Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe. Herr, du hilfst Menschen und Tieren. Wie köstlich ist deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. (aus Psalm 36).
Mein Lieblingspsalm spricht und singt von der alles umfassenden Gnade Gottes, der Leben und immer mehr und neues Leben schenkt. Ich spreche ihn bei den meisten Tauf- und Traugottesdiensten, die in besonderer Weise Feste des Lebens sind, das Leben feiern, und spreche ihn auch sonst gern, und denke an ihn in der Natur, am Meer, in den Bergen, unter weitem Himmel: Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist. Auch in diesem Jahr ist das so, in dem so vieles anders ist oder doch anders scheint. Eindringlich, vielleicht eindringlicher als sonst oft vermittelt die Seuche die Zerbrechlichkeit unseres menschlichen Lebens; aber wer einmal ernsthaft krank war oder einen Sterbenden begleitet hat, wusste das eigentlich schon vorher, dass wir zerbrechlich, dass wir sterblich sind; das wussten ja schon die alten Griechen, die die Menschen die „Sterblichen“ nannten und in der Bibel steht es natürlich auch: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden (Psalm 90,12).
Auch unsere Psalmverse wissen davon, deuten das an, wenn von Hilfe, von Zuflucht, von Licht die Rede ist: Hilfe wovor, Zuflucht wohin, Licht in der Dunkelheit? Ohne diese Tiefendimension, ohne den Schatten über dem Bild, das der Psalm zeichnet, wäre es bloß Kitsch, ein alberner Schlager oder leerer Trivialroman. Der könnte uns allenfalls betäuben, aber nicht erheben, was er doch tut. Menschliches Leben ist hilfsbedürftig, braucht Zuflucht und Schutz, sucht Orientierung, wenn es geht, Orientierung am Licht des Lebens, damit wir nicht im Dunkeln herumirren. Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit kränken unseren Anspruch auf Autonomie, wieso es nur folgerichtig, aber absurd ist, dass viele Menschen und mittlerweile sogar das meistens doch ganz vernünftige Bundesverfassungsgericht den selbstgewählten Tod – also die definitive Negation von Autonomie – für den letzten Test und entscheidenden Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung halten.
(Dass wir diesem Urteil des Gerichts weniger als die notwendige Beachtung und Kritik zuwenden, gehört zu den Kollateralschäden der Seuche, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.) Das Leben aktiv zu beenden oder dabei zu helfen, darf nicht für staatliche oder ärztliche Pflicht gehalten werden, sondern vielmehr die Fürsorge der Lebenden für die Sterbenden. (Und dass in Zeiten der Seuche so viele Menschen unbegleitet und ungetröstet sterben mussten, das ist allerdings ihr größter Schaden.)
So wie Religion möglicherweise im Bestattungskult einen Ursprung hat, so lässt sich – glaube ich – umgekehrt unser Sterben nicht ohne den Glauben denken und ertragen. Mit dem Leben hat uns Gott das Sterben gegeben, leben können heißt sterben müssen (was hier religiös gemeint ist, aber auch biologisch stimmt.) Unsere Aufgabe als Menschen, unsere Lebensaufgabe besteht darin, das Geschenk unseres Lebens anzunehmen – zu feiern! – und dabei dem, der uns das Leben gab, so zu vertrauen, dass wir es loslassen können, wenn er es uns wieder nimmt. Nicht zufällig bildet der Himmel den Ort ab, an den uns Gott nach dem Tod führt: Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist – viel weiter, als wir uns das denken können.
Klaus Neumann, Pfarrer