Predigttext für den 17. Mai 2020, 5. Sonntag nach Ostern, Sonntag „Rogate“

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel!Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme.Dein Wille geschehewie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brotgib uns heute.Und vergib uns unsere Schuld,wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.Und führe uns nicht in Versuchung,sondern erlöse uns von dem Bösen.Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben. (Matthäusevangelium 6, 5-14)

Zu den verrückteren Vorschlägen in dieser verrückten Zeit gehört, dass wir, um unsere Hände ausreichend lange zu waschen, dabei das Vaterunser sprechen sollen: Es habe dafür (genau: zum Händewaschen!) genau die richtige Länge. (Wir hören diesen Rat von einem Pfarrer und Liedermacher unserer Kirche, dem wir auch so zarte Blüten des Neuen Geistlichen Liedes verdanken wie „Wir wollen aufsteh´n, aufeinander zugeh´n, voneinander lernen, miteinander umzugeh´n“, das sich schon im Intro zu den unsterblichen Zeilen hinaufschwingt: „Dab dab da be du da dap/ dap dap da be du da/ dap dap da be du da dap/ dap dap da be du da“, was im besten Fall Glossolalie, die ja in diese pfingstliche Zeit passen würde, aber doch eigentlich bloß heidnisches Geplapper ist. [Wobei der unerbittlich bittende Bittlinger hier auch nur eine urdeutsche Traditionslinie aufnimmt, nämlich den stetig stabreimenden schnörkelig schwurbelnden schwellenden Wagnerschern Rheinwellengesang: Wagalaweia. Auweia!])

Verrückt und nur als Verrücktheit erwähnenswert ist dieser Rat nicht etwa, weil er uns das Händewaschen in ausreichender Dauer empfiehlt (wobei man sich wundern kann, dass ein Ratschlag, mit dem uns unserer Mütter durch die Kindheit verfolgten, solche Aufmerksamkeit verdient. Es versteht sich doch eigentlich von selbst, beim Nachhausekommen, vor und nach dem Essen [und dem Gegenteil, auf das wir noch zurückkommen, s.u.] gründlich die Hände zu waschen), sondern weil er das vielleicht schönste und prägnanteste und bekannteste Gebet der Religionsgeschichte als heidnisches Geplapper missbraucht – das zu vermeiden und dem zu entgegnen, Jesus ausdrücklich empfiehlt: Ihr sollt nicht viel plappern wie die Heiden!

Genau umgekehrt wäre demnach zu empfehlen, ein Gebet, und gerade dieses so bekannte Gebet nur dann zu sprechen, wenn ich auf seine Worte hören kann und will. Alles andere ist gottvergessenes, gotteslästerliches Geplapper, das Gottes Namen entheiligt. Denn auf das gleichfalls berühmte 1. Gebot der Zehngebote „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht“ (2. Mose 20) bezieht sich das Vaterunser: Dein Name werde geheiligt!

Nicht viele Worte machen: „Fasse Dich kurz“ – das war (neben der mütterlichen Aufforderung die Hände zu waschen) der elterlich daherkommende Rat der Deutschen Bundespost (Gott hab´ sie selig!) an ihre Nutzer der gelben Telefonzellen (dito!). Andere sollten auch eine Chance haben zur fernmündlichen Kommunikation und billiger wäre es ja auch. Auf den Punkt kommen! Nicht den Faden verlieren! (Ein Rat an den Predigttexter!) Zwar alles sagen, aber nicht alles noch einmal (Karl Valentin!) oder noch einmal, und dann aber umständlicher (Hauck&Bauer)! Wobei ich nicht glaube, dass es Gott an Geduld fehlt mit unserem Gebet, anders als uns oder jedenfalls mir, der ich innerlich abschalte, wenn mich eine überumständliche Erklärung langweilt und dann auch den interessanteren Teil nicht mitbekomme, um den es geht und um den es mir dann leid tut. Wenn wir unsere Anliegen vor Gott bringen, ihn anrufen (!), also auf die ganz altmodische Weise fernmündlich kommunizieren: „Er ruft mich an, so will ich ihn erhören“ (Psalm 91,15) – das ist ja das Geheimnis und die Verheißung des Gebets von Gott her – dann interessiert er sich für uns. Das ist umso erstaunlicher, weil er unsere Anliegen ja kennen dürfte – und zwar noch bevor wir sie gekannt haben! Sich beim Gebet kurz zu fassen, nicht viele Worte zu machen, sich zu konzentrieren – das soll nicht etwa Gottes Geduld mit uns schonen, sondern vielmehr uns helfen, uns darauf richten, uns konzentrieren und orientieren auf das, was jetzt dringlich und was bleibend wichtig ist.

Und weil man am besten am guten Beispiel lernt, zeigt Jesus uns im Vaterunser in wenigen Worten, wie die großen, bleibend wichtigen Themen des Glaubens vor Gott gebracht werden: Schöpfung, Schuld und Sühne, das Böse und Erlösung davon. Darum geht es beim Beten (oder man lässt es gleich) und daran angelehnt kann ich meine Anliegen an Gott im jetzt Dringlichen konkretisieren:

Unser tägliches Brotgib uns heute: Formuliert meine geschöpfliche Abhängigkeit in der Bitte nach dem, was ich täglich brauche, also: „Alles was Not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und dergleichen.“ (Martin Luthers Kleiner Katechismus von 1529) Also auch: Medizin, Impfstoff, gute Pflege, Forschung, kluge und mitfühlende Ärztinnen – nicht nur in diesen Tagen.

Und vergib uns unsere Schuld,wie auch wir vergeben unsern Schuldigern: Weiß davon und rechnet damit, dass ich Schuld auf mich lade, unweigerlich; dass es oft nur zweitbeste Lösungen gibt; dass persönliche aber auch politische Entscheidungen nicht an der besten idealen sondern an der besten möglichen Lösung zu messen sind, solange wir eben bloß in der besten aller möglichen Welten leben. Das können wir deshalb getrost bitten, weil wir einen gnädigen Gott haben: „Er wolle es uns alles aus Gnaden geben, obwohl wir täglich viel sündigen und nichts als Strafe verdienen.“ Und das hat Folgen für uns Rechthaber, Streithammel, Wutbürger, Reizbare und Empörte: „So wollen wir wiederum auch herzlich vergeben und gerne wohltun denen, die sich an uns versündigen.“ (Luthers Kleiner Katechismus)

Und führe uns nicht in Versuchung,sondern erlöse uns von dem Bösen. Legt alles, auch die Schrecken, die uns treffen, in Gottes Hand. „Gott versucht zwar niemand; aber wir bitten in diesem Gebet, dass uns Gott behüte und erhalte, damit uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge und verführe in Missglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster“ (Luthers Kleiner Katechismus).

In seiner Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ (1527; zwei Jahre vor seinem Kleinen Katechismus; es kann durchaus gute Theologie in bösen Zeiten geben!) reagiert Luther auf die Seuche und die Schrecken seiner Zeit (nämlich die Pest). Er schreibt sie dem Wirken des Teufels zu, der für Luther gleichzeitig Gegenspieler und Werkzeug Gottes ist. Das sprengt zwar den Rahmen unserer modernen harmlosen Theologie (zusammengefasst in dem berühmten Wort des amerikanischen Theologen H. Richard Niebuhr: „A God without wrath brought men without sin into a Kingdom without judgment through the ministrations of a Christ without a Cross“) – so wie unsere verdammte Seuche jeden Denkrahmen sprengt und uns unser normales Leben um die Ohren fliegen lässt. Aber wenn man Luthers mittelalterlich-katholischen Teufel als Symbol des Bösen und dessen Verhältnis zu Gott weniger als reinen Widerspruch (als Geist, der stets – bloß – verneint) sondern dialektisch auffasst (also als Geist, der stets verneint und darin trotzdem nicht anders kann, als Gottes Willen ausführen) , verstehen wir uns und diese Zeit vielleicht besser als bisher. Irgendwie muss man das Böse auf den Begriff bringen, sonst schadet es uns umso mehr.

In der Seuche begegnet uns als weltweite Gemeinschaft eine alle betreffende – darin „allmächtige“ (also pseudo-göttliche!) – Destruktivität, die bislang nicht zu bekämpfen ist, schon gar nicht individuell oder regional oder national (und schon gar nicht durch „Krieg“, wie es die hilfloseste aller Metaphern will), sondern vor der man sich nur – gut mittelalterlich – zu verkriechen versuchen kann: Quarantäne, Kontaktbeschränkung, Lockdown. Das aber überfordert uns Menschen als soziale Wesen, die auf Gemeinschaft aus sind (noch der „Asoziale“ braucht die anderen zum Piesacken!) und es produziert Stressreaktionen, die – wie Luther erlebt hat und wir das nun erleben – typischerweise in zwei Richtungen losgehen (jedenfalls aber nach hinten; Luther war auch derb skatologischer Theologe und verortete den Teufel auf dem Abort! [Noch ein Grund fürs gründliche Händewaschen, s.o.]): „Aber wenn’s so zugeht, dass ein Teil allzu verzagt ist und seinen Nächsten in der Not flieht, der andere Teil allzu dummkühn und hilft nicht wehren, sondern mehren, da hat der Teufel gut machen und muss wohl das Sterben groß werden. Denn auf beiden Seiten wird Gott und Mensch höchlich beleidigt, hier mit Versuchen, dort mit Verzagen; so jagt denn der Teufel den, der da flieht, und behält gleichwohl den, der da bleibt, so dass ihm niemand entläuft.“ Ich persönlich finde die Dummkühnen, die die Gefahr leugnen und unter ihren Aluhüten Idiotien ausbrüten weitaus erschreckender als die, die sich zuhause und hinter ihrem Mundschutz verkriechen (was wohl zeigt das ich zur zweiten Gruppe der vom Teufel Gefangenen gehöre, der ja alle gefangen hält!).

Mindestens bis zur Wiederherstellung des ungefährdeten Lebens, wie wir modernen Menschen es von der Moderne erwarten (etwa durch einen Impfstoff) – aber in Wahrheit solange es Menschen gibt und geben wird, ist uns die Bitte um Erlösung geraten, erlöse uns von dem Bösen: „Wir bitten in diesem Gebet, dass uns der Vater im Himmel vom Bösen und allem Übel an Leib und Seele, Gut und Ehre erlöse und zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende beschere und mit Gnaden von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.“ (Luthers Kleiner Katechismus)

Denn der hoffentlich kommende Impfstoff wird uns nur vor dieser Krankheit schützen, erlösen wird er uns nicht. Er wird keine Unsterblichkeitsmedizin sein (kein „Pharmakon Athanasias“, wie die Alten das Abendmahl nannten – und selbst das ist es nicht!). Das vergessen wir ja bisweilen – und auch daran erinnert uns Jesus, damit unser Gebet kein Geplapper wie bei den Heiden sei – dass wir Gott um ein gutes Leben und um einen guten Tod bitten mögen – in der durch keinen Teufel und durch keine Seuche überwindbaren Hoffnung, dass Gott sich am Ende durchsetzen werde: Dein Reich komme.Dein Wille geschehewie im Himmel so auf Erden.

Alles wird gut.

Klaus Neumann, Pfarrer