Predigttext für den Sonntag Jubilate, 25. April 2021

Als aber Paulus in Athen auf sie [nämlich auf seine Mitarbeiter Silas und Timotheus] wartete, ergrimmte sein Geist in ihm, da er die Stadt voller Götzenbilder sah. Und er redete zu den Juden und den Gottesfürchtigen in der Synagoge und täglich auf dem Markt zu denen, die sich einfanden. Einige Philosophen aber, Epikureer und Stoiker, stritten mit ihm. Und einige von ihnen sprachen: Was will dieser Schwätzer sagen? Andere aber: Es sieht aus, als wolle er fremde Götter verkündigen. Denn er verkündigte das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung. Sie nahmen ihn aber mit und führten ihn auf den Areopag und sprachen: Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du lehrst? Denn du bringst etwas Neues vor unsere Ohren; nun wollen wir gerne wissen, was das ist. Alle Athener nämlich, auch die Fremden, die bei ihnen wohnten, hatten nichts anderes im Sinn, als etwas Neues zu sagen oder zu hören.

Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt. Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, dass sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht. Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er richten will den Erdkreis mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat und den er vor allen Menschen bestätigt hat, indem er ihn von den Toten auferweckt hat. Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus weg aus ihrer Mitte. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen. (Apostelgeschichte des Lukas 17, 16-34)

Mein Chorbruder aus Weiterstadt, aus dessen Händen Sie Ihren Sonntagsspargel empfangen, hat in einem der besonders harmonischen Momente – so viele gabs davon nicht – während der Probe im Überschwang gesagt, dass man für die besten Chorlieder Latein brauche, dass sei das einzig Wahre.

Auch wenn dem jetzt nicht alle unbedingt zustimmen – die Matthäuspassion ist ja auch recht gelungen – möchte ich das Urteil eines wahren Kenners im Überschwang des Jubelsonntags Jubilate dahingehend erweitern, dass wahre Philosophie ebenfalls der Lateinischen Sprache bedarf. Und weil es heute, wie wir gehört haben um Philosophie geht, beginnen wir mal auf Latein.

Si tacuisses, philosophus mansisses. Hättest Du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben. Dieses lateinische Sprichwort, das sich nicht nur wegen der schönen auffälligen irrealen Konjunktive seit Schulzeiten in Erinnerung behält, möchte man z.B. gerne den 53 Schauspielern zurufen, die sich in der vergangenen Woche mit einer unsäglichen Aktion gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung blamiert haben: so selbstbezogen, so platt, so unlustig, so zynisch und abgehoben hätte man sie sich nicht gedacht, unsere Fernsehlieblinge; aber sie zeigen vor allem, dass sie witzig und pfiffig wohl nur bei guten Drehbüchern rüberkommen; dass sie in ihrer unheimlich verwöhnten Blase nicht mitbekommen zu haben scheinen, dass bisher allein in unserem Land weit über 80.000 Menschen und die meisten davon einen qualvollen Erstickungstod gestorben sind und viele, viele mehr persönlich oder durch Angehörige betroffen und Leidtragende dieser scheußlichen Plage geworden sind, gegen die sich zu wehren, jede Anstrengung wert ist; die Schauspieler zeigen, dass sie nicht mitbekommen haben, was gerade passiert und in welcher Zeit wir leben und sind genau darin das, was sie ausdrücklich vorgeben nicht zu sein: Corona-Leugner, Gesinnungsgenossen der Querdenker und Aluhütler, haltlose Schwätzer.

Si tacuisses, philosophus mansisses – Hättet ihr geschwiegen, hätte man euch weiterhin für witzig und spritzig, für verständig und sympathisch halten können.

Dabei taugt unser schönes lateinisches Sprichwort keineswegs als Leitlinie und Wahlspruch für alle Lebenslagen, wonach Ruhe dann wohl die erste Bürgerpflicht wäre. Manchmal muss man durchaus den Mund aufmachen, etwas riskieren, auch Missverständnisse riskieren um Missverhältnisse zu markieren. Manchmal muss man sich was trauen und dann heißt es auf gut Kölsch: Arsch huh Zeng ussenander! Hintern hoch und Zähne auseinander – und laut werden für die, denen Unrecht passiert; laut werden für die zu Unrecht Verfolgten, laut werden für die Gewalt Leidenden, laut werden für die Gerechtigkeit und die Wahrheit.

Manchmal muss man sich was trauen: Wenn gerade alles schief läuft, muss man sich was trauen wie vor 500 Jahren, ziemlich genau im April vor 500 Jahren 1521, als sich ein Augustinermönch aus dem wilden Sachsen sich was traut vor Kaiser und Reich, auf dem Reichstag in der alten Römerstadt Worms was traut und widersteht und widerspricht: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Luther traut sich was – und zwar nicht nur um der durch die mittelalterliche Kirche unterdrückten Wahrheit des Evangeliums sondern auch um der Gerechtigkeit der zu Unrecht Verfolgten und Verfemten willen, die wie Luther in Acht und Bann um ihr Leben fürchten müssen. Der Wormser Moment verdichtet den reformatorischen Kampf um Glaubenswahrheit und Gewissensfreiheit in eine ikonische Szene.

Manchmal muss man sich was trauen: Auch Paulus traut sich was. Der Evangelist und Apostelgeschichtsschreiber Lukas verdichtet hier einen Athener Moment in der berühmten Areopagszene und zeigt Begegnung und Konfrontation der Wahrheit des Evangeliums mit dem weltlich philosophischen Wissen seiner Zeit, das die griechische Kultur in der römischen Welt immer noch prägt. Paulus traut sich was.

In der von Lukas gestalteten, wenn nicht erfundenen, aber wenn dann gut erfundenen Szene stellt Paulus die Athener in Athen, er fordert sie heraus in ihrer eigenen Stadt, immerhin immer noch der Kulturhauptstadt der antiken Welt, trotz allmählich verblassenden Ruhms immer noch damals zu Paulus Zeiten der Nabel der geistigen Welt. Paulus traut sich was.

Welten treffen aufeinander: hier Athen und da Paulus der Anatolier mit sicherlich für die Athener merkwürdigem Akzent und Aussehen, Außenseiter, kein Spitzenreiter sondern Hinterwäldler – Ossi, wenn man die Athener für Wessis halten mag – römischer Bürger zwar, aber gebürtiger Jude und getaufter Christ vom fernen östlichen Rand des Mittelmeers; Apostel eines noch ganz und gar obskuren und marginalen Kultes, hervorgegangen aus einer obskuren und marginalen Religion; gesendet mehr aus eigenem Antrieb als durch äußere Autorität; kein Philosoph selbst sondern philosophischer Dilettant, Autodidakt, die kennt man, das sind die schlimmsten, die Autodidakten: Besserwisser, Rechthaber, Schwätzer, die sich hier und da etwas herauspicken, halb verdauen und dann unverständig als der Weisheit letzter Schluss zum Besten geben.

Solche Schwätzer und Körnerpicker entscheiden sich ja auch in der gegenwärtigen Krise immer wieder gegen das Schweigen und für das Geschwätz, leider: Hätten sie geschwiegen, dann hätte man sie weiterhin für voll nehmen können, die Philosophen und Ökonomen und Soziologen, die mit scheinklugen Reden uns beeindrucken und das Virus wegerklären wollen. Das aber lässt sich von solchem Geschwätz nicht beeindrucken. Wir manchmal leider schon.

So aber verspotten die im Text genannten Epikuräer und Stoiker den Paulus als Schwätzer, wörtlich als Körnerpicker und witzigerweise erinnert dieses Spottwort im Griechischen – spermalogos – an eine wichtige Lehre der stoischen Philosophie – an den logos spermatikos – nämlich an das sich in allem Lebendigen verstreuende Schöpfungsprinzip; göttlicher Geist und göttliches Wort, das alles durchdringt (übrigens nicht Tat, hier irrte Goethe).

Und genau daran, an diese Lehre, scheint Paulus in den Worten des Lukas anzuknüpfen, in dem er tatsächlich weitere Körner und Brocken, weitere Ideen und Wörter aufnimmt, um sie nun aber in seine ganz eigenen und ganz anderen Gedanken als die der Philosophen hineinzubinden. Deshalb kann nicht erstaunen, dass diese ihm am Ende das Wort abschneiden, bzw. die etwas Höflicheren das Gespräch zumindest scheinbar vertagen. Wenn der Pseudophilosoph, der Sokratesdarsteller – auch er ein Schauspieler in der falschen Rolle! – der Paulus in den Augen und Ohren der Stoiker und vermutlich mehr noch der Epikuräer ist, wenn er nicht schweigen will, muss man ihn zum Schweigen bringen.

Dabei hatte der Paulus in den Worten des Lukas durchaus Wesentliches der stoischen Philosophie aufgepickt und in seine christliche Verkündigung hineinverdaut: Wenn er vom unbekannten Gott spricht, der nicht in von Menschen gemachten Bildern verehrt werden kann; und mehr noch, wenn er den logos spermatikos in dem Dichterwort aufnimmt, dass wir Menschen in dem unbekannten, alles durchdringenden Gott leben und insofern seiner, also göttlicher Art sind: Denn in ihm leben, weben und sind wir; Wir sind seines Geschlechts.

Es geht dem Paulus hier nicht um eine Stoizisierung, oder allgemeiner um eine Hellenisierung des Christentums, wie ihm oft vorgeworfen wird, sondern im Gegenteil um eine Christianisierung des Griechentums, also um eine Taufe stoisch-griechischer Gedanken; z.B. wenn er das eigentlich pantheistisch gemeinte Motiv, auf das Leben der Christen in Christus anwendet aber dabei natürlich völlig umdeutet: In ihm – also in Christus, und zwar in Christus als Auferstandenem! – leben, weben und sind wir; oder in des Paulus eigenen Worten: Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Kreatur; siehe Neues ist geworden

War Paulus erfolgreich mit seiner Rede in Athen auf dem Areopag, dem Arishügel, ein Steinwurf entfernt vom Parthenon, dem Tempel der jungfräulichen Athene, der Göttin der wehrhaften Weisheit, also der Sophia, die ihre Freunde, die Philosophen bis heute anzieht (da sollten wir auch mal hin als Gemeinde auf Gemeindefahrt nach Athen, wenn das wieder geht!) um sich herum schart und versammelt?

Eher nicht, denn er mag den einen Dionysos vom Areopag überzeugt haben und die eine Damaris und ein paar andere – insgesamt sind sie aber, die griechischen und die meisten anderen Philosophen – und man kann sagen bis heute – bei ihrer Lehre geblieben; stoische Gedanken sind immer noch populär, gerade jetzt; und der hedonistische Atheismus als Leitreligion unserer Zeit lässt sich durchaus auf die Lehren der Epikuräer zurückführen.

Und doch ist es gut, dass Paulus damals auf dem Areopag nicht geschwiegen hat, dass er sich den Philosophen seiner Zeit gestellt hat, was diese zwar nicht überzeugen konnte, was uns Christen aber die Philosophie zur Verfügung gestellt hat, durchaus als Körnerpicker, was sage ich: als Rosinensucher und cherry picker der Philosophie; aber hoffentlich nicht immer als Schwätzer; was uns Christen die Philosophie als Landkarte und Werkzeugkasten, als Wörterbuch und Bildersammlung zur Verfügung gestellt hat, damit wir mehr und mehr als Gottsuchende das Geheimnis Gottes ergründen; des Gottes, der trotz aller unserer Gedanken, auch der allerklügsten, niemals aufhört das Geheimnis der Welt zu sein: Denn in ihm leben, weben und sind wir. Amen.

Selten hat der Kanzelsegen so gut gepasst wie heute:

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.