Predigttext für Pfingsten, 23. Mai 2021

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.

(1. Mose 11,1-9)

Wer auf dem Lutherweg von Oppenheim kommend in Richtung Süden nach Worms wandert, genießt nicht nur die unmittelbare Umgebung der Weinberge und Hügel – die hier rheinhessisch heimelig Hiwwel heißen und so ganz anders wirken als die vertrautere Gegend von Rheingau und Taunus – , sondern der kann auch den Blick schweifen lassen, weit schweifen lassen über den Rhein und die Rheinebene hinweg bis zum Odenwald hinüber, zum Melibokus und zur Starkenburg und den anderen Berglein, hoch sind sie ja nicht wirklich, die aber zusammengenommen ein schönes Gebirgspanorama abgeben. Die reine Erholung, für die Augen und den Geist – auch wenn der Weg sich ziehen kann. Zeugnis für Gottes unerschöpflichen Schöpfergeist.

Und mittendrin lenkt den Blick eine Ansammlung von hohen, mächtigen Türmen auf sich, Kühltürme eines Kraftwerks und die Hauben zweier Reaktoren, Biblis A und Biblis B; längst eine Industrie- und Bauruine, abgeschaltet ziemlich genau vor 10 Jahren unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima.

Die meisten von uns Älteren kennen noch die Diskussionen und die gesellschaftlichen Konflikte um die Atomkraft der 80er und der darauffolgenden Jahre, haben jeder für sich ein Bild davon, um was es ging – hoch her jedenfalls – und um was es geht. Über diese Konflikte ist in den Hintergrund geraten, welche Hoffnungen einst die geniale Ingenieurleistung der Kernspaltung begleitete, nämlich weit mehr als bloß die Sicherung der Energieversorgung sondern nicht weniger als die Bezähmung der Schöpfungskräfte durch den Menschen, der ein zweites Mal den Göttern das Feuer entreißt, Prometheus 2.0: Ihr werdet sein wie Gott! nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Die Diskussionen und Konflikte sind keineswegs beendet; der deutsche Atomausstieg aus Sorge vor der Unbeherrschbarkeit der Kernkraft und ihrer unbeherrschbaren Folgen für die Menschen der Zukunft, dieser Ausstieg blieb ein Sonderweg und gilt vielen unserer Nachbarn als Irrweg, als Irrweg gerade angesichts des menschengemachten Klimawandels und der Notwendigkeit auf fossile Brennstoffe zu verzichten.

Als Symbol für Triumph und Scheitern menschlichen Ehrgeizes taugen die nutzlos gewordenen und dem Ruin geweihten Türme in der lieblichen Landschaft des Rheintals allemal: Soviel haben wir gewollt, so wenig ist uns gelungen, so viel bleibt zweifelhaft. (Und so gibt es seit langem politische Plakate, die den Turmbau zu Babel in die Kühltürme von Biblis und den anderen Standorten einzeichnen, etwa in Bearbeitung der berühmten Babelturmbilder des Pieter Brueghel durch den Schweizer Plakatkünstler Pierre Brauchli.) Soviel haben wir gewollt, so wenig ist uns gelungen. Was ist da geschehen?

Die Turmbaugeschichte der Bibel verdankt sich derselben Frage: Was ist da geschehen? fragten die Menschen angesichts der großen, beeindruckenden Ruinen im Zweistromland, den Überresten der gewaltigen Zikkurate in Babylonien, der Tempeltürme und Wohnpyramiden, dieser Himmelshügel und Götterberge, wie sie genannt wurden, die aber schon zu biblischer Zeit nur noch ruinöse und zerfallene Denkmäler ihrer selbst waren. Was war da geschehen?

Offensichtlich lag schon damals nahe, die Ursache solcher Bauruinen im Hochmut – dass wir uns einen Namen machen – und im Streit der Menschen – wenn keiner des andern Sprache versteht – zu sehen. Manchmal wollen wir zu viel, riskieren wir zu viel und verlieren wir zu viel über unserem Ehrgeiz und über unserer Gier. Wer hoch baut, kann auch tief fallen. Wer zu viel will, wird am Ende alles verlieren. Hochmut kommt vor dem Fall.

Unsere Predigttext-Geschichte macht insbesondere Mängel und Fehler der Kommunikation für das Scheitern des Projekts verantwortlich. Wer etwas erreichen will, muss die gleiche Sprache sprechen mit denen er etwas erreichen will. Das leuchtet unmittelbar ein für den Betrieb einer Baustelle: Wer den Auftrag nicht versteht, kann ihn nicht ausführen; und wer das Problem nur auf sumerisch äußern kann, wird der nicht begreifen, der sich vornehmlich auf hetitisch verständigt; und manchmal versteht man noch nicht einmal seinen rheinhessischen Nachbarn: In ländlicher Abgeschiedenheit kann selbst der obligate Kauf von Weck, Woscht und Woi zum Abenteuer mit ungewissen Ausgang werden; es soll Norddeutsche geben, die mit leeren Händen die Warentempel rheinhessischer Kulinarik verlassen mussten. Darüber hinaus gibt es ausgezeichnete Möglichkeiten in derselben Sprache aneinander vorbei zu sprechen – oder noch in denselben Worten in unterschiedlichen Welten zu leben.

Das könnte man leicht zeigen in den Konflikten unserer Zeit, sozusagen auf den Großbaustellen in der ganzen Welt:

– Bis heute gibt es keine gemeinsame Erzählung über die Atomkraft, ihrer Chancen, ihrer Gefahren, ihrer Katastrophen. Erst kürzlich habe ich einen seriös gemeinten Zeitungsartikel von einem offensichtlich klugen und informierten Menschen gelesen, der behauptete, dass Atomkraft die Energie der Zukunft sei und dass es ja weder in Tschernobyl noch in Fukushima unmittelbar Tote gegeben habe, während gleichfalls seriöse Untersuchungen internationaler Organisationen unter Verweis auf tausende Opfer allein dieser beider emblematischen Unglücke unserer Zeit jede weitere Nutzung rundherum ablehnen.

– Oder in den Wahrnehmungen und Deutungen der Pandemie finden die Befürworter und Gegner mancher oder aller Maßnahmen trotz derselben Sprache keine gemeinsame Sprache. Auch hier scheinen – und zwar diesseits der offensichtlich durchgeknallten Leugner und Hetzer – offensichtlich rationale und um Informationen bemühte Kommentatoren in verschiedenen Welten zu leben und zu argumentieren, wenn „No-Covid“ für die einen eine – und zwar die beste und vernünftigste – Möglichkeit ist, die Pandemie einzudämmen, für andere aber nur für die unvernünftige Illusion der Totalvermeidung des Lebensrisikos steht, die das Leben selbst erstickt.

– Oder – schrecklich und traurig zugleich – im gegenwärtigen und schon so alten Konflikt im Heiligen Land, wenn so viele auf beiden Seiten nur jeweils ihr Leid und ihr Recht sehen und nicht das der anderen. Nicht selten blenden die ehrlich herzzerreißenden Opferberichte der einen das Leid der anderen völlig aus.

Wir würden sicherlich auch im Kleinen und im persönlichen Nahbereich – in Familien, unter Freunden, in Gemeinden – immer wieder auf Konflikte stoßen, die an diesem Mangel einer gemeinsamen Sprache, die an diesen Fehlern der Kommunikation, die an der Verweigerung von Empathie leiden, die Familien und Freundschaften zerbrechen lassen und Gemeinwesen schädigen. Es sind ja nicht schon die widerstreitenden Interessen und Ansprüche an sich, die zum Konflikt führen, sondern die Verweigerung diese zu verhandeln.

Unsere Geschichte vom Turmbau zu Babel – was hier durchaus lautmalerisch gemeint ist: Babel – Gebabbel; aber nicht in seiner sympathisch mundartlichen Variante unserer Heimat sondern als unverständliches pseudosprachliches Geräusch – gibt hier bloß den Hinweis, dass solche Konflikte letztlich Sprachkonflikte sind; aber sie löst sie nicht auf, sie zeigt keine Lösungen, weist nicht über die Ruinen, den Ruin hinaus. Auch wenn das Problem erkannt ist, ist es noch lange nicht gebannt. Was kann helfen?

Die Pfingstgeschichte, wie sie der Evangelist Lukas erzählt, gibt eine Antwort; sie ist in gewisser Weise eine Antwort auf die uralte Sage vom Turmbau, wenn nämlich an Pfingsten die gemeinschaftszerstörende babylonische Sprachverwirrung zurückgenommen und aufgehoben wird – durch den Geist Gottes. Der wirkt nach dem breiten und einheitlichen Zeugnis der Bibel und so auch hier in den Worten des Lukas, dass er Sprachblockaden überwindet, Kommunikationsknoten löst, Einfühlung in die anderen empfiehlt. Es geht darum, wieder – und trotz allen Widerwillens – gemeinsam und miteinander zu sprechen – von mir aus auch zu babbeln, zu quatschen, zu quasseln, zu schwätzen – gerne wie einem der Schnabel gewachsen ist, aber auch so, dass einem am Verständnis der anderen etwas liegt, mit Interesse.

Macher – vor allem solche, die sich selbst für welche halten – meinen manchmal, dass irgendwann genug geredet sei und jetzt mal „gemacht“ werden müsste; kann schon sein. Aber dieses „irgendwann“ ist nicht unbedingt schon dann erreicht, wenn meine Geduld aufgebraucht ist und ich keine Lust mehr aufs Zuhören habe. Eine Alternative zu Verhandlungslösungen gibt es nicht – was auch furchtbar altklug klingt aber deshalb nicht weniger stimmt. Probleme und ihre möglichen Lösungen müssen solange erklärt werden, bis sie verstanden werden. Und manchmal kann es dann sogar besser sein, nix zu tun als das offenkundig Falsche.

Die Grundlage solcher Verhandlungen, solcher Gespräche wird immer das Gemeinsame der Streitenden sein, gemeinsame Interessen, gemeinsame Geschichte, gemeinsame Ziele, gemeinsame Überzeugungen; so wie Petrus an Pfingsten die gemeinsame Heilsgeschichte und die gemeinsame Sehnsucht benennt und darüber die Hörenden zusammenführt.

Angesichts der babylonischen Turmruinen im Rheintal liegt das Gemeinsame sowieso auf der Hand, aber vielleicht tut es gut nochmal davon zu sprechen, frei nach Karl Valentin, dass zwar schon alles gesagt wurde, aber noch nicht von allen und noch nicht bei jeder Gelegenheit: Wer könnte, wer wollte die unvergleichliche Schönheit dieser Ebene gefährden, riskieren. Kein wirtschaftlicher Gewinn, kein Mehr an Bequemlichkeit könnte den Verlust einer bewohnbaren Heimat gutmachen, dieser jahrhundertealten Kulturlandschaft voller Naturschönheit, Handlungsort unserer Geschichte – nicht nur Luther war hier; Goethe sowieso – und Erbe für unsere Kinder und Enkel, sichtbar gesegnet durch Gottes Schöpfergeist. Ausschöpfen werden wir das nie, weder in unserem Erleben noch in unserem Reden. Aber gut, dass wir mal wieder darüber gesprochen haben. Amen.