Predigttext für den 21. Sonntag nach Trinitatis, 1. November 2020

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte …

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.

Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

(Buch des Propheten Jeremia 29,1-14*)

Suchet der Stadt Bestes! Das ist – liebe Schwestern und Brüder – seit langem der Schlüsselbeleg aus der Bibel für das gesellschaftliche Engagement der Christen, für ein politisches Christentum – und gegen den stillen Rückzug in die fromme Ecke. Uns wird folglich heute eine politische Predigt zugemutet – mir sie zu halten, Euch sie zu hören und zu ertragen.

Suchet der Stadt Bestes! Schon seit Jeremias Zeiten werden die Gläubigen dazu aufgerufen, nicht nur auf Erlösung und das Reich Gottes zu warten – das auch! – sondern die irdischen Reiche mitzubauen und mitzugestalten. Christen sind nicht neutral in gesellschaftlichen Fragen, keine Idioten im eigentlichen Sinne dieses schönen griechischen Wortes, das ursprünglich den politisch desinteressierten, unwissenden Menschen bezeichnet, der sich dem demokratischen Prozess und damit der Verantwortung für die gemeinsame Sache verweigert. (Insofern trifft übrigens die Wortschöpfung „Covidiot“ haargenau die, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung verweigern, die sich aus der Corona-Seuche ergibt.)

Suchet der Stadt Bestes! Es lohnt sich – wie immer – auf den genauen Wortlaut dieser prophetischen Empfehlung zu achten: Da steht ja nicht: Suche dein Bestes! Was ja vielleicht im günstigsten Fall die liberale Illusion bezeichnen würde, dass, wenn alle ihr eigenes Glück anstreben (im berühmten „pursuit of happiness“), das gemeinsame Glück entsteht; eine Illusion ist das deshalb, weil natürlich die Starken ihre Vorstellung von Glück und Gut weit eher verwirklichen können als die Schwachen. Wenn alle in Freiheit ihrem Glück nachstreben, herrscht das Recht des Stärkeren. Deshalb fordert der Prophet eben nicht mein Bestes sondern das Beste der Stadt zu suchen: Gemeinwohl vor Eigennutz!

Dazu gibt es ein schönes aktuelles Beispiel: In einem Gesprächskreis lange vor Corona kamen wir auf die Wiesbadener Citybahn zu sprechen und ich musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass man auch dagegen sein kann. Es mag Gründe für beide Meinungen geben, aber das in diesem Gespräch immer wieder geäußerte Argument „Ich brauche sie nicht“ ist – aus christlicher Sicht – keins, zumindest kein gutes. Denn es ist natürlich demokratisch legitim, in politischen Entscheidungen dem eigenen Nutzen zu folgen. Aber der christliche Glaube verlangt mehr, nämlich die Orientierung am Gemeinwohl: Suchet der Stadt Bestes! – Wobei natürlich zumindest theoretisch denkbar wäre, dass auch die Orientierung am Gemeinwohl gegen die Bahn spräche. Bevor wir das Kreuzchen heute machen, müssen wir das prüfen.

Übrigens meint das hebräische Original des Prophetenwortes noch etwas viel Besseres als bloß „das Beste für die Stadt“, indem es nämlich sagt, was das Beste ist: Dirschu et-Schalom ha-Ir! Heißt eigentlich: Sucht den Frieden, das Wohl, das Heil der Stadt. Der biblische „Schalom“ ist weit mehr als Abwesenheit von Gewalt und Krieg – das natürlich auch. Er meint den gelungenen Ausgleich der verschiedenen Kräfte und Interessen, das gemeinsame Wohl von Menschen und Tieren, Heil und Leben aller vor einem wohlwollenden Gott. Sucht das Wohl der Stadt!

Dabei hätte Jeremiah doch eigentlich allen Grund, eine andere Botschaft in die Stadt Nebukadnezars, des grausamen Feldherrn und Eroberers, zu senden; eine andere Botschaft in die Stadt Babylon, die noch uns Heutigen ein Symbol der Verkommenheit und des Verfalls ist: „Babylon Berlin“; eine Stadt, in die die Israeliten verschleppt wurden, deportiert, ihrer Heimat, ihres bisherigen Lebens beraubt.

Denkbar oder sogar naheliegend wären doch Botschaften des Zorns und der Selbstbehauptung, der Beschwörung der eigenen Identität (übrigens dieselbe sprachliche Wurzel wie Idiot!) in der fernen Fremde – wie es auch heutzutage gelegentlich die Präsidenten der Herkunftsländer von Migranten und Exilierten tun. Denkbar wäre doch zum bloßen Durchhalten aufzufordern, zum Abgrenzen, zum Abschotten und Desintegrieren, um Parallelgesellschaften zu bilden und dann bei der ersten, besten Gelegenheit wieder zurückzukehren. Was geht mich das Wohl der Stadt an?

Anders Jeremia, der ahnt, der weiß, dass das Exil lang sein wird – kein Sprint sondern ein Marathon, in den man sich einrichten muss. Von 70 Jahren ist die Rede. Auch in diesen siebzig Jahren in der Fremde soll – so sagt es der Prophet – gelebt und geliebt werden, sollen Familien gegründet, Häuser gebaut und Felder bestellt werden, soll das Leben gestaltet und das gemeinsame Wohl gesucht werden.

– So wie das Millionen Einwanderer, also Millionen unserer italienischen, spanischen, polnischen und türkischen – und so vieler anderer eingewanderter – Landsleute seit beinahe 70 Jahren in unseren Städten tun – im privaten und im gesellschaftlichen, im sportlichen, kulturellen und kulinarischen, im politischen Leben, auch in Forschung und Medizin: Die Virologin aus Hamburg und der Impfforscher aus Mainz sind ja nur die gerade jetzt besonders sichtbaren Beispiele von Medizinern und Forschern mit Migrationshintergrund. (Und es ist auf eine sehr dialektische Weise – passend zum Hegeljahr?! – tröstlich, dass einer der Autoren eines Spiegelcovidiotenbestsellers ursprünglich von sehr weit her kommt: Wer so was schreibt, und wenn das dann auch noch gelesen wird, der hat es in seiner neuen Heimat weit gebracht.)

Manchmal übersehen wir das alles, was doch überwiegend gelingt, beim Betrachten der Migrationsprobleme, die es auch gibt, wohl geben muss – und die uns in diesen Tagen im Blick auf Frankreich zutiefst verstören und quälen. Auch Babylonier und Israeliten werden sich bisweilen bekämpft haben. Dennoch sagt der Prophet: Suchet gemeinsam der Stadt Bestes! Was wäre denn die Alternative?

Spricht unser Prophet auch in unsere aktuelle besondere Zeit der Corona-Krise und der Seuchen-Angst? Na klar, wie denn nicht? Vor den Falschsagern und Leugnern wird ausdrücklich gewarnt: Lasst euch von den Wahrsagern nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Nein, das Virus geht nicht weg, wenn wir es leugnen.

Und morgen beginnt dann also wieder ein Monat des inneren Exils vom gewohnten Leben – auch kein Sprint sondern Marathon, aber – da lege ich mich fest – ganz bestimmt keine 70 Jahre. Auch in diesen Wochen und Monaten der neuerlichen Distanzierung, der Vereinzelung und Trennung, die vor uns liegen, sollen wir – so ermuntert und ermutigt uns der Prophet – leben und lieben, Familien gründen, Häuser bauen – wenn man durch Wiesbaden fährt, wenn’s denn mal weitergeht vor lauter Staus, hat man den Eindruck, dass noch nie so viel gebaut wurde wie gerade jetzt – Felder bestellen, lernen und forschen – gerne auch nach guter Medizin – und das Wohl der Stadt suchen: Suchet der Stadt Bestes!

Der Prophet – und das muss uns nun nicht wirklich überraschen – traut der Religion in dieser Sache besonders viel zu; sie ist nicht nur systemrelevant sondern mehr als das, denn sie soll ja das System tragen und erneuern (auch sich selbst reformieren, darüber wäre gestern zu reden gewesen): wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR. Wir sind als Gemeinden dankbar, dass wir anders als im Frühjahr weiterhin gemeinsam auf die Suche nach Gott gehen und Gottesdienste feiern können, in aller Verantwortung und bei aller Vorsicht, versteht sich.

Der Prophet endet mit einem geradezu überschwänglichen Wort der Hoffnung, das wir auch auf uns beziehen dürfen: Es wird alles gut, also zumindest so gut wie es vorher war, wie es in diesem Leben sein kann. Auch wir werden nach dem Corona-Exil in unser früheres Leben zurückkehren:

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung… und ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Amen.