Wenn es nach Wilhelm Dilthey gegangen wäre, gäbe es Bachs „Johannespassion“ nur noch in einer stark gekürzten Fassung. So sehr den Kunst liebenden Philosophen aus dem 19. Jahrhundert diese Komposition von 1724 auch faszinierte, so sollte doch mit Rücksicht auf den gesamten „Bau“ die „zusammenhängende Erzählung“ nicht „dauernd unterbrochen werden“. (zit. n. Walter, S. 102, s.u.)
Zum Glück hatte Dilthey bei allem Kunstverstand in dieser Sache nicht Recht und auch keinen Einfluss auf die weitere Aufführungspraxis. Sonst würden Bachs monumentalem Werk, das dieser selbst sehr schätzte und das er von 1724 bis 1749 immer wieder veränderte und an einzelne Aufführungen bei den Leipziger Karfreitagsgottesdiensten anpasste, wichtige Abschnitte fehlen. Was Diltheys ästhetisches Empfinden störte, war tatsächlich Bachs selbstbewusster künstlerischer Wille. Gerade die Brüche, die Gegensätze, zusammengefügt zu einem großartigen Ganzen, machen die dialektische Spannung zwischen Tod und Erlösung geistig und sinnlich erfahrbar. Somit stellen die Teile dieser Oratorischen Passion unterschiedliche Zeiten (Vergangenheit / Bezug zur Gegenwart) und Perspektiven (der Blick auf die biblischen Akteure / der Blick nach innen: „ich“, „wir“) dar. Entsprechend reichhaltig ist das Spektrum der Affekte,
von Trauer, Verzweiflung, Schrecken und Demütigung bis hin zu Liebe und sogar Freude.
In diesem Werk gibt es vier kontrastierende „Bausteine“: der Bibeltext nach Johannes in den Rezitativen (z.B. Jesus: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ – Spricht Pilatus zu ihm: „Was ist Wahrheit?“), die hochdramatischen Chöre der Menge (z.B. „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“, „Weg, weg mit dem, weg“, „Kreuzige, kreuzige“), verinnerlichende, von der italienischen Oper beeinflusste Arien (z.B. „Es ist vollbracht“, Zerfließe,
mein Herze“) sowie fast statische, vierstimmige Kirchenchoräle. Vor allem diese bringen den theologischen Gehalt des Vorangegangenen jeweils auf eine Formel (z.B. „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muß uns die Freiheit kommen“) und gliedern und stützen das Werk, wie die Säulen in einer Kirche.
Visionär und radikal lässt Bach seine Johannespassion beginnen mit einem außergewöhnlich langen und komplexen dreiteiligen Eingangschor von fast 9 Minuten. Anders als bisher üblich und dem johanneischen Christus-Bild folgend, wird Jesus hier nicht als Dulder, sondern als Herrscher über den Tod dargestellt. Die ersten 18 Takte sind rein instrumental und nichts weniger als der Beginn eines „sinfonischen“ Konzepts von Musik. Drei Ebenen – eine ostinate, also tonwiederholende Basslinie als Fundament,
ein sich in schmerzlichen Dissonanzen vorschiebendes Bläserduo und dazwischen die auf- und abwogenden Streicher – bilden die Dreieinigkeit ab: Gottvater, Sohn und der „wehende“ Heilige Geist. Und auch wenn man das alles nicht weiß: dem mächtigen, bittersüßen Sog dieses Beginns kann sich kaum jemand entziehen. In nächster Zeit gibt es in Wiesbaden mindestens eine Gelegenheit, Bachs erstaunliches Werk zu hören: am 13. April in der Marktkirche.
Anne Sophie Meine
Literaturtipp: Meinrad Walter: J.S. Bach. Johannespassion, Stuttgart 2011;
Martin Geck: Bach. Johannespassion, München 1991.
CD-Tipp: Einspielungen von M. Lutz, J.E. Gardiner, H. Rilling und R. Otto