(In der schriftlichen Fassung der Predigt selbst fehlt jeder Hinweis auf den Anschlag der Terroristen der Hamas auf Israel vom Vortag, dem 7. Oktober. Zu frisch, zu gewaltig und unbearbeitet sind die Eindrücke dieses Verbrechens, dem Hunderte von jüdisch-israelischen Zivilisten, darunter zahlreiche Babys, Kinder, Jugendliche und Greise zum Opfer fielen, um in die Predigt einzufließen. Dabei wurde es ausgerechnet am Schabbat und dem jüdischen Feiertag Simchat Tora verübt, der die dem Judentum wesentliche Freude über Gottes Gebot zum Ausdruck bringt und eigentlich mit fröhlichem Singen und Tanzen gefeiert wird – in friedlichen Zeiten. K.N.)
Und Gott redete alle diese Worte:
Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat. (2. Mose 20.1-17)
Ausgerechnet an dem Tag, an dem wir uns einen Landtag wählen, den Gesetzgeber für die Belange unseres schönen Bundeslandes Hessen, und damit mittelbar eine Regierung und einen, der dieser als Ministerpräsident vorsitzt – ausgerechnet heute hören wir die 10 Worte des berühmtesten Gesetzgebers der Menschheitsgeschichte, den Gott sich für sein Volk erwählt und den sich sein Volk als Mittler zu Gott erwählt hat – auf den also auch wir, die wir nicht ursprünglich zum auserwählten Volk gehören, hören dürfen. Schaden wird es nichts, nützt es was? Sind diese uralten 10 Gebote mehr als religiöse Folklore oder ethische Altertumskunde? Was haben sie uns und was haben sie uns gerade heute zu sagen? Hier kommen 9 Angebote die 10 Gebote zu vergegenwärtigen:
1. Zuerst tun wir gut daran, die Bindung unseres Textes an eine längst vergangene Zeit nicht zu überlesen und ihn nicht unmittelbar für ein zeitloses, schon immer gültiges und für immer geltendes universales Gesetz zu halten, als das es zunächst nicht gedacht war und zu dem es erst mit der Zeit gemacht wurde. Denn zumindest nach der Erzählung des Alten Testaments folgt die Übermittlung der 10 Gebote – und zahlreicher weiterer Rechtsordnungen – der Befreiung der Israeliten aus Ägypten und dem Durchzug durchs Schilfmehr.
Der Exodus begründet – zumindest als theologische und historische Idee – die Entstehung des Volkes Israel und seine besondere Beziehung zu Gott. Beides – der Exodus und die 10 Gebote – stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang, so dass sie gelegentlich als Gebote der Befreiung oder sogar der Verfassung des Volkes Israel genannt wurden. Dem entspricht, dass Gott der Herr sich im ersten Gebot als der gegenüber seinem Volk definiert, „der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“. Gesetze und sogar Grundgesetze sind immer zeitgebunden und reagieren auf ihren historischen Kontext. Das wird auch für die vom heute gewählten hessischen Landtag gelten.
2. Wenn das erste Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ die Konkurrenz anderer Götter zurückweist, erinnert uns das an einem Wahltag daran, jede Überhöhung des Staates abzuwehren, und auch daran, dass eine Trennung von Kirche und Staat, beiden gleichermaßen angemessen ist und gut tut; nach den Worten der Barmer Theologischen Erklärung: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“. Was für unsere gegenüber 1934 ungleich friedlichere und unangefochtenere Zeiten dennoch heißen kann, dass moralische Überhöhungen oder sogar Absolutsetzungen durch staatliche Akteure zurückzuweisen sind. Staatliche Gesetze sind offensichtlich keine göttlichen Gebote, genauso wenig wie Gerichtsurteile oder unsere Wirtschaftsordnung.
3. Andrerseits verbinden die 10 Gebote moralische mit Glaubensgesetzen so untrennbar, dass die einen als Grundlage der anderen deutlich werden, frei nach dem berühmten Satz des Verfassungsrechtlers Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und an die – ohne falsche Konfliktscheu – zu erinnern, doch wohl auch unsere Aufgabe als Christen in Staat und Land ist, zumal der dem Grundgesetz vorgesetzte Gottesbezug „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“ der Hessischen Landesverfassung leider fehlt. Wäre doch schade, wenn diese Erinnerung ausgerechnet bei uns verloren ginge.
4. Während in den 10 Geboten Bilder verboten zu werden scheinen, spielen sie gerade im Wahlkampf aber auch sonst im politischen Wettbewerb eine überragende Rolle, einerseits natürlich zurecht, denn man muss ja wissen, wer das Volk vertritt; andererseits doch zu Unrecht in dem Maße, in dem sie verfälschen, beschönigen oder entstellen, und damit ja gerade verhindern zu wissen, wer das ist. Wer stattliche vielstellige Haushaltposten für seine Visagisten und Coiffeure ausgibt oder seine Plakate bis zur Unkenntlichkeit retouchieren lässt, scheint nicht unbedingt daran interessiert zu sein, etwas von sich preiszugeben. Und ziemlich genau dagegen richtet sich das biblische Bilderverbot: gegen die Verfügbarkeit durch zu gute und die Verfälschung durch zu schlechte Bilder.
5. Mit dem Bilderverbot, dem Blasphemieverbot und dem Feiertagsgebot sind drei Gebote zu Gottes Schutz formuliert, die im säkularen Staat keine Geltung für sich beanspruchen können, die uns aber aktuelle Denkaufgaben stellen, wie wir ja schon in der Bilderfrage gesehen haben. Auch das Verbot zu lästern lässt sich ohne weiteres auf unseren Umgang mit Medien anwenden, nicht zuletzt auf die sogenannten sozialen Medien. Besonders relevant aber erscheint das Feiertagsgebot, zumal wenn seine religiöse Begründung nicht mehr für den gesetzlichen Schutz ausreicht. Der arbeitsfreie wöchentliche Feiertag – zunächst wie gesagt als Heiligtum Gottes in der dahinfließenden Zeit gedacht – ist längst Freiraum der Menschen und Symbol gegen seine absolute Verfügbarkeit als Arbeitskraft und Rädchen im Wirtschaftsbetrieb.
6. Jede Gesellschaftsordnung, auch unsere hessische, gründet auf einen Generationenvertrag, also irgendeine Form von Respekt zwischen Alten und Jungen, und hier scheint in den 10 Geboten tatsächlich ein Mangel vorzuliegen, wenn dieser Respekt nur in eine Richtung gefordert wird: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“. Ich glaube aber nicht, dass wir den Geboten Gewalt antun, wenn wir hier grundsätzlich Gegenseitigkeit mitdenken und dann eben im gesellschaftlichen Bereich den scheinbar natürlichen Generationenegoismus durch Empathie für die Lebenszeit zähmen, die nicht mehr oder noch nicht die eigene ist. Auf abgetakelte Boomer oder nörgelnde jugendliche Faulenzer zu schimpfen, ist so ziemlich gleich lächerlich, wenn ich mir bewusst mache, dass jeder das eine wie das andere gewesen sein oder werden wird.
7. Die nachfolgenden vier Gebote: nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen, stehen für viele für den eigentlichen und universellen Kern der 10 Gebote; nicht ganz zu Unrecht, denn keine Gesellschaft dürfte Bestand haben, die den Schutz des Lebens, der Beziehung, des Eigentums, der Wahrheit – nicht fordert und nicht selbst zu garantieren versucht. Dabei gewichtet hier jede Zeit und jede Gesellschaft anders: Wer gerade noch gedacht hat, dass ein absolutes Wahrheitsgebot ein lebensfernes Ideal darstellt, sehnt sich im Zeitalter von Fake News und Deep Fakes bitter danach; und wer meinte, dass zumindest der Lebensschutz bei uns unhinterfragbar ist, reibt sich die Augen, wenn ausgerechnet ein deutsches Verfassungsgericht die staatliche Beihilfe zur Selbsttötung zum Menschenrecht erklärt. Keins dieser scheinbar selbstverständlichen Gebote versteht sich von selbst, noch nie.
8. Beim Verbot des Begehrens fremder Güter schließlich sollte man sich nicht lange daran stören, dass in einer patriarchalen Ordnung die patriarchale Unterordnung der Frau und ihre Einordnung in einen Güterkatalog festgeschrieben steht, so schlimm wie erwartbar das ist (Gesetze sind immer zeitgebunden! Siehe oben). Sondern wir sollten wahrnehmen, dass die Absage an jede Form des Fremdbegehrens, jede Form der Gier das volle Gewicht als Abschluss dieser elementaren Gebotsliste trägt. Mein Verzicht schützt meinen Nächsten – als Fluchtpunkt und Ziel der Gebote.
9. Womit wir bei der handlichen, schon bei Mose vorfindlichen und von Jesus an uns weiterempfohlenen Zusammenfassung der 10 Gebote sind:
„Du sollst Gott den Herrn lieben mit ganzer Seele, mit ganzem Herzen und aller deiner Kraft – und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Eine Wahlempfehlung kann man daraus nicht ableiten, aber eine für ein gutes Leben. Amen.