Predigttext für den Ostermontag, 10. April 2023

Knospen

Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa sechzig Stadien entfernt; dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von denen, die mit uns waren, gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war.Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen.Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach.
(Lukasevangelium 24,13-33)

Zu den peinlichsten Momenten gehört es, nackt dazustehen. Nackt am falschen Ort. Und damit meine ich nicht einmal einen Mangel an Kleidung – das kann ja auch lustig sein; etwa wenn einem der ehemalige Stadtkämmerer im Opelbad begegnet im bauchtiefen Wasser und – keine Angst! – selbstverständlich mit Badehose bekleidet, aber eben nur mit dieser, und wir die Weltlage im allgemeinen und den Gottesdienst vom vergangenen Sonntag im besonderen Revue passieren lassen! – das war ein bisschen peinlich, aber auch sehr komisch; ein bisschen so wie in dem berühmten Sketch von Loriot mit den beiden Herren, die sich unverhofft in derselben Badewanne begegnen; also nicht auf diese Weise nackt ist jetzt gemeint, sondern ich meine das „Nackt-am-falschen-Ort-Dastehen“ im übertragenen Sinne: also keine Ahnung zu haben aber so zu tun als ob: Klugscheißen ohne Klugheit; Rechthaben ohne recht zu haben; ein Kaiser ohne Kleider.

Zu meinen peinlichsten Momenten gehört der, als ich einem Freund und Mitstudenten einen lateinischen Satz verunklärte und nach zähen Minuten falscher Belehrung nicht nur merken musste, dass ich in dieser Sache völlig unrecht hatte, sondern auch, dass mein geduldiger Gesprächspartner ohnehin viel besser diese keineswegs tote aber für mich in diesem Fall tödliche Sprache beherrschte. Was brannte mir Toren in diesem Moment das Herz – aber anders als in der gerade gehörten Geschichte der Emmausjünger.

An diesen und ähnliche Momente der geistigen Nacktheit, von denen es in meiner glanzlosen Theologenlaufbahn leider etliche gibt, fühlte ich mich erinnert, als ich unseren Text für diese Predigt neu gelesen habe: ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten, was sie aber nicht daran hinderte, ihm, den sie nicht erkannten, sein Leben, Leiden und Sterben zu erklären. Das entspricht ja ziemlich genau der Situation von uns Pfarrern und Predigern, wenn wir den Glaubenden ihren Glauben erklären. Auch das endet regelmäßig in der beschämenden Erkenntnis, dass die Angesprochenen längst wissen und wissend glauben, worum der Geistliche noch ringt. Am interessantesten wird es übrigens dann, wenn der Gesprächspartner seinen Teil mit dem Sätzchen eröffnet: „Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich kann das nicht glauben und bin sozusagen bekennender Atheist, aber …“ Dann kann man sicher sein, ganz viel über dessen Glauben und den eigenen Unglauben zu erfahren.

Zu den unerklärlichen und unverdienten Glücksfällen unserer Glaubensgeschichte gehört, dass nicht nur die Emmausjünger sondern auch wir an einen wie Jesus geraten, der unsere Ahnungslosigkeit in geistigen und geistlichen Angelegenheiten nicht krummnimmt; dem zwar ein kräftiges „O ihr Toren“ entfährt, der aber gleichwohl mit ebenfalls unverdienter und unerklärlicher Geduld unsere Nacktheit bedeckt, mit uns im Gespräch bleibt – „immer im Gespräch bleiben!“ sagt der nette, weise und geplagte Vater ehemaliger Konfirmanden im Gespräch an der Supermarktkasse über die unendlichen Qualen der Pubertät und deren Bewältigung – Jesus also, der mit uns ewig religiös Pubertierenden, also des Glaubens sich Schämenden, im Gespräch bleibt, der uns auf unseren Wegen begleitet, uns Aufmerksamkeit schenkt und noch aus unseren törichtsten Einwänden und wunderlichsten Irrtümern Erkenntnisse über das Geheimnis des Glaubens erweckt. Wie das?

Genau so wie es in unserer Geschichte steht: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und: und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach. Natürlich gibt es 1000 weitere Arten, Gott und seinem Sohn zu begegnen, aber die beiden hier genannten und gemeinten scheint Jesus für besonders erfolgversprechend zu halten: Nimm hin, und lies; nimm hin, das ist mein Leib, mein Blut, iss und trinke! In sein Wort und sein Mahl ist Jesus für uns auferstanden, heißt das doch. In den Sakramenten der Heiligen Schrift und des Abendmahls öffnen sich für uns Türen zu Gott: Machet die Türen weit und die Tore in der Welt hoch! Lasst ihn mit Wort und Brot in eure Welt.

Aber auch das weiß jeder, der schon einmal durch eine Tür gegangen ist: Türen öffnen sich, schließen aber eben auch, klemmen, werden verriegelt, werden zugeschlagen, bleiben verschlossen. Macht das was?

Macht nichts, denn auch darauf hat unsere erstaunliche Geschichte eine Antwort, oder gibt zumindest einen Hinweis: Eben noch wird von Jesus als unverhofftem und zunächst unerkanntem Abendmahlsgast gesprochen: Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. In diesem Moment erkennen sie ihn: Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Woraufhin Jesus die Szene – und zwar nicht durch eine Tür, also geistergleich – verlässt: Und er verschwand vor ihnen. Exit Ghost, wie es bei Shakespeare heißen würde und heißt: Exit Ghost. Was aber in einem schönen Paradox nicht zuerst die Abwesenheit des physischen Jesus betont, sondern seine geistige Anwesenheit in Wort und Brot bezeugt. Weg ist er – aber auf eine sehr qualifizierte Weise auch ganz gegenwärtig.

Oder anders: Noch nicht einmal auf Tür oder Tor ist er angewiesen bei seinem Besuch bei uns Toren. Er wird jedenfalls auch Wege zu uns finden, von denen unsere Schulweisheit nichts ahnt, auf die wir aus Torheit stolzer sind, als es weise wäre zu sein. Er wird das nicht gegen uns verwenden, sondern die Blöße unseres Unglaubens, unserer Überheblichkeit und unserer Verbohrtheit zudecken mit dem Mantel seiner Wahrheit und dem Kleid seiner Gerechtigkeit. Amen.