2. Sonntag nach Epiphanias, 15. Januar 2023

Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. (2. Buch Mose 33, 18-23)

Auch ein schöner Rücken kann entzücken; und der verlängerte Rücken sowieso und so hat es sich der große Michelangelo nicht nehmen lassen – hat es gewagt! – an die Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom – ja genau da, wo die Päpste gewählt werden, wenn sich nicht die Besuchermassen Rücken an Rücken aneinander reiben – neben vielem anderen auch das entblößte Hinterteil Gottes darzustellen, jetzt nicht genau als Illustration unserer Bibelstelle mit dem Gespräch Gottes mit Mose hier, sondern den Moment der Schöpfungsgeschichte, wenn Gott der Gärtner „aus der Erde Gras und Kraut aufgehen lässt, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art.“ (1. Mose 1,11f.) Da steht zwar gar nichts von Rücken oder verlängertem Rücken, aber vielleicht hatte der Künstler ja einschlägige Erfahrung mit der Gartenarbeit, die bekanntlich mächtig in den Rücken ziehen kann. Dass die Rückenansicht Gottes nicht nur gärtnerisch relevant und künstlerisch herausfordernd, sondern eben auch theologisch interessant ist, erfahren wir heute. Warum ist das so?

Eigentlich ist ja nach biblischer wie auch gegenwärtiger Vorstellung das Angesicht die Schnittstelle der Kommunikation; wenn wir mit jemandem sprechen, wenden wir ihm uns zu; das gebietet allein die Höflichkeit, und wenn wir jemandem wieder den Rücken zuwenden, ist das Gespräch beendet. Im Angesicht unseres Gegenübers vergegenwärtigt sich dessen Person; wenn das Gesicht verhüllt ist, fehlt da etwas; der Gesprächspartner ist nicht in derselben Weise da, wenn das Gesicht bedeckt ist. Deshalb bereiten uns ja religiöse Verschleierung oder Gesichtsmasken zum Schutz vor Ansteckung solche Probleme – von der Vermummung von Straftätern mal ganz abgesehen. Wenn das Gesicht fehlt, fehlt etwas zur Kommunikation, eigentlich.

Deshalb spricht die Bibel in ihrem hemmungslosen Anthropomorphismus, wenn sie von Gottes Zugewandtheit spricht, immer wieder vom Angesicht Gottes, dass sich den Menschen zum Segen zuwendet: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ (4. Mose 6,24-26)

Das schöne Wort der diesjährigen Jahreslosung hat genau das zum Inhalt und lädt uns ein, darüber nachzudenken: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13); ein Gott, der mich ansieht in meiner Not, wie es die Psalmen oft und oft bitten, beten und singen; ein mich ansehender Gott, einer der weiß, wie es um mich steht, der meine Sorgen kennt, sich kümmert: ein Kenner und Kümmerer. Ohne seinen Segen können wir nicht gedeihen. Dass Gott uns dagegen seinen Rücken zuwenden könnte, müsste uns mit Sorge erfüllen.

Es sei denn Gott wendete uns seinen Rücken aus reiner Rücksicht und Barmherzigkeit zu, wie hier an unserer Bibelstelle Gott dem Mose aus Rücksicht den Rücken zukehrt. Denn das ist der Grund für Gottes Verhalten hier. Der Lichtglanz – das ist mit Herrlichkeit gemeint – der Lichtglanz von Gottes Angesicht müsste den Mose – wie ein brennender Dornbusch – verbrennen; so wie es unsere Augen verbrennt, wenn wir – etwa allzu neugierig bei einer Sonnenfinsternis – ungeschützt in die Sonne schauen – oder so wie die Haut verbrennt, wenn wir uns zu lange der Sonne aussetzen; aber auch so wie es uns verlegen macht und uns die Augen senken lässt, wenn wir plötzlich einen bisher nur aus der Ferne geliebten oder bewunderten Menschen erblicken. Beides lässt uns rot werden – als sozusagen psychosomatische Mimikry einer Verbrennung; autsch! Das tat weh.

Gott ist nach den biblischen Erzählungen recht erfinderisch, wenn es darum geht, seine Gesprächspartner zu schützen; kurz zuvor wird davon erzählt, dass Gott und Mose „wie Freunde von Angesicht zu Angesicht“ gesprochen haben; Gott scheint also seinen Herrlichkeitslichtglanz womöglich auf einen besseren Verträglichkeitsgrad dimmen zu können. Und an anderer, späterer Stelle wird davon erzählt, dass Mose trotz aller göttlicher Rücksicht noch so sehr strahlte nach seinen Gottesbegegnungen, dass er seine menschlichen Gesprächspartner mit dem Überziehen einer Decke zu schützen hatte.

Der direkte Blick in Gottes Angesicht würde uns blind machen. Die unmittelbare Gegenwart Gottes ist mehr, als wir Menschen aushalten könnten. Eine Erkenntnis Gottes ist auf diesem – scheinbar direkten – Weg nicht zu gewinnen. Dafür sind wir vielmehr auf Gottes Äußerungen angewiesen, auf seine Offenbarung. Aus dem brennenden Dornbusch lässt Gott sich dem Mose hören: „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14) – was ein erklärendes Wortspiel über seinen Namen ist: JHWH, der nicht ausgesprochen werden darf und doch angerufen werden will, der sich entzieht, aber doch da ist, für mich da ist; und immer schon da war.

Und an unserer Stelle klingt es dem Mose aus Gottes Lichtglanz ganz ähnlich hervor: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Was uns Gott nicht selbst über sich mitteilt, werden wir nie erfahren. So aber können wir wissen, dass Gott je und je für uns da ist und da sein wird, sich um uns sorgt, uns nachgeht und nach uns sieht: sein Angesicht uns zuwendet, bzw. immer schon zugewendet hat; darin uns und die anderen um uns erleuchtet; etwa wie die Sonne den Mond anleuchtet und ihn damit der Dunkelheit der unendlichen Weiten des Universums entzieht.

Man kann das für die Pointe der Lichtglanzökonomie Gottes halten, dass wir in Gottes Licht nicht Gott selbst erkennen – nämlich weil wir ihm darin nie anders als rückwärtig, nie anders als von uns weggewandt, als vorübergegangen – also bloß in seiner Verborgenheit gewahr werden, aber ihn eben nicht eigentlich erkennen – sondern im besten Fall uns selbst und die anderen erkennen, um die es Gott geht: den Nächsten, der mich als Reflex von Gottes Gnade und Barmherzigkeit braucht. Auf ihn wird der Gottsucher verwiesen, ihn strahlt der herrliche Glanz Gottes an; in Gottes Spur finde ich die anderen, die mich brauchen, denen ich zum Nächsten werden kann.

Der große jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Levinas schreibt: „Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit […] Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus. Zu ihm hingehen, heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die anderen zugehen, die sich in dieser Spur halten.“ (E.L. Die Spur des Anderen [1992] 235; zitiert nach M.L. Frettlöh, Gottes nackter Hintern und das nackte Antlitz des anderen Menschen. Beobachtungen und Reflexion zu einem tabuisierten göttlichen Körperteil, in: konstruktiv. Theologisches aus Bern 39/2012; theol.unibe.ch)

Das Entzückende an Gottes Rücken zeigt sich mir also als Leuchten im Gesicht meines Nächsten. Oder umgekehrt: Wenn ich Gott suche, lässt er sich in meinem Mitmenschen finden.