Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat. Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. (1. Mose 2,8-15)
Wo ist das Paradies, wo seine Flüsse, wo fließen sie hin?
Pischon, Gihon, Tigris, Euphrat – wer die vier Ströme des Paradieses in seinem Schulatlas sucht, wird nur halb fündig. Allein Euphrat und Tigris finden sich bis heute als erdkundlich beschreibbare Orte, sie umgrenzen das Zweistromland, Mesopotamien, das Land zwischen den Strömen, den heutigen Irak; bis heute nicht wegen seiner Paradieshaftigkeit bekannt und regelmäßig in den Nachrichten, sondern ganz im Gegenteil seit Jahrzehnten Kriegsort und Schauplatz höllischer Verwüstungen.
Während also Euphrat und Tigris nach wie vor auffindbar sind – wenn auch keineswegs als Paradies – ist die Suche nach Pischon und Gihon vergeblich, vermutlich wäre sie das schon in der Antike gewesen, weil die beiden Flüsse, trotz ihrer umständlichen und scheinbar genauen Verortung als symbolische oder mythologische Orte gedacht waren, sei es um eine Vierzahl voll zu machen, analog den vier Himmelrichtungen; sei es um ihre Unauffindbarkeit sicherzustellen, auch des Paradieses selbst, das verloren ist und bleibt; sei es – im Gegenteil – um ihre Auffindbarkeit in den Flüssen der eigenen Nachbarschaft zu ermöglichen: Wenn ich nicht weiß und nicht definitiv wissen kann, wo Pischon und Gihon fließen, könnte damit doch auch Rhein und Main oder Maas und Mosel, und wenn wir dabei sind auch Rambach und Goldbach gemeint sein. Wenn das Paradies nirgendwo ist, kann es überall sein; so vielleicht die listige Logik des unbekannten Autors unserer Geschichte.
In jedem Fall – und da würde uns auch unser Erdkundelehrer beipflichten – braucht ein Ort, der Paradies genannt zu werden verdient, Wasser, reichlich Wasser, Ströme von Wasser; Wasser, das dem umliegenden Land leben schenkt. Auch insofern kann jeder Wasserlauf zum Paradiesstrom werden, nicht nur die Wasserläufe, die in der Antike aus den Flussoasen am Nil, an Euphrat und Tigris, aber doch auch an Indus und Ganges, an Yangtse und Hoangho die ersten Hochkulturen haben werden lassen.
Noch die einfache Geschichte der Bibel vom Garten Eden und seinen Flüssen bewahrt das Wissen von den Flusstälern als Anfang menschlicher Zivilisation. Allerdings bewahrt sie das Wissen vom Anfang der Zivilisation als Gefährdung des Paradieses und der Zerstörung der Oase gleich mit – als Opfer ihres eigenen Erfolges.
Außer Fruchtbarkeit schenken die Ströme des Paradieses auch Möglichkeiten der Kommunikation, des Austauschs und des Verkehrs. Denn anders als heute, wenn Flussläufe vor allem als Hindernisse erlebt werden und überquert werden müssen, weil wir uns meistens an Land bewegen, waren sie für die Alten ideale Bedingungen der Fortbewegung, so dass sich an ihren Ufern entlang Kulturen ausbreiteten und menschliche Entwicklung sichtbar wurde – menschengemachte Zerstörung ja auch. Die Wikinger fuhren ihrerzeit die Flüsse hinauf – weniger um ihre Kultur zu bringen als fremde zu rauben.
Die vier Ströme des Paradieses, die aus einem Ursprung, einer Quelle heraus die ganze Welt in alle Richtungen durchströmen, stehen für Ausbreitung und Beziehung im Guten und Bösen, durch sie sind wir – alle Menschen – getrennt und verbunden zugleich. Noch am Rheinufer in Biebrich stehend kann ich mir bewusst werden, dass die abwärts ziehenden Schiffe in ein paar Tagen die Nordsee und alsbald die Weltmeere erreichen. Einige Kilometer östlich in Kostheim zeigt mir eine Tafel an der Einmündung des Mains welchen Weg er seit seinen Quellen oben in Fichtelgebirge und Fränkischer Alb zurückgelegt hat.
Und noch die kleinste Bachquelle – sagen wir: die Goldbachquelle – bringt ihr Wasser hervor, nur damit es früher oder später in größeren Zuflüssen gesammelt in den großen Strömen aufgeht und irgendwann in den Ozeanen sich mit allen anderen Wassern verbindet. In den Bächen den Strom, und in der Quelle das Meer zu sehen – darauf kommt es an.
Wenn wir genau auf den Bibeltext hören: Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da in vier Hauptarme; dann sind also die vier Ströme des Paradieses aus dem einen hervorgegangen, der selbst im Garten Eden entspringt. Wer das Paradies malen wollte, müsste sich demnach auf Quelle und Ausgang konzentrieren, denn die vier Ströme, die da herausfließen und alles mit allem – und also auch uns mit dem Paradies – verbinden, sind ja außerhalb des Paradiesgartens zu denken – auch wenn sie in der paradiesischen Quelle längst enthalten sind. Und genauso hat es der Schöpfer des Bildes, das ich ihnen mitgebracht habe, gemacht:
Witzigerweise deuten manche das Fehlen der vier Ströme auf unserem Bild so, dass es gar nicht das Paradies zeige, während das für mich naheliegende Verständnis den eingefassten Quellbrunnen und die Wasserleitung als ziemlich genaue Umsetzung des Bibeltextes versteht: Im Paradies selbst entspringt ein Strom, der sich erst jenseits von Eden in die vier Ströme Pischon, Gihon, Tigris, Euphrat teilen wird.
Auch sonst gelingt es dem uns namentlich unbekannten Maler, der unser Bild etwa Anfang des 15. Jahrhunderts am Oberrhein, vielleicht in Straßburg, geschaffen haben kann, die wesentlichen Züge des Paradieses zu verbildlichen: Als Ort üppiger Vegetation und blühenden Lebens nicht jenseits unserer Naturerfahrungen, aber weit jenseits unserer Realität, als konkrete Utopie menschlicher Kommunikation und Kultur, die sich vom Heiligen berühren lässt.
Sechs Personen, sicherlich in der Mehrzahl Heilige, von denen nur der Engel Michael und der Ritter Georg sicher identifizierbar sind, kommen mit Maria und dem Jesuskind bei Lektüre, Gespräch und Musik in einem Garten zusammen, den der Quellbrunnen wachsen, blühen und gedeihen lässt, überfließende Natur; und zwar in ganz nach der Natur gemalten Pflanzen und Tieren, nicht weniger als 47 identifizierbaren Arten, da hat einer genau hingeschaut: Akelei, Bachehrenpreis, Erdbeere, Frauenmantel, Gänseblümchen, Goldlack, Immergrün, Kirsche, Klee, Lilie, Märzbecher, Maiglöckchen, Malve, Margarite, Samtnelke, Pfingstrose, Schlüsselblume, Schwertlilie, Senf, Rote Taubnessel, Veilchen, Wegerich, Chrysantheme, Astern, Johanniskraut, Levkoje, sowie Eisvogel, Kohlmeise, Pirol, Dompfaff, Buchfink, Rotkehlchen, Buntspecht, Seidenschwanz, Distelfink, Schwanzmeise, Blaumeise, Wiedehopf, Amsel, Libelle und Weißlinge. Also auch das eigentlich nicht Natur wie sie wächst, sondern wie sie von Menschen gestaltet wird, kultivierte Natur. Da hat jemand im Paradies gearbeitet, dafür gearbeitet, dass es eins ist. In meinem Garten sieht es jedenfalls anders aus, da wuchert das Unkraut.
Das Paradiesgärtlein ist durch eine Mauer geschützt, der böse Drachen ist tot, der Teufel zum Äffchen gemacht und seiner Macht entkleidet, Michael und Georg können entspannt mit den anderen Konversation treiben, heilige Konversation, gewaltfreier Diskurs, Raum ohne Angst: Das Paradies, nach dem wir uns sehnen dürfen, dem wir in Bildern verbunden sind, aus dem die Ströme fließen, zu dem aber kein Bach mehr zurückfließt.
Wo ist das Paradies? Nirgendwo – aber überall dort wo wir es entdecken, bebauen und bewahren. Amen.