stellen.

Wenn die Kritik sich so wenig Mühe macht und sich machen zu leisten können scheint, muss es schlecht um die Religion bestellt sein. Dabei könnte die Krise doch eine Stunde der Religion sein, die Situation zu deuten und die Menschen zu trösten. Selten waren – um im Bild unseres Predigttextes und seines Erzählzusammenhangs zu bleiben – die Meeresfluten einer Bedrohung gewaltiger und die hinter uns her stürmenden Feinde gewalttätiger; selten die vor uns liegenden Wüsten der Bewährung und der Geduld vor uns dürrer und ausgedehnter; und sehr selten unser Bedarf an Wegweisung und Erleuchtung größer als gerade jetzt. Wo ist Gott; wo der, über den wir sagen könnten: Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

Auch wenn wir nichts dergleichen erkennen, muss das nicht für Gottes Abwesenheit sprechen, bzw. es könnte Gottes Abwesenheit für uns eher die Verhüllung seiner Anwesenheit sein. Martin Luther hat so etwas gesagt, nämlich dass sich Gott unter dem Kreuz verbirgt, dass sich Gottes Macht unter der Ohnmacht verhüllt und das Luther folgerichtig Kreuzestheologie genannt hat. Größer als eine sichtbar machtvoll „alles bestimmende Wirklichkeit“, die es nicht mehr gibt (und nie gegeben hat), ist die die eigene Ohnmacht aushaltende Macht der Liebe. Nach Luther hat der Glauben nicht nach Machterweisen zu suchen und diese dann Gott zuzuschreiben, nicht sich von Wolken- und Feuersäulen führen und leiten lassen, sondern im Leiden der Menschen Gott zu erkennen, das er teilt, das er erträgt und trägt und so überwindet – und uns durch gemeinsames, gegenseitiges Tragen zu überwinden anstiftet. Mit dem Kreuz als Zeichen der Ohnmacht stellt Gott sich und unsere Ansprüche an Gott in Frage – aber er gibt sich auch so zu erkennen als Gott der Liebe, „der nichts für sich selbst zu sein vermag“ (Eberhard Jüngel).

Also doch der liebe Gott? Ja schon, aber so, dass seine Liebe überraschen kann, herausfordern kann, uns nicht nur bestärkt in dem, was wir schon immer glaubten, sondern unsere Schwäche ertragen lässt. Liebe ist ja nicht schon dann, wenn ich den Tollen toll finde, sondern wenn mich seine Schwächen berühren. Solche Liebe kann uns bei Tag führen und in der Nacht den Weg leuchten – oder nochmal anders:

Jesus Christus spricht, ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis sondern das Licht des Lebens haben. Amen.