Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.
Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen. (2. Petrusbrief 1,16-19)
Verschwörungstheorien sind keineswegs eine Erfindung der Gegenwart. Eigentlich muss es Verschwörungsmythen heißen, also ausgedachte Mythen, ausgeklügelte Fabeln, von denen unser Text spricht und wir deshalb davon heute zu sprechen haben und der tatsächlich das Wort „Mythos“ verwendet und es näher bestimmt und begleitet mit einem Wort, dass sich von den Sophisten ableitet, also jenen antiken Populärphilosophen, die ihren Gesprächspartnern in betrügerischer Absicht das Wort im Munde herumdrehten; wenn es das Wort gäbe, könnte man von „scheinschlauen“ Mythen sprechen, aber „ausgeklügelt“ trifft es gut, wenn man darin die Täuschungsabsicht mitdenkt – oder eben Verschwörungsmythen.
Verschwörungsmythen sind keineswegs eine Erfindung der Gegenwart. Aber im Moment gerade haben sie Konjunktur – in Amerika zumal, aber sie schwappen auch zu uns rüber und schlagen Wellen. Manchmal sind sie so aberwitzig, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass irgendjemand sie für wahr hält: Die Mondlandung hätte gar nicht stattgefunden, bzw. nur als Filmprojekt irgendwo in einem Studio zum Zwecke der Täuschung von Freund und Feind! Präsident Kennedy wäre gar nicht ermordet worden oder zumindest anders und von anderen als behauptet! In der amerikanischen Wüste wären Außerirdische mit Ufos gelandet und würden dort festgehalten – gegen ihren Willen! Mobilfunkstrahlen oder die von Mikrowellenöfen könnten das Gehirn schädigen und sollen das auch! (welches Gehirn?) Kondensstreifen der Flugzeuge in der Luft vergifteten als Chemtrails die Menschen auf der Erde! Corona wäre ein großer Trick von Bill Gates und den Pharmakonzernen, um noch reicher zu werden und uns noch ärmer zu machen! Und man könnte sich mit einem Aluhut davor schützen! Eine mächtige Clique würde Kinder entführen und quälen und sich von ihrem Blut ernähren und die Weltherrschaft anstreben – Sie erinnern sich an den Büffelkrieger mit dem großen Q auf der behaarten Brust, der mit Tausenden anderer das Parlament in Washington gestürmt hat! Qanon scheint der irrste und dabei gefährlichste Verschwörungsmythos unserer Tage zu sein, zumal er sich in perfider Weise älterer antisemitischer Verschwörungs- und Hetzmythen bedient – die bekanntlich nicht in Amerika ausgeklügelt wurden. Auch Europa kann Verschwörungsmythus und in unserem Land wurde vor nicht so langer Zeit von der „Weltverschwörer-Clique“ gefaselt und gebrüllt.
Unglaublich sagt der gesunde Menschenverstand – aber damit hat er nicht ganz recht, denn für viele, allzu viele ist das alles durchaus glaublich. Es wird ja geglaubt! Und es richtet Schaden an – sei es – und das ist der geringste Schaden – dass man Zeit und Energie mit sinnlosen Diskussionen vergeudet; sei es, dass sie eigenes Unrecht verschleiern sollen; sei es, dass überhaupt ein einigermaßen verlässlicher und wahrheitsgemäßer Zugriff auf die gemeinsam belebte Wirklichkeit in Frage gestellt wird. Die Mythen im einzelnen mögen für die meisten von uns zu abstrus sein, um sie ernst zu nehmen – in ihrer Summe erschüttern sie aber durchaus unser Zutrauen in eine wirklichkeitsgemäße – also wahre, oder Wahrheit anstrebende – Sicht der Dinge. Selbst nüchterne Zeitgenossen denken bisweilen: Könnte was dran sein – denken wir nur an die weit verbreitete Impfskepsis oder an den Aberglauben an die magische Heilkunst der Homöopathie gerade auch unter manchen Gebildeten.
All das scheint es schon früher, vielleicht schon immer gegeben zu haben. Was hätte man sich also wohl ausdenken können an ausgeklügelten Fabeln, an Verschwörungsmythen in biblischer und nachbiblischer Zeit? Also man hätte zum Beispiel ausdenken und behaupten können, dass die Welt, die wir sehen, gar nicht da ist, nur eine Scheinwelt ist, während die wahre verborgen ist; dass diese Scheinwelt von einem bösen Gott erschaffen wäre und beherrscht würde. Der ist ein Gegenspieler des guten Gottes, und der böse Gott wäre verantwortlich für alles Leid und alles Übel in der Welt. Auch dass der wahre Jesus gar nicht gestorben wäre, sondern einen anderen für sich am Kreuz hätte leiden und sterben lassen – und das auch noch aus sicherer Distanz aber veränderter Gestalt beobachtet hätte. Und dass man das alles nur mittels einer besonderen Erkenntnis, gottgegebenen Erkenntnis – einer Gnosis – erkennen könnte, die schon tief in einem steckt, aber von Eingeweihten erst noch erweckt werden müsste.
Wer jetzt denkt, dass sei zu irre, zu abgedreht, zu abstrus, um je Glauben gefunden zu haben, irrt sich. All das wurde behauptet und gelehrt und geglaubt in biblischer und nachbiblischer Zeit als „Gnosis“ nämlich, die in ihrer Zeit eine überaus populäre und erfolgreiche Verschwörungstheorie war und durchaus das Potential hatte, den christlichen Glauben zu bedrängen und zu bedrohen. Wie alle Verschwörungsmythen knüpft auch diese ausgeklügelte Fabel an merkwürdige und auffällige Phänomene der Wirklichkeit an, verknüpft sie zu einem Gespinst aus halben Wahrheiten und ganzen Lügen, die sich gegenseitig bestärken und zu bestätigen scheinen, zu einem gewaltigen, wirklichkeitsresistenten und wahrheitswidrigen Knoten, der kaum durchschlagen werden kann: Es gibt ja wirklich Leid und allerhand Übel in der Welt, die doch von keinem guten Gott gewollt sein können; und wie könnte ein guter Gott und Vater seinen lieben Sohn Jesus leiden und sterben lassen, oder überhaupt erst mit allen Konsequenzen Mensch werden lassen; und wir täuschen uns doch so oft im Leben, was wäre wenn das alles hier eine große Täuschung wäre; und auf einmal bekommt das alles für die Verschwörunsymythiker einen Sinn – der von außerhalb aber ein gewaltiger Unsinn ist, ein riesiger Humbug allererster Güte!
Wie kann man dem entgegnen, ihn bekämpfen und entlarven? Gar nicht so einfach! Selbst heutzutage nicht, obwohl ganze Heerscharen von Forschern und Wissenschaftlern ein der Wahrheit verpflichtetes Bild der Wirklichkeit erarbeiten und präsentieren und unaufhörlich revidieren; und obwohl auch fachfremde und wissenschaftliche Laien wie Du und ich sich mittels einer Vielzahl an Medien umfassend und zuverlässig informieren können. Aber es immunisieren sich die Verschwörungsmythiker immer mehr und immer verstockter gegen die Wahrheit und bekämpfen Wissenschaft und freie Medien, wie und wo sie nur können. Der Kampf des ehemaligen Präsidenten der USA und seiner Komplizen gegen „die“ Wissenschaft und gegen „die“ Medien war nur ein besonders dreistes Beispiel dieses Kampfes der Verschwörer gegen die Wirklichkeit. Und es ist umso bedauerlicher, wenn einige Medien wie die Boulevardpresse ihre Rolle missbrauchen, oder wenn einige Wissenschaftler ausgerechnet in der Coronakrise durch ihr Verhalten und ihre Äußerungen Zweifel am Ernst ihrer Wahrheitssuche säen. (Anders als erst in der letzten Woche wieder in der durchaus seriösen Presse aus der Hand von Hochschullehrern zu lesen war, sammelt die Wissenschaft nicht Zweifel sondern Wissen an, wobei der Zweifel zu den wichtigsten Instrumenten der Wissenschaft gehört, aber immer als Mittel und nicht Zweck derselben. Sogar in der wissenschaftlichen Theologie liegt der Sinn der historischen Kritik, also so etwas wie der institutionalisierte Zweifel, nicht in sich selbst, sondern in der Prüfung des Wissens über den Glauben, in der Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit und von Glauben und Aberglauben – und damit in der Vermehrung des Wissens und der Kultivierung des Glaubens.)
Dem Autor unseres Textes standen das heutige Wissen und die modernen Medien zur Wissensvermittlung selbstverständlich und offensichtlich nicht zur Verfügung. Dennoch bemüht er sich eben mit seinen Mitteln die haltlosen Mythen – die ausgeklügelten Fabeln – seiner Gegner, die man sich als Gnostiker, also als Anhänger der – oder einer – Gnosis (es gab die Gnosis in unterschiedlichen Varianten), vorzustellen hat, zu entkräften und zu entlarven. Seine Mittel sind die Erfahrung und die Vernunft, und die einschlägige Fachliteratur, in seinem Fall die Bibel des Alten Testaments. Er appelliert an die gemeinsame Erinnerung an die Erfahrung des Menschen Jesus in Fleisch und Blut – und eben nicht als bloßem gnostischen Geistleib. Er erinnert – durchaus weihnachtlich, auch wenn er auf die Verklärungsszene anspielt – an die Erfahrung der Menschwerdung Gottes. Er vergleicht – durchaus aufklärerisch – unsere Erfahrung des menschgewordenen Gottes mit einer Erleuchtung, wenn der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen, wie wir es nicht nur zur Weihnachtszeit singen und sagen. Und er verweist auf seine ihm und seinen Lesern gemeinsam gültige Autorität der Heiligen Schrift. In alledem ist ihm wahrscheinlich weniger als uns bewusst, dass es hier um Angelegenheiten des Glaubens geht – die aber zumindest vom Standpunkt des Glaubens aus von Aberglauben und Verschwörungsmythen zu unterscheiden sind, so weit so gut. Ich meine, dass er damit recht hat.
Nicht so gut ist, dass er seine Widerrede gegen die ausgeklügelten Fabeln der Gnostiker in eine nicht weniger ausgedachte Fiktion seiner selbst verkleidet. Er ist ja gar nicht der Erzapostel Petrus, als der er diesen Brief zu schreiben vorgibt und sich – wie weithin üblich in der antiken und auch der biblischen Literatur– mit dem geliehenen Namen in die Tradition dessen stellt, der ihn ursprünglich getragen hat. Das ist nach den Regeln der damaligen Zeit nicht weiter zu beanstanden, aber heutzutage natürlich für die Auslegung zu beachten – so wie wir das ja auch gegenüber den Paulusbriefen, die ebenfalls nicht alle aus der eigenen Hand des Paulus stammen, selbstverständlich handhaben. Unser uns unbekannter Autor des 2. Petrusbriefes erweist sich und seiner Glaubwürdigkeit an dieser Stelle aber einen Bärendienst, wenn er für sich die Augenzeugenschaft des Petrus und der Apostel beansprucht, um die irdische, menschliche, geschichtliche Existenz Jesu gegenüber ihren Leugnern zu belegen. Wer andere – sicherlich zu Recht und mit richtigen Argumenten – der ausgeklügelten Fabeln und ausgedachter Mythen bezichtigt, darf – um im Recht zu bleiben – für sich keine falsche Identität ausdenken.
An uns als nachgeborene Adressaten dieses Briefes richtet er damit – indirekt – das Gebot zur eigenen Wahrhaftigkeit insbesondere, wenn es um die Wahrheit des Glaubens und die Unwahrheit des Aberglaubens geht. Kritik neu-gnostischer Verschwörungsmythen ist dann umso glaubwürdiger, wenn die Kritiker den eigenen Maßstäben folgen. Es geht hier ja um Sachen des Glaubens und nicht des Wissens, d.h. der Glaube hat hier viel zu verlieren, wenn er sich mit dem Aberglauben gemein und verwechselbar macht.
Trotz allem enthält auch unser Text aus dem 2. Petrusbrief, der als letzte Schrift gerade noch so in die Bibel hineingerutscht ist, die ganze Wahrheit des Evangeliums, nämlich: Gott ist Mensch geworden im Menschen Jesus von Nazareth. Nicht über ein gnostisches Gespenst sollen wir phantasieren, sondern wenn es um unseren Glauben an Gott und unser Wissen vom Menschen geht, sollen wir uns an den Menschen Jesus halten. Dieses Menschen Geburtstag ist zu feiern, sein Leben zu erinnern, seine Worte zu hören, seinem Weg zu folgen, sein Tod zu beklagen, seine Auferstehung zu loben – darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.