Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. (Johannesevangelium 9,1-7)
Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)
Wer unsere seltsame Heilungsgeschichte im Zusammenhang des Johannesevangeliums liest und hört, weiß schon einiges über den Streit von Licht und Finsternis, über das Licht, dass Jesus in die Welt bringt, und davon, dass Jesus unser Leben in ein neues Licht setzt. Denn davon ist ja die ganze Zeit die Rede. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hats nicht ergriffen. (Johannes 1,4f.)
Und dafür – also dafür, dass Jesus das Licht unseres Lebens ist – bietet unsere Wunderheilungsgeschichte ein Gleichnis: So wie der Blindgeborene wieder sehend wird durch Jesus, so öffnet auch uns Jesus die Augen für das Licht unseres Lebens, für die Wahrheit unseres Lebens – dass die Werke Gottes offenbar werden an ihm – und an uns.
Aber merkwürdig ist die Wundergeschichte eben schon; nicht umsonst ist sie der Anfang und Anlass längerer Diskussionen mit den Pharisäern, denen erfahrungsgemäß so schnell kein Licht aufgeht. Wird es uns besser ergehen? Wird uns ein Licht aufgehen?
Ein Heiler streicht Brei aus Speichel und Staub einem Blinden auf die Augen, der wäscht sich das Zeug wieder ab und: wird gesund, kann wieder sehen! Ein klassischer Fall alternativer Medizin, oder nicht?
Eher nicht, denn der Begriff „alternative Medizin“ setzt eine wissenschaftlich begründete, evidenzbasierte Medizin voraus. Die gab es aber zur Zeit Jesu noch nicht! Also können seine Heilungen auch keine Beispiele alternativer Medizin sein.
Dennoch trifft auch seine Heilung das berechtigte Misstrauen, mit dem wir vernünftigerweise der heutigen sogenannten Alternativmedizin begegnen – oder doch begegnen sollten: „Für viele alternativmedizinische Therapien [wie etwa der Homöopathie oder der anthroposophischen Medizin] konnte weder ein wissenschaftlich plausibler pharmakologischer Wirkmechanismus, noch eine pharmakologische Wirkung, die über einen Placeboeffekt hinausgeht, nachgewiesen werden. Einige Verfahren der Alternativmedizin lassen sich den Pseudowissenschaften zuordnen.“ (Wikipedia) Also Fake-Medizin.
In ruhigeren Zeiten könnte man die Sache auf sich beruhen lassen. Warum nicht bei harmlosen Malessen gelegentlich ein paar Zuckerkügelchen naschen, die zwar keine Wirkung haben, aber eben auch keine Nebenwirkungen, und – scheinbar! – keinen weiteren Schaden anrichten? Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht:
„Als gravierende direkte Risiken wurden zum Beispiel Verletzungen, Immunreaktionen und Arzneimittel-Interaktionen dokumentiert. Indirekte Gesundheitsrisiken liegen im Versäumen notwendiger medizinischer Diagnostik und Therapie. Dies betrifft besonders lebensbedrohliche Erkrankungen, wie zum Beispiel Krebs. Infolge alternativmedizinischer Konzepte und Methoden sind sogar Todesfälle von Patienten dokumentiert. Etwa die Ablehnung von Impfungen kann darüber hinaus auch zu einer kollektiven Gefährdung der Gesellschaft führen (siehe Impfmüdigkeit).“ (Immer noch der Wikipedia-Artikel „Alternativmedizin“; mehr Information im Buch der Ärztin und Ex-Homöopathin Nathalie Grams, Was wirklich hilft, 2020)
Dabei ist ja die zitierte Impfmüdigkeit nur ein – allerdings ein besonders schädlicher und gefährlicher – Aspekt einer viel umfassender destruktiv wirkenden Wirkung „alternativer Medizin“, dessen Schädlichkeit und Gefährlichkeit aber gerade in der Corona-Krise unabweisbar und bedrängend deutlich wird: „Alternative Medizin“ schadet, wie überhaupt das Geschwafel von „Alternativen Fakten“ oder das Streuen von „Fake-News“, weil sie unser Urteilsvermögen beschädigen und letztlich unseren Sinn für Wahrheit und Lüge verwirren. (Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat dazu – lange vor Donald Trump! – den leider unübersetzbaren Begriff „bullshit“ analysiert, der im Unterschied zur vergleichsweise harmlosen Lüge, die totale Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit und Lüge bezeichnet; Harry G. Frankfurt, On Bullshit, 2005)
In der Licht-Dunkelheit-Metaphorik des Johannes gesprochen bemüht sich die „alternative Medizin“ und ihre ebenso hässlichen Schwestern „alternative Fakten“ und „Fake-News“ um einen Grauschleier, der die Unterscheidung des Lichts der Wahrheit von der Nacht der Unwahrheit verhindert – oder im religiösen Bereich die Grenze zwischen Glaube und finsterem Aberglaube verwischt – nach dem Motto: Wer an die Auferstehung glaubt, muss auch nicht an Globuli zweifeln.
Der christliche Glauben hat hier viel zu verlieren: Wenn nämlich – wie gesagt – die Grenze zwischen Glauben und Aberglauben verwischt und entweder jeder Humbug für möglich gehalten wird – oder mit dem Humbug zusammen auch der christliche Glaube entlarvt und abgelehnt wird. (Wie das die oben zitierte Ärztin und Autorin Grams leider tut.)
Noch einige Male – beinahe penetrant oft – nennt unsere Geschichte im Fortgang die merkwürdige Heilung mit dem Brei aus Staub und Spucke, der anschließend abgewaschen wird. Schon dem Evangelisten Johannes geht es darum, das Merkwürdige – eher das Absurde – dieses Vorgangs herauszustellen, der in keinem Verhältnis zu seiner Wirkung steht.
Er möchte hier nichts alternativmedizinisch plausibilisieren, sondern den riesigen Unterschied zwischen absurder Handlung und ihrem „Ergebnis“ verdeutlichen. Nicht die Handlung selbst sondern der Handelnde allein (solus Christus!) bewirkt die Heilung: Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Kein Brei aus Dreck heilt – sondern Jesus heilt.
Und sowenig die Handlung selbst zur Heilung führt sondern der Heilende allein, sowenig kann sie der Kranke verhindern. Damit sind wir auf einen zweiten großen Aberglauben rund um die Medizin gestoßen, dass nämlich Krankheit Strafe für unsere Sünden wäre, was aber klar zurückgewiesen wird: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Das spukt ja immer noch überall herum, dass es moralische Gründe für Krankheit und Seuche geben könnte, dass hier ein Fehlverhalten bestraft würde, dass jemand moralische Schuld für seine Krankheit oder die Seuche hätte.
Das ist gar nicht so leicht auszuhalten und auseinanderzuhalten, dass es einerseits sinnvoll ist nach Gründen für Krankheit und Plage zu forschen – und dann im günstigsten Fall die Ursachen festzustellen und zu beseitigen; und andererseits nicht diese Ursachen zu moralisieren, um dann die Krankheit für eine Strafe zu halten. Selbst gutgemeinte Gesundheitskampagnen können bewirken, dass Lungenkrebs, Leberzirrhose oder Fettleibigkeit moralisiert und dann irgendwann für die gerechten Strafen für Raucher, Trinker und Esser gehalten werden – was sie nicht sind. Auch Corona ist keine Strafe – schon gar keine Strafe Gottes – sondern eine Krankheit (bzw. ihr Erreger), wie sie zur Natur in der wir leben gehört, schon immer gehört hat und – so unangenehm die Aussicht auch ist – immer gehören wird.
Ein kluger Augenarzt in unserer Gemeinde (der in seiner Praxis ganz ohne Spuckebrei und Dreck auskommt) hat mir einmal damit die Augen geöffnet, dass er in Reaktion auf die Frage, warum es gerade diese oder jene mit einer schweren Krankheit getroffen habe, meinte, dass nicht die Krankheit die erklärungsbedürftige Abweichung – sondern Gesundheit und noch mehr: Heilung das bestaunenswerte Wunder sei. Dass wir krank werden ist das Normale, dass wir gesunden ist das Besondere. Dass wir leben; das Leben eben!
Und genau das dürfte die Pointe unseres Textes sein: dass die Werke Gottes offenbar werden an ihm: Leben und immer neues Leben zu schaffen. Dass wir unser Leben als Gottes Geschenk verstehen; aus Gott leben und nicht aus uns selbst.
Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)
Amen.