Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. (Matthäusevangelium 11, 25-30)
In diesen Tagen, den längsten des Jahres, „wenn der Sommer nicht mehr weit ist“, wenn wir Johannis oder Mitsommer feiern, feiern wir darin das Leben in all seiner Fülle. Wie Konstantin Wecker singt:
„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist/ Und der Himmel violett,/ Weiß ich, daß das meine Zeit ist,/ Weil die Welt dann wieder breit ist,/ Satt und ungeheuer fett.
Wenn der Sommer nicht mehr weit ist/ Und die Luft nach Erde schmeckt,/ Ist’s egal, ob man gescheit ist,/ Wichtig ist, daß man bereit ist/ Und sein Fleisch nicht mehr versteckt.“
(Letzteres muss nicht immer die richtige Entscheidung sein… Und man kann Weckers Hymne auf das sommerliche Leben und den Lebensgenuss sicherlich nicht hören, ohne an seine Probleme mit dem Leben und dem Genuss zu denken. Das macht das Lied aber nicht schlechter sondern noch besser, zumal die Untiefen des Lebens zwar nicht im Text aber in der Musik deutlich hörbar sind.)
Wir preisen Gott unseren Vater, Herrn des Himmels und der Erde für die Weite des Himmels und die Kraft der Erde, weil wir beides unmittelbar erleben – unmittelbar zu erleben scheinen: die Schöpfung, wie sie ursprünglich gemeint war, offenbar, ohne Geheimnis, ohne Grenze, als „unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“, Leben vor Gott, der dazu sagt: „Siehe, es war alles sehr gut“ (1. Mose 1, 31; Weckers Vers zum Fleisch ist vielleicht ein Verweis auf die paradiesische Nacktheit, die sich nicht versteckt. Erst der Eindruck der Sünde zwingt uns, uns zu bedecken.)
Unsere Sehnsucht nach dem Paradies führt uns ja auch in die Urlaubsparadiese – und mit etwas Glück sogar auch in diesem Jahr. Das sah ja nicht immer danach aus. Neben anderen Gründen, in den Urlaub zu fahren – Unterhaltung, Erholung, Bildung – geht es um diese Suche nach dieser ursprünglichen Einheit, die Rückkehr ins Paradies – auch wenn wir wissen, dass es das längst nicht mehr gibt; aber vielleicht doch für diesen einen Augenblick, dem man dann sagen kann, dass er verweilen soll, weil er so schön ist.
Allerdings wissen wir schon, spüren es vielleicht auch mit diesem leichten nagenden Schmerz im Hintergrund, dass dieser Moment da eben doch nicht verweilen wird; dass auch der schönste Moment zu Ende gehen und „sterben“ wird („Auch das Schöne muss sterben“), und selbst der schönste Sommer und der schönste Urlaub wird zu Ende gehen. (Meinen Vater – Gott hab ihn selig – packte gerade um Mitsommer herum, eine schmerzhafte Melancholie, dass nämlich nun die Tage wieder kürzer werden „und es stramm auf den Winter zugeht“; gerechterweise konnte er um die Wintersonnenwende einen entsprechenden Moment des Glücks empfinden.)
Es gehört zu den besonderen Leistungen der Religion, unserer Endlichkeit etwas entgegenzusetzen. Wie ja umgekehrt eine religionslose Zeit beinahe hilflos dem Ende ausgesetzt ist, den Tod darüber verdrängen muss – und erst von der Seuche wieder zu diesem Thema genötigt wird: Ja, Menschen sind sterblich; keine Medizin wird das ändern (auch der herbeigesehnte Impfstoff wird keine Unsterblichkeitsmedizin sein, kein pharmakon athanasias, wie die antiken Theologen das Abendmahl genannt haben; und selbst das war es nicht!); mit oder ohne Seuche, die Sterblichkeit von Menschen liegt bei genau 100%.
Dass unserer Endlichkeit dennoch etwas entgegenzusetzen ist, ist allerdings ein Geheimnis, dass sich besonders den Weisen und Klugen verschließt, weil es der Weisheit und Klugheit von uns Menschen zuwiderläuft, die an nichts glauben wollen, was ihrem Wissen entgegensteht oder es übersteigt, und nur das wissen wollen, was messbar, prüfbar und nachweisbar ist. Wir verpassen da etwas.
Das Geheimnis, von dem unser Predigttext spricht – Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will – Dieses Geheimnis ist nämlich nicht einfach ein mehr oder weniger interessanter Umstand unsere Welt betreffend, auch keine Tatsache, die ich durch Forschung herausbekommen könnte, auch kein bloßes Kuriosum, ein fun fact ohne Belang – sondern es ist das Geheimnis unserer Welt (Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt) und unseres Lebens, dass offenbart wird und auch als geoffenbartes Geheimnis ein Geheimnis bleibt – und dabei doch unser Leben völlig verändert (auf den Kopf stellt oder auf die Füße, je nach Perspektive).
Das Geheimnis unserer Welt und unseres Lebens besteht darin, dass uns Jesus Christus zu sich ruft – wie hier mit seinem sogenannten „Heilandsruf“: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nicht unser Forschen und Suchen und Grübeln wird uns Gott entdecken, sondern wir werden angerufen, angesprochen von diesem Menschen Jesus, einem von uns, der aber dennoch in einzigartiger Weise zu Gott in Beziehung steht, der spricht: Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.
Wenn wir auf Jesus Christus hören, uns von ihm ansprechen lassen, erfahren wir etwas von dem Geheimnis unserer Welt und unseres Lebens. Das ist aber wie gesagt kein bloßes Wissen, sondern unsere ganze Existenz betreffende, verändernde, heilende Gewissheit, die unseren Lebenshunger stillt und unseren Lebensschmerz heilt (Nicht nur die Melancholie der Sommersonnenwende, die aber auch, denn im Johannisfest sind wir nun auf Christus verwiesen. Johannes´ Aufgabe ist ja, auf Jesus zu zeigen.), so dass wir Ruhe finden für unsere Seelen.
Indem wir zu Jesus gehören, gehören wir zu Gott; das können wir uns sonst in besonderer Weise im Abendmahl vergegenwärtigen (was wir normalerweise am 2. Sonntag nach Trinitatis thematisch und programmatisch ausdrücklich tun); jetzt und heute aber gerade nicht: seuchenbedingt. Auch das Abendmahl ist aber zuerst ein Zeichenwort und ein Wortzeichen, das nach evangelischem Glauben dem Wort Jesu, das uns ruft, nichts Wesentliches hinzufügt. Auch ohne Abendmahl sind wir wohlversorgt, gestärkt und erquickt – durch sein Wort. (Trotzdem kann man sich natürlich darauf freuen, dass Wort recht bald auch wieder in der Gestalt des Abendmahls zu haben!)
Dem Ruf Jesu können wir antworten, dazu ist der Gottesdienst ja da, nämlich durch Gebet und Gesang Antwort geben auf Gottes Wort. (Wir feiern Gottesdienst, damit „unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang“ in Martin Luthers berühmten Worten über den Gottesdienst, seiner Torgauer Formel von 1544 während der Einweihung der Torgauer Schlosskirche).
Im vielleicht schönsten Sommerlied, das wir haben, und mit dem wir auf Gottes Wort und Werk antworten können, verpackt der Dichter Paul Gerhardt in die unbändige Freude über das sommerliche Fest des Lebens – „Geh aus mein Herz und suche Freud“ – auch den Schmerz über die Vergänglichkeit (Paul Gerhardt dichtet sein Lied im Jahr, als der Dreißigjährige Krieg zu Ende geht; er verliert vier seiner fünf Kinder im Kleinkindalter; er kennt das Leben) und beides in die Hoffnung auf Gottes Garten im Himmel: „Ach denk ich, bist du hier so schön/ und lässt du´s uns so lieblich gehen/ auf dieser armen Erden:/ Was will doch wohl nach dieser Welt/ dort in dem reichen Himmelszelt und güldnem Schlosse werden?“
Angesprochen von Gottes Wort in Jesus Christus können wir uns an der sommerlichen Natur freuen, ohne darin selbst Erfüllung suchen zu müssen – die wir dort auch im Leben nicht finden würden. So nimmt er uns die unerträgliche Last der Selbsterlösung und befreit uns zum Leben: Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Amen.
Klaus Neumann, Pfarrer