Predigttext an Weihnachten 2022

[Das Geheimnis Gottes, das ist Christus.] In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch und freue mich, wenn ich eure Ordnung und euren festen Glauben an Christus sehe. Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist. 

(Brief des Paulus an die Kolosser 2,3-10)

Es war einmal – so fangen Märchen an – es war einmal eine Zeit, dass die Menschen ganz selbstverständlich, in aller Naivität oder in tiefer Weisheit im Glauben ihr Leben führten, vor Gott ihr Tagwerk verrichteten und sich von seinen Engeln in den Schlaf betten ließen:

Abends, will ich schlafen gehn,
vierzehn Engel um mich stehn:
zwei zu meinen Häupten,
zwei zu meinen Füßen,
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
zwei die mich decken,
zwei, die mich wecken,
zwei, die mich weisen
zu Himmels Paradeisen!

Das war das Abendgebet meines Vaters – Gott hab ihn selig – das ihn im Glauben  hoffentlich dorthin geführt hat, wovon er sprach. Er hat den Glauben an Himmels Paradeisen ausdrücklich geteilt und es erfüllt mich noch heute mit wilder Scham, wenn ich mich an ein Gespräch von vor 40 Jahren erinnere, bei dem ich ihm als Erstsemester der Theologie seinen naiven Kinderglauben an das Paradies im Himmel austreiben wollte. Es bleibt nur zu hoffen, dass ich ihn nicht weiter mit meinen halbgaren säkularen Belehrungen beeindruckt habe!  

Gerade an Weihnachten gehen unsere Gedanken an die, die nicht mehr mitfeiern können. Wir beziehen sie ein, nennen Erinnerungen, halten ihnen einen Platz frei, wenn nicht am Tisch, so doch im Herzen. Je älter wir werden, desto mehr feiern mit uns, die nicht mehr mit uns feiern können. Deshalb ist die Weihnachtsstimmung für viele keine ausgelassene Fröhlichkeit, dazu passierte zu viel über die Jahre, sondern sie ist eher eine verhaltene Freude und das Gefühl aufgehoben zu sein in Erinnerungen, Ritualen und der Hoffnung auf das, was uns unsere Eltern und Großeltern zu glauben gelehrt haben und uns selbst die aufgeklärtesten Pfarrer nicht ausreden konnten: „Himmels Paradeisen“, zu denen an Weihnachten die Tür geöffnet wird: „Lobt Gott ihr Christen alle gleich, in seinem höchsten Thron, der heut schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn“.

Zu den liebsten Ritualen der Weihnachtszeit gehört der Besuch der Märchenoper „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdincks Weihnachtsklassiker, der in Wiesbaden seit Jahren mit großem Erfolg aufgeführt wird, wobei sich Kenner und Veteranen darüber streiten, ob nicht die vorherige Inszenierung der seit 2015 gespielten aktuellen Version vorzuziehen ist, weil nämlich einfach die Hexe damals mehr Wumms hatte, viel böser war, echten Schrecken verbreiten konnte – und darum auch die Befreiung aus ihrer Herrschaft umso mehr Erleichterung schuf: als Erlösung vom Bösen.

Anders als die aktuelle Inszenierung und mit ihr viele weitere heutzutage, die die religiöse Dimension des Stücks mehr oder weniger völlig ausblenden, spielt die Oper Humperdincks – unseres Straßennachbarn; soviel Lokalstolz muss sein! – mit zahllosen Motiven der Volksreligion, wie etwa der von Gott heraufgeführten strafenden und ausgleichenden Gerechtigkeit, und variiert zentrale Themen der Bibel, wie z.B. der Himmelsleiter oder dem aus dem Vaterunser bekannten Strukturgegensatz Versuchung und Erlösung: „Führe uns nicht in Versuchung – des Knusperhauses, sondern erlöse uns von dem Bösen – der bösen Hexe“. Dabei bildet der Abendsegen der vierzehn Englein Mitte und Schwerpunkt des Stücks, und sein musikalisches Motiv zieht sich an allen wichtigen Momenten durch. Die Oper beginnt und endet mit ihm und lässt es immer wieder leitmotivisch anklingen, so dass sie allein musikalisch als Erlösungsdrama anzusprechen ist.

Die säkularisierte Fassung in Wiesbaden, die Religion und Glauben ausblendet, verweigert der Musik ihre sichtbare Entsprechung auf der Bühne und scheint darauf zu hoffen, dass die Besucher das Stück nicht gut genug kennen oder die Sänger nicht verständlich singen. Augenfällig wird das in der Engelspantomime direkt nach dem Abendsegen, wenn statt Himmelsleiter und den Engeln auf ihr und dann um die schlafenden Kindern herum eine Schar Waldgeister – herrenlose Mächte und Gewalten – in phantasievollen Kostümen aus dem Wald strömt und die Kinder neugierig besichtigt. Für sich genommen ist das eins der schönsten und wirkungsvollsten – nämlich märchenhaftesten – Bilder der ganzen Aufführung, im Kontext der Musik aber eine verfälschende Säkularisierung.   

Mit unserem Bibelwort gesprochen, wird den Mächten und Gewalten ihr Haupt, nämlich Christus, genommen. Man muss das für keine theaterdonnernde Dramatisierung halten: Indem zugunsten der Überlieferung der Menschen und der Elemente der Welt der christliche Glaube ausgeblendet wird, verlieren wir die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig und darüber alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Das mag für einen Abend in der Oper leicht zu verschmerzen sein – wie gesagt: die Wiesbadener Inszenierung ist unbedingt einen Besuch wert, morgen ist übrigens die letzte Aufführung in dieser Saison – aber für unser ganzes Leben betrachtet bedeutet unsere religionslose Existenz einen immensen Schaden an Leib und Leben.   

Lasst uns also nicht den Märchen von der gottlosen Welt glauben, wie sie gegenwärtig in den Gazetten erzählt werden, wenn bis in die sich für konservativ haltende Presse hinein der Säkularisierungsmythos gepflegt wird. Christlicher Glaube scheint gerade rechtfertigungspflichtig zu werden. Was, Du bist noch Mitglied der Kirche? Dabei heißt Religionsfreiheit doch nicht allein und nicht zuerst Freiheit von Religion, sondern Freiheit zur Religion. Ich darf glauben – auch im säkularen Staat. Und zu glauben tut nicht nur mir sondern auch der Gesellschaft gut: Ohne Gott verliert unsere menschliche Existenz die maßgebliche Instanz, die uns erst zur Rechenschaft zieht. „Ihr werdet sein wie Gott“ – lautet die Verheißung der Gottlosigkeit.

Gegen die Säkularisierungsdepression in- und außerhalb der Kirche setzt unser Predigttext einen putzmunteren, selbstbewussten, offensiven Ton, von dem wir einiges lernen können: Lasst euch nicht betrügen mit verführerischen Reden. … Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist. 

Wie heißt es noch im Märchen am Ende: Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wenn er nicht gestorben ist – nämlich der christliche Glaube – dann wird er auch morgen noch leben und wirken, in uns und unseren Kindern; tagsüber, aber auch in unseren Abendgebeten, die wir ihnen weitergeben; und das nicht nur zur Weihnachtszeit:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.  

Amen.