Predigttext für den 20. Sonntag nach Trinitatis, 25. Oktober 2020

Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. (Markusevangelium 2,23-28)

Desperate times call for desperate measures. Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Es kann nicht verwundern, dass diese Redensart im Zusammenhang von Krankheit und Heilung entstand und dem griechischen Arzt Hippokrates zugeordnet wird, genau! – dem mit dem Eid. Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Passt zur Pest; passt sehr in unsere Corona-Zeit.

Und der notwendige Streit um die hoffentlich notwendenden Maßnahmen geht immer auch um die Frage, ob und wie sehr wir uns in einer Notzeit befinden. Wer nicht einsieht, wer nicht einsehen kann, dass jetzt Notzeit ist, wird auch die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen nicht einsehen können. Das lässt sich tagtäglich in Presse, Funk und Fernsehen vernehmen, wenn der sich seriös gebende journalistische Arm der Covidioten und Leugner das Recht von Partys, offenen Schulen und der nicht zu störenden Wirtschaft lautstark gegen die Wirklichkeit der Seuche auflehnt. Aber wer soll unterrichten, wenn die Lehrer krank sind? Und wer soll arbeiten und kaufen, wenn die Käufer und Arbeiter mit der Seuche im Bett oder im Grab liegen?

Wer Hunger nicht kennt, wird den Mundraub der Jünger am Sabbat nicht verstehen. („Die hätten ja wirklich mal einen Tag hungrig ins Bett gehen können.“ Oder: „Wer kein Brot hat, soll halt Kuchen essen!“) Und wer Corona für eine Art Grippe hält, wird im Leben nicht verstehen, dass anders als in Grippezeiten nun zumindest zeitweilig andere Regeln gelten müssen und also das öffentliche Leben abgeschlossen und ruhig gestellt werden muss unter Einschränkung gleich mehrerer Grund- und Menschenrechte; um der Menschen (und dieser Rechte!) willen. Denn Rechte und Gesetze sind um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um der Rechte und Gesetze willen – wie Jesus schon sehr richtig insistierte. Was hülfe es dem Menschen, seine Freiheit zu gewinnen aber sein Leben zu verlieren? (Wie Jesus nicht sagte – aber meinen könnte; vgl. Markus 8,36)

Kein Wunder, dass solche Berufung auf ein höheres Recht in einer Notsituation umstritten ist und insbesondere bei Juristen, den eigentlichen Hütern der Gesetze, umstritten ist – auch in dieser Situation, obwohl es ja ein Seuchenschutzgesetz gibt, das Eingriffe in Bürgerrechte zu Notzeiten vorsieht. Wobei ich es unglücklich finde – und beinahe einen Kategorienfehler, dass gerade mehr und mehr seuchenpolitische Maßnahmen vor Gerichten entschieden werden: also etwa die Mundschutzpflicht im Unterricht oder Quarantänebestimmungen für Hotspots mit offenkundig fragwürdigen Urteilen. Das sind doch politische Entscheidungen aufgrund von medizinischen Sachverhalten, die Juristen nicht und schon gar nicht besser beurteilen können (genauso wenig natürlich die Theologen).

Dieses juristische Vorgehen dürfte dem Verlangen folgen, möglichst keine rechtsfreien Räume oder rechtlich unbestimmte Situationen zuzulassen. Das zeigt sich etwa im Widerstand gegen ein „Widerstandsrecht“ gegen Maßnahmen des Staates oder in der Abschaffung des Mundraubparagraphen im Strafgesetzbuch vor nicht allzu langer Zeit. Beides – ein „Widerstandsrecht“, das es juristisch nicht gibt, wie auch die Idee eines „Mundraubs“, den es zumindest mal gab – hat nicht zufällig eine gewisse Relevanz in kirchlichen oder auch nur christlich inspirierten Diskussionen – wenn wir an Kirchenasyl für Flüchtlinge, an Waldbesetzungen wie aktuell im Dannenröder Forst oder an das Containern, also das Verwerten von weggeworfenen Lebensmitteln in Müllcontainern vor Supermärkten denken, die allesamt – juristisch – strafbewehrte Vergehen sind, und andererseits – theologisch – gleichsam prophetische Zeichenhandlungen sein können, die sich auf eine höhere Gerechtigkeit berufen: nämlich Menschenwürde und Menschrechte, Bewahrung der Schöpfung und Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Es scheint da eine prinzipielle Spannung zwischen rechtlichen und religiösen Argumenten zu geben. (Unsere rechtskundigen Ausbilder im Fach Kirchenrecht ließen keine Gelegenheit aus, um unsere Begriffsstutzigkeit in juristischen Fragen herauszustellen, während wir Theologen uns immer noch mit dem bösen Spott trösten, dass noch nie ein Jurist vom Paulusplatz einen Rechtstreit für sich entscheiden konnte – was vermutlich nicht stimmt.)

Auch die Pharisäer in unserer Geschichte treten nicht nur oder nicht zuerst als religiöse Konkurrenten auf sondern als rechtskundige Schriftgelehrte, die eine Befolgung des 3. der 10 Gebote fordern: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ – unter Verkennung der Notsituation, auf die Jesus in seiner Replik ausdrücklich abhebt: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte? Es gibt also einen Präzedenzfall im Alten Testament: Der berühmte König David hat auch in einer Notsituation als ihn hungerte gegen Gottes Gebot verstoßen.

Jesus verweist interessanterweise auf David und nicht auf die allgemeine Erlaubnis zum Mundraub aus Not, die sich ebenfalls im Alten Testament findet: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehst, so darfst du Trauben essen nach deinem Wunsch, bis du satt bist, aber du sollst nichts in dein Gefäß tun. Wenn du in das Kornfeld deines Nächsten gehst, so darfst du mit der Hand Ähren abrupfen, aber mit der Sichel sollst du nicht dreinfahren.“ (5. Mose 23,23f. Man kann es bedauern, dass der Mundraubparagraph aus dem Strafgesetzbuch getilgt wurde. Es ging in diesem Bezug zur Bibel nicht so sehr um die Beschwichtigung eines Bagatelldelikts – auch Mundraub wurde bestraft aber geringer als Diebstahl – sondern um das Eingeständnis, dass das Eigentumsrecht der einen nicht in jedem Fall über der Not der anderen steht. Das dreiste Mitgehenlassen z.B. von Trauben im reifen Rheingauer Weinberg oder die heimliche Ernte von fremder Leute Quitten war damit eh nie gemeint; aber vielleicht das übriggebliebene, schon angewelkte und heimlich aufgefutterte Käsebrötchen, das mittlerweile den Job kosten kann.)

Es geht in unserer Jesusgeschichte nicht einfach um Mundraub aus Not sondern um Mundraub aus Not am Sabbat – also an dem Tag der Woche, an dem sich die Glaubenden an Gottes Schöpfung erinnern sollen, als noch alles gut und kein Mangel war: „Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.“ (2. Mose 20,11) Wie an den Heilungen am Sabbat, die ähnliche Konflikte mit den Pharisäern als Hütern des Rechts provozieren (über die Frage: Darf man am Sabbath medizinische Dienstleistungen erbringen? – Nein! [was sich Gottseidank geändert hat] Darf Jesus am Sabbath heilen, um das Heil Gottes zu zeigen? – Ja!), so stellt Jesus zeichenhaft prophetisch in seinen Reden und Wundern dar, wie Gott seine Schöpfung gemeint hat und wie sein Reich sein wird. In seinen Handlungen stellt Jesus die Schöpfungsordnung dar – und wieder her!

Zum Sinn der Schöpfung gehört nach Meinung der Bibel der Mensch und seine besondere Würde und Stellung: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Der Mensch ist also nicht Mittel sondern Zweck, nicht Objekt sondern Subjekt. Darin liegt seine Würde.

Wenn Notzeiten besondere Notmaßnahmen erfordern, was sie tun! – wir erinnern uns: desperate times call for desperate measures – dann aber nicht in der Weise, dass vom Goldstandard religiösen und juristischen Redens vom Menschen abgewichen würde: der Menschenwürde.

Das Schreckliche an der Corona-Seuche ist nicht, dass Menschen erkranken, leiden und sterben – das tun sie, also wir, alle Tage (schrecklich genug!). Sondern das Schreckliche ist, dass Menschen in dieser Notsituation ihrer Würde beraubt werden – während der Frühjahrsausbrüche in Sterbehallen ohne Versorgung oder Begleitung selektioniert nach Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens wie in Norditalien, in Spanien oder New York; oder wenn die schwachen Alten in Scharen aufgegeben werden ohne auch nur den Versuch der Behandlung wie im Corona-Wunderland Schweden (Meine Schwester, die dort lebt, kann sich aufregen über die Politik dort und die Berichterstattung darüber hier.)

Und das Skandalöse an den Corona-Debatten (also an denen, die sich seriös geben; die anderen sind ohnehin indiskutabel) ist das Werten und Abwerten von Menschenleben: Wie viele 90jährige Leben wiegen meinen Partyspaß auf? Auf wie viele Menschenleben meine ich verzichten zu können, um vorübergehende Schließungen des öffentlichen Lebens zu vermeiden, damit die Wirtschaft brummt? Welches Risiko kann ich Schülern und Lehrern zumuten, um die Schulen offen zu halten?

Den Vogel hat neulich der Chef der Süddeutschen Zeitung abgeschossen, als er die ohnehin gebeutelten Kirchen und ihre Vertreter für ihre Coronareaktion verächtlich gemacht hat und sie wegen der Kirchenschließungen über Ostern der Feigheit bezichtigt hat, ohne das Offensichtliche zu erkennen und zu nennen: nämlich dass sie – also wir – mit den Schließungen unsere Mitglieder und Besucher beschützt haben. Sonntag und Gottesdienst stehen nicht über Schutz und Würde des Menschen – meint jedenfalls Jesus:

Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Amen.