Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden.
Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des Herrn Mund hat’s geredet.
Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.
Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der Herr! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen.
Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
(Buch des Propheten Jesaja 40, 1-11)
Wege in der Wüste: In der Berichterstattung der aus deutscher Sicht ziemlich verkorksten Weltmeisterschaft in Qatar – Tröstet, tröstet mein Volk! – geht es nicht nur um Fußball, sondern auch um die Lebensbedingungen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Land. Da gibt es nach Meinung derer, die sich ein Urteil erlauben – und hoffentlich auch erlauben können! -, viel zu beanstanden: Unsicherheit der Menschenrechte und ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe von Frauen zuerst – und manches mehr.
In dieser von den Qatarern nicht immer als fair empfundenen Kritik ihrer Gäste, die aus ihrer Sicht mit zweierlei Maß misst, kommt die Anerkennung für den offensichtlichen Wandel der qatarischen Gesellschaft und für den ungeheuren Fortschritt zu kurz. (Und ob man sich wirklich darüber aufregen sollte, dass sich die Fans nicht in den Stadien betrinken dürfen, sei einmal dahingestellt, zumal es in einigen europäischen Ländern ja ebenfalls ein solches Verbot aus vernünftigen und jedenfalls nicht religiösen Gründen gibt.) Man kann auf jeden Fall Dümmeres mit seinem Reichtum machen, als die Infrastruktur auszubauen und seine natürliche Lage als Drehscheibe zwischen Ost und West zu optimieren.
In einem klugen und nachdenklichen Fernsehfeature hat kürzlich die ZDF-Korrespondentin Golineh Atai über die für die Weltmeisterschaft neu gebaute Metro in Qatar gesprochen, die als pünktliches, modernes, umweltfreundliches Verkehrsmittel die Stadien mit der Stadt und vor allem die Fans aus aller Herren Länder miteinander verbindet. Zumindest wir Wiesbadener, die wir uns selbst aus reiner Doofheit die Citybahn vermasselt haben, hätten hier allen Grund für Respekt: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Bei uns gibt es schon lange keine freie Bahn, kein Durchkommen mehr. Ob der vom Propheten angekündigte Herr durch den Wiesbadener Stadtverkehr käme, muss bezweifelt werden.
Ob wir die Freudenrufe – Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht – ob wir solche Rufe in unserem Advents- und Weihnachtsrummel hören und vernehmen könnten, ist ebenfalls zweifelhaft; und in Qatar würden und dürften sie wohl auch so nicht erklingen, zumindest keine Zions- und Jerusalemrufe im selben Atemzug, denn dort hat eher der antizionistische Eifer einen Ort, mit der Fahne der Palästinenser als auffälligste Farben der örtlichen Fans. Betrüben muss uns das wohl, aber auch darauf ist nicht mit dem Finger zu zeigen, solange bei den einschlägigen Demonstrationen in Berlin und anderswo bei uns dieselben Fahnen geschwungen und dieselben Verwünschungen auf den Staat Israel gegrölt werden. Verwüstungen hier wie dort!
Unser Predigttext will sie überwinden; er verkündet einen Weg durch die Wüste, fordert Wege durch unwegsames Gelände, Infrastrukturen durch natürliche und gesellschaftliche Lebensfeindlichkeiten aller Art. Eine Schneise für die Menschlichkeit, damit Gott zu uns kommen kann. Wüsten- und Stadtbahnen des Humanismus inmitten der Unmenschlichkeit.
Ursprünglich war unser Text, der einen völlig neuen und anders klingenden Abschnitt im Jesajabuch einleitet und der deshalb einem zweiten Jesaja, dem „Deuterojesaja“ zugeschrieben wird, auf den Heilspropheten bezogen, der das Ende des Babylonischen Exils wahrnimmt, sei es, dass er es vorausahnt oder schon miterleben kann. Der Weg durch die Wüste ist also zuerst der Weg aus Babylon zurück, auf dem der Heilsbringer den Exilanten vorausgeht, die ihre Heimat wiedersehen sollen: Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden.
Zu anderen Zeiten konnte unser Prophetenwort weiterverwendet und abgewandelt werden, so etwa für den Bußprediger und Täufer Johannes, der uns unsere menschliche Vergänglichkeit vor Augen führt, unsere Umkehr will und damit den Weg Jesu bereiten will: Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.
Und so gelangt es also auch im Advent an unsere Ohren als Hoffnungswort, das Wege durch unsere Wüsten und Verwüstungen für möglich hält. Nicht unbedingt als Aufruf, Nah- und Fernverkehr auszubauen, sondern überhaupt die Wege zueinander, in der Hoffnung, dass dort, wo wir zueinander finden, auch Gott uns findet und für uns da ist: Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen. Trost und Hoffnung also auch für uns, die wir uns in unseren Wüsten verlaufen haben.
Amen.