Predigttext für den Sonntag Judika, den 5. Sonntag in der Passionszeit, 21.3.2021

Hiob spricht: So merkt doch endlich, dass Gott mir unrecht getan hat und mich mit seinem Jagdnetz umgeben hat. Siehe, ich schreie »Gewalt!« und werde doch nicht gehört; ich rufe, aber kein Recht ist da. Er hat meinen Weg vermauert, dass ich nicht hinüberkann, und hat Finsternis auf meinen Steig gelegt. Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen und die Krone von meinem Haupt genommen. Er hat mich zerbrochen um und um, dass ich dahinfuhr, und hat meine Hoffnung ausgerissen wie einen Baum. Sein Zorn ist über mich entbrannt, und er achtet mich seinen Feinden gleich. Vereint kommen seine Kriegsscharen und haben ihren Weg gegen mich gebaut und sich um meine Hütte her gelagert. Er hat meine Brüder von mir entfernt, und meine Verwandten sind mir fremd geworden. Meine Nächsten haben sich zurückgezogen, und meine Freunde haben mich vergessen. Meinen Hausgenossen und meinen Mägden gelte ich als Fremder; ich bin ein Unbekannter in ihren Augen. Ich rief meinen Knecht und er antwortete mir nicht; ich musste ihn anflehen mit eigenem Munde. Mein Odem ist zuwider meiner Frau, und den Söhnen meiner Mutter ekelt’s vor mir. Selbst die Kinder geben nichts auf mich; stelle ich mich gegen sie, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.(Buch Hiob 19,6-27; der vorgesehene Predigttext Hiob 19,19-27 ist vorgehoben)

Dass Optimismus nur ein Mangel an Information sei, liebe Schwestern und Brüder, lässt sich zumindest an Hiob nicht belegen: Ihn treffen die schrecklichsten Nachrichten – unsere redensartlichen Hiobsbotschaften – die Gewinnwarnungen und die Verlustmeldungen prasseln nur so auf ihn nieder und alle bewahrheiten sich: Gesundheit weg, Besitz weg, Wohlstand weg, Ansehen weg, Kinder weg, sogar die Liebe seiner Frau ist weg – Mein Odem ist zuwider meiner Frau (das soll vorkommen, besonders morgens) – und auf die Freunde, die ihm geblieben sind, könnte man gerne verzichten. Hiob geht auf Zahnfleisch. Warum geht er nicht unter? Was hält ihn am Leben, was hält ihn am Glauben? Was lässt ihn angesichts seiner Lage reichlich optimistisch sagen: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.

Eine wirkliche Antwort erhalten wir darauf nicht, nicht hier und nicht im ganzen Buch Hiob. Das Leid des Gerechten bleibt unerklärt und bleibt unerklärlich. Und die Erklärungsversuche, die das Buch anstellt – eine Sache gegen ihn zu finden, also die Schuld bei ihm zu suchen – zeigen nur, dass sie nichts taugen. Im Leiden, in Krankheit, in Seuche, in Katastrophen einen Sinn zu suchen, funktioniert nicht. Und Gott im Weltlauf zu erkennen, funktioniert genauso wenig wie ihn dafür zu rechtfertigen. Anders als der Philosoph Leibniz mit all seiner universellen Gelehrsamkeit in seinem Werk Theodizee sich bemüht hat, lässt sich Gott nicht rechtfertigen und so – angesichts der Weltläufe – schon gar nicht.

Im Gegenteil: Mit Hiob, der ausdrücklich sagen kann: „Die Erde ist in die Hand des Frevlers gegeben“ (Hiob 9,24) und damit Gott meint, erkennen wir im Herrn der Weltgeschichte den Teufel – wie ja auch die Hiobsgeschichte als Wette zwischen Gott und Satan konstruiert ist, wobei sich Gott in dieser makabren und blasphemischen Wette zum zweiten Teufel verdoppelt. Auch der reichlich theaterhafte Schluss der ganzen Geschichte, an dem ein deus ex machina das Lebensglück Hiobs gleich doppelt wiederherstellt, kann das Leid, das das doppelte Teufelchen mit seiner Wette angerichtet hat, niemals rechtfertigen. Wo aber ist Gott? wäre mit Hiob zu fragen – dessen hebräischer Name genau das heißt: Wo ist Gottvater? Er hat sich Hiob zum Feind gemacht – auch dieses Wort „Feind“ klingt im Hebräischen beinahe wie der Name Hiob: Gott hat mich zerbrochen um und um, dass ich dahinfuhr, und hat meine Hoffnung ausgerissen wie einen Baum. Sein Zorn ist über mich entbrannt, und er achtet mich seinen Feinden gleich.

Wenn also weder Gott noch Glauben mit der Hiobsgeschichte erklärt werden können oder sollen, was dann? Was will sie erzählen? Was sagt sie uns? Das Buch Hiob soll zeigen, dass der nackte – allen Schutzes, allen Schmucks und aller Schätze beraubte – Mensch, zumindest der nackte Hiob, an Gott glaubt und glauben kann; und dass dieser Glaube kein Tauschgeschäft für ein gutes Leben ist. Genau darum ging ja die Wette, die die Geschichte in Gang setzt, wenn der eine Teufel zum anderen sagt: Meinst du dass Hiob Gott umsonst fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, ringsherum bewahrt. Du hast das Werk seiner Hände gesegnet und sein Besitz hat sich ausgebreitet im Lande. Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: Was gilt´s, er wird dir ins Angesicht fluchen! (Hiob 1,9-11), was seine Frau ihm dann auch empfiehl: Hältst du noch fest an deine Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! (Hiob 2,9; Der Heilige Augustinus hält sie wegen dieses Sätzchens für eine Helferin des Teufels, eine „adiutrix diaboli“) Ein unfrommer Rat, dem der fromme Hiob nicht folgt.Hiob wird zwar von allem entkleidet – Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen – nur das nackte Leben brachte ich davon – er wird entblößt – und behält aber dennoch Würde und Glauben.

Nacktheit ist ja ein vieldeutiges, auch widersprüchliches Symbol, sie heißt so viel! – Unschuld im Paradies und Ursünde dortselbst, dann Scham; Liebe, Lust, Leidenschaft, Laster; private Intimität und öffentliches Ärgernis; Hingabe und Ausgeliefertsein; Schutzlosigkeit; Kälte, Armut; Anmut, Schönheit, Gleichheit, Freiheit (Freikörperkultur! für solche Worte wird die deutsche Sprache in aller Welt geliebt, mit Recht!), Brüderlichkeit, Lächerlichkeit, Peinlichkeit, Hässlichkeit, Grobheit.

„Auf die Erde voller kaltem Wind, kamt ihr alle als ein nacktes Kind. Frierend lagt ihr alle ohne Hab als ein Weib euch eine Windel gab“ dichtet der Dichter Bertolt Brecht „Von der Freundlichkeit der Welt“ und frei nach Hiob: “Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren.“ (Hiob 1,21); der Philosoph Giorgio Agamben philosophiert vom nackten Leben des homo sacer, der getötet aber nicht geopfert werden darf, und die Cartoonisten Hauck & Bauer machen sich über die von ihnen erfundene Nudistenpartei „Die Nackten“ lustig. Der Malerfürst Peter Paul Rubens malt Barockschinken, an deren Inkarnat wir uns heute noch erwärmen. Das Künstlerpaar Gilbert & George zeigt sich als living sculptures gerne selbst nackt, nackter jedenfalls als man es seinen minderjährigen Pfarrerstöchtern zumuten sollte. Nackt sind wir mit unserer Liebsten zusammen; nackt sind wir im OP, wo uns der nackte Leib aufgeschnitten wird. Nackt sind wir nicht in der Kirche, auch wenn einer meiner pubertären Lieblingswitze „die Nacht der Kirchen“ zu „Nackt in der Kirche“ verkalauert; nackt sind wir aber vor Gott. Nackt wie Hiob.

Als Nackte sind wir so, wie wir sind: unverborgen, ohne Maske, unverhüllt, ohne die Distinktionsmerkmale unserer Kleidung, auf uns selbst reduziert. So stehen wir vor Gott, der es – wie es Hiob erlebt und wir doch auch bisweilen so erleben – dabei belässt; uns nicht schützend bedeckt, nicht unsere Blöße zudeckt, eben nicht jede Krankheit heilt, nicht jeden Streit schlichtet, nicht – als Löser, wie es eigentlich im Text steht, als Fürsprecher – dem Gerechten zu seinem Recht verhilft, nicht die Sünden vergibt. So steht Hiob vor Gott und wir neben ihm – und so lässt Gott uns stehen, peinlich. Nackt am falschen Ort, das ist peinlich.

Diese metaphysische Nacktheit entdeckt, erzählt, erforscht uns die Hiobsgeschichte, die uns darin moderner erscheint, als sie ist. Denn warum sollte Gottesferne, warum sollte Gottverlassenheit eine Erscheinung der Moderne sein. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – schreit ein Nackter am Kreuz vor zweitausend Jahren, gleichfalls wie Hiob ein leidender Gerechter. Von Gott und den Menschen verlassen wendet er sich an den, von dem er sich verlassen weiß.

Das muss man nicht für besonders konsequent, nicht für logisch oder vernünftig halten. Wie gesagt, die Hiobsgeschichte erklärt nicht sondern sie zeigt; also sie zeigt in den vielen Erklärungen, die sie durchprobiert, – Erklärungen über den Lauf der Welt, über Gott und die Menschen – dass diese Erklärungen nicht funktionieren; und sie zeigt uns mit Hiob einen Menschen, der ohne jeden Grund und gegen jeden Grund – unerklärlicherweise! – dennoch an Gott festhält.

Hiob weigert sich schlicht, die Abwesenheit Gottes zu akzeptieren: Abwesenheit ist keine Option, ziemlich verrückt. Seine Gottessehnsucht schlägt Gottesferne: Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. 

Die christliche Lektüre – Hiob ist ja ein Buch im Alten Testament und wird von Juden und Christen gelesen – die christliche Lektüre wird in diesen Zeilen auch ihren Erlöser mitlesen und erkennen – „imaginieren“, wie Luther gelegentlich gesagt hat, also das Bild des – aus dem Staub – auferstandenen, lebendigen Erlösers Jesus Christus in diese Hiobverse eintragen. Noch so eine Glaubensvorstellung, die unserer Vernunft spottet: Auferstehungshoffnung schlägt Todesgewissheit, völlig verrückt!

Ein solcher Glauben mag manchen sinnlos erscheinen, aber er ist jedenfalls möglich, wie wir am Beispiel des Hiob sehen und lernen – und er kann unser nacktes Dasein umhüllen – in den überaus kleidsamen Worten des Propheten Jesaja:

Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. (Jesaja 61,10)