Predigttext für den 10. Sonntag nach Trinitatis, 16. August 2020

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

(Brief des Paulus an die Römer 11, 25-36)

Zwei Streithälse legen ihren Streitfall dem Meister vor. Nachdem der erste seine Sicht der Dinge geschildert hat, sagt der Meister: Du hast recht. Dann trägt der zweite seine ganz andere Sicht der Dinge vor, und bekommt dieselbe Auskunft: Du hast recht. Die Frau des Meisters bekommt das mit und stellt ihren Mann empört zur Rede, sie könnten ja nicht beide recht haben. Darauf der Meister: Da hast du auch recht. (Alter jüdischer Witz, wieder aufgeschnappt in der aktuellen Ausgabe der Kirchenzeitung, früher „Weg mit der Wahrheit!“, Pardon: „Weg und Wahrheit“) O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!

Liebe neue Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

jeder Gottesdienst hat einen Anlass – z. Beispiel Weihnachten oder Taufe oder Schulanfang oder einfach weil Sonntag ist – und manche Gottesdienste haben sogar mehr als bloß einen Anlass, dann ist es schwer allen gerecht zu werden, so wie heute, wenn wir 1. die neuen Konfirmanden begrüßen, 2. Israelsonntag begehen und 3. das Ganze in Zeiten einer uns alle einschüchternden und in Stress versetzenden Seuche feiern wollen. Jedes der Themen ist mehr als genug für einen Gottesdienst, alle drei zusammen sind eindeutig des Guten zu viel. Andererseits hängt doch sowieso alles mit allem zusammen und der Theologe Karl Barth hat zur Predigtaufgabe gesagt, dass immer alles gesagt werden und dafür vom Anfang anzufangen sei. Das kann sich dann auch auf die Länge der Predigt auswirken!

Ein Anfang des christlichen Glaubens liegt jedenfalls im jüdischen Glauben, so wie Jesus und seine Jünger und Apostel allesamt „geborene Juden“ waren. (Martin Luther, Dass Jesus ein geborener Jude sei 1523.) Es gehört zu den Tragödien der Christentumsgeschichte, dass Martin Luther seine reformatorischen Erkenntnisse und Errungenschaften nicht diesen entsprechend auf unsere jüdischen Geschwister angewandt hat, sondern zum geifernden Judenfeind (Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen 1543) wurde, dessen Tiraden unentschuldbar sind und noch heute Entsetzen auslösen. Dennoch ist es unhistorisch und ungerecht, ausgerechnet ihn zum exemplarischen Antisemiten seiner Zeit – oder gleich aller Zeiten – zu erklären; seiner Zeit, in der die meisten europäischen Herrscher ihre jüdischen Untertanen mit Gewalt vertrieben und die vorreformatorischen Theologen im Gegensatz zu Luther die jüdischen Wurzeln ihres Glaubens längst vergessen hatten. Für seine oben zitierte Schrift von 1523 wurde Luther von seinen katholischen Feinden als „Judenfreund“ bezeichnet, was als Beschimpfung gemeint war. Und der Humanist Erasmus von Rotterdam hat – ebenfalls im Unterschied zu Luther – einen rassistischen Antijudaismus gepflegt, der getauften Juden Feind blieb, weil sie als Juden geboren waren. Der rassistische Antisemitismus anderer Zeiten und unserer Zeiten – den der Teufel holen soll! – kann sich auf Luther jedenfalls nicht berufen, auch wenn das seine antijüdischen Tiraden nicht entschuldigt.

Wenn wir etwas über unsere Religion erfahren wollen, tun wir gut daran, etwas über den jüdischen Glauben als unsere Mutterreligion zu erfahren, und zwar nicht so, dass wir Christen uns für die neuen Juden und die Kirche für das wahre Israel hielten, die die alten Juden und das unwahre Israel – was es nicht ist – abgelöst hätten, sondern wie Paulus beide Religionen – die jüdische Mutter wie die christliche Tochter – zusammenzudenken: Du hast recht – du hast recht; wie der jüdische Meister, der Rabbi, das beiden Parteien sagt – und dann seiner klugen Frau zustimmen muss, dass sie auch recht hat – und damit das logische Problem keineswegs löst.

Wenn wir als Schüler und Konfirmanden über unsere Religion lernen, werden wir lernen, dass wir den größten Teil der Bibel, die Psalmen, die 10 Gebote, das Vaterunser, den Segen, sogar die kleinen, aber bedeutenden Wörtchen Halleluja – Lobet den Herrn! – und das Amen – So sei es! – der jüdischen Religion verdanken und mit ihr teilen. Zumindest Anerkennung und Respekt für dieses jüdische Erbe sind wir schuldig. Aber noch mehr. Vielmehr gehören Juden und Christen im Glauben zusammen – davon ist der Apostel Paulus überzeugt.

Paulus bemüht sich, den christlich-jüdischen Antagonismus zeitlich aufzulösen: die Christen haben nicht nur die jüdische Religion zu ihrem Ursprung sondern Juden und Christen haben ein gemeinsames Ziel in Gott: am Ende wird alles gut; am Ende werden Trennung und Streit überwunden sein; am Ende wird alles gut. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Das aber ist – nach Paulus – ein Geheimnis und zwar das Geheimnis der Welt. Paulus gehört zu denen, die ein Geheimnis nicht bewahren können oder wollen, und das ist gut so. Er weiß, dass ein Geheimnis ein Geheimnis bleibt, auch wenn es offenbart ist – ganz anders als ein Rätsel, das, einmal gelöst, nichts mehr verbirgt. Ein Geheimnis bleibt ein Geheimnis, es behält seine Kraft, seine Energie, sein Potential. Paulus teilt das Geheimnis mit uns und das besteht im Wesentlichen darin, dass sich Gott aller erbarmt. Die ganze Welt ist unter Gottes Erbarmen gestellt – auch wir, sogar wir. Und zwar weil wir alle – als fehlbare, sündhafte Menschen – auf dieses Erbarmen angewiesen sind. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Damit erledigt sich die an sich schon alberne Frage, welche Religion, welcher Glauben der Bessere sei. Wie sollte man das messen? Vielleicht nach Glückspunkten im Diesseits und Aufstiegsmöglichkeiten im Jenseits? Blödsinn. Nicht der Reichtum unserer Religion oder ihre besonders virtuose Ausübung sondern unser Mangel an Glauben erweckt Gottes Erbarmen, dass sich je und je zeigt, auch schon in diesem Leben; aber so richtig und in ganzer Pracht und Fülle zeigt sich sein Erbarmen erst am Ende. Am Ende ist alles gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.

Das wäre dann auch die Erkenntnis aus unserem Text für die Krise unserer Zeit. Ich glaube nicht, dass Corona als Strafe Gottes anzusehen ist, schon gar nicht als erzieherische Strafe, das wäre ja zynisch. Aber Corona ist auch nicht einfach glaubensneutral, oder umgekehrt ist auch unser Glauben nicht irrelevant für den Umgang mit der Plage. Vielmehr entspricht unser Erleben in diesen Wochen und Monaten ziemlich genau den von Paulus und den anderen Autoren der Bibel beschriebenen Vorrausetzungen unseres Glaubens: Als fehlbare Menschen in einer gefallenen Schöpfung sind wir auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Und dieses Erbarmen ist nicht an Erfolg oder Misserfolg unseres Lebens ablesbar – Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! – sondern so lange Gegenstand des Glaubens bis Gott endlich alles in allem sei: Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.

Dass schlimme Dinge passieren – immer wieder und überall passieren – spricht nicht gegen Gott sondern entspricht der großen biblischen Erzählung, dem Narrativ der Bibel. Aber es bleibt nicht bei den schlimmen Dingen – sagt die Bibel – sondern das Gute setzt sich durch, Gott setzt sich durch. Das muss man nicht glauben – wie man glauben gar nicht muss – aber man kann.

Die Weltgeschichte geht gut aus. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn Gott der Herr der Geschichte und das Geheimnis der Welt ist. So hat sich Gott seinem Volk offenbart.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.