Dritter Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021

Es nahten sich ihm – Jesus – aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?

Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

(Lukasevangelium 15, 1-10)

Viele – vielleicht alle Familien kennen Geschichten des Verlorengehens – unsere geht so: Ein kleines Mädchen geht am Strand spazieren. In den vergangenen Tagen hat es diesen Ort für sich entdeckt, mit ihren Geschwistern und Eltern: das Meer, den Sand, Strandhafer, Muscheln, Wind, Weite Sonne.

Nun will sie etwas weiter gehen, den neuen Ort erkunden, nicht unbedingt allein, aber gerne selbständig, mal hierhin, mal dorthin, ohne Richtung, aber mit Neugier und dem Ziel, noch mehr zu sehen und noch mehr kennenzulernen. Und so läuft sie – nun doch immer in derselben Richtung, ein paar Dutzend, ein paar Hundert Meter weit, immer weiter. Es sieht genauso aus, wie an der Stelle ihres Aufbruchs, aber doch ganz anders. Sie dreht sich ein paar Mal um, geht weiter, immer weiter, sieht die Geschwister und die Eltern nicht, die müssten eigentlich da sein, sind sie aber nicht.

Die haben dafür auch gemerkt, dass die Jüngste fehlt. Ein Schrecken durchfährt sie. Wo ist sie hin? Sie kennt sich ja nicht aus. Sie ist ja noch so klein. Ist was passiert? Sie suchen nach allen Richtungen, fragen die anderen Strandbesucher, am Meeressaum rechts und links, in den Dünen, im Strandwäldchen, auf den kleinen Wegen zu den Sommerhäuschen – ein großes Gelände, uneinsehbar, unübersichlich, deshalb ist es ja so schön – aber auf einmal hat sich die Schönheit in Schrecken verwandelt. Der zur Panik neigende Elternteil fällt in Panik – was kann nicht alles passiert sein? – steckt den vernünftigeren an. Es sind ja bisher gut zehn, bald gut zwanzig, bald dreißig Minuten her. Wann und wo und wie werden wir sie finden?

Natürlich suchen wir weiter, manche Ecken an denen schon einer war, immer wieder. Und dann entdecken wir sie – nach unendlichen, vielleicht vierzig Minuten – doch; folgen einem Hinweis: eine Zweijährige? ganz alleine? die ist in diese Richtung gelaufen.

Wir glauben sie zu erkennen, ganz am anderen Ende der weiten Bucht, ein paar Hundert Meter entfernt, ein Pünktchen in den Farben ihrer Kleidung zwischen anderen Pünktchen, aber vielleicht ist sie es gar nicht, vielleicht aber doch. Und wir rennen los – ein panisches Wettrennen, ein paar Minuten dauert es dann noch, der große Bruder gewinnt, nimmt sie in die Arme, große Freude.

Auch die Kleine, wiedergefundene Verlorene war in Angst, verzweifelt über ihr Verlorensein, in Tränen aufgelöst, und erst allmählich das Glück der Gefundenen fassend, so wie wir anderen auch.

Zurückgekehrt an unseren Strandplatz begrüßt uns die zurückgelassene, nur etwas größere Schwester, auch freudig, dass wieder alle da sind, dabei ganz gelassen; wozu die Aufregung? Ihr war klar, dass die andere wiedergefunden würde, anderes konnte und musste sie noch nicht denken.

Viele – vielleicht alle Familien kennen Geschichten des Verlorengehens, des Suchens, des Wiederfindens – besonders der Angst und Verzweiflung über jenes und der Freude und des Glücks über dieses. Wenn ich die Geschichtensammlung des Lukas im 15. Kapitel von der Freude über das widergefundene Verlorene lese – diese Sammlung von Geschichten sich steigernder Freude von Schaf und Groschen und Sohn, dann kann ich nicht anders als an jenes Erlebnis am Strand vor mittlerweile ganz paar Jahren denken, das mich nicht mehr aufwühlt, aber immer noch bewegt: Das verlorene, wiedergefundene Töchterchen.

Und an solche Begebenheiten – des Verlorengehens und der Verlorenheit einerseits und der Freude über das Wiederfinden andererseits – sollen wir denken, wenn wir über Gott und uns nachdenken. In ihnen sollen wir begreifen, wie sich Gott um uns bemüht, wie Gott keine Mühe scheut uns zu suchen und zu finden – und dabei fühlt wie wir: den tiefen Schmerz über die Verlorenen, Hoffnung und Zweifel während der Suche und die große Freude über die Gefundenen: Gott gibt die Verlorenen nicht verloren; das Suchen und Finden der Verlorenen sind ihm Passion und Profession und seine Freude über die Gefundenen, die viel größer ist als die über die, die sich schon haben finden lassen: So groß ist Gottes Gnade.

Damit wäre beinahe schon alles gesagt – wären da nicht die nicht zu überlesenden Bemerkungen über den auffällig unterschiedenen Grad der Freude, über Unterschied und Steigerung der Freude über das wiedergefundene Verlorene; die Steigerung besteht vor allem im Verlustquotienten: 1/100 der Schafe – 1/10 der Groschen – ½ der Söhne (und unausgesprochen!: 1/1 der Zuhörer, also die Zuhörer im Ganzen) waren verloren und werden wiedergefunden: der Finder des einen Schafs freut sich über dieses mehr als über neunundneunzig andere, oder die Finderin des einen Groschens mehr als über die neun anderen – oder der Vater des einen Sohn mehr noch als über einen anderen – wie beim verlorenen Sohn, über den wir in der Lesung gehört haben, und dessen eifersüchtigen, neidischen Bruder, der so ganz anderes reagiert als das weise Töchterchen in der Familiengeschichte; die hat sich gefreut, wieder gemeinsam spielen zu können; der andere – der in der Gleichnisgeschichte – wurde zornig und wollte nicht mitfeiern, heißt es, und macht seinem Vater stattdessen Vorhaltungen über dessen vermeintliche Ungerechtigkeit: Du hast mir nie einen Bock gegeben. Schön ist das nicht, so zu reagieren, aber verstehen kann man ihn ja in seiner Kränkung und gefühlten Zurückweisung. Nicht jeder erhält sich die Weisheit der Freude einer 4jährigen.

Übertreibt es hier vielleicht doch einer, also Gott – der ja gemeint ist – mit seiner Freude über seinen Fund – und untertreibt er, hintertreibt er damit nicht seine Gerechtigkeit? Übertreibt es Gott hier nicht mit seiner Gnade zulasten der Gerechtigkeit. Ist Gott mit seiner Gnade im Unrecht?

Merkwürde Frage! Ungerecht kann Gott hier doch nur derjenige finden, der seine eigene Gerechtigkeitserwartungen über die Möglichkeiten Gottes stellt und dessen Fähigkeiten der Gnade unterschätzt. Gottes Gnade aber ist größer als unsere Gerechtigkeitsvorstellung – und manchmal übertrifft sich Gott sogar selbst. Auch das liegt ja in unseren Geschichten des verlorenen Wiedergefundenen, dieses Moment der Ungewissheit und der Überraschung; und sei es ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff, der jedem nicht nur das als das seine zukommen lässt, was er verdient, sondern was er braucht: Gott ist mit seiner Gnade im Recht!

Mit diesem Fund über die unerschöpfliche Gnade Gottes ist unser Gleichnis aber noch keineswegs ausgeschöpft. Wie mit allen seinen Geschichten lädt uns Jesus und laden uns seine Biografen, die Evangelisten, ein, sich selbst in den verschiedenen Rollen und Figuren auszuprobieren und wiederzufinden; und immer wieder wird es da zu überraschenden Perspektivwechseln kommen mit Aha-Erlebnissen unterschiedlicher Intensität:

Das bin ja ich, der Sucher; nein, ich, der Gefundene; nein, ich, der ich immer da war; nein, ich über den größere oder ich über den die kleinere, oder ich über den keine Freude herrscht bei Gott. Wie in einem Vexierspiegel dreht und verändert sich der Sinn, der sich gerade für mich und gerade jetzt erschließt:

Was wäre, wenn gar nicht nur das Verlorene verloren und von Gott zu finden wäre? Was wäre, wenn die durch Jesus Angesprochenen – also wir – die Verlorenen wären, die von Gott gesucht würden und darauf hoffen dürfen, gefunden zu werden? Was wäre, wenn Gott gerade durch solche Geschichten uns suchen und zu finden versuchen würde? Was wäre, wenn wir dann – endlich, endlich – unsere Verlorenheit einsehen und zu Gott zurückkehren würden? Was wäre wenn wir uns ganz dem Glück des Gefundenen hingeben könnten? Also das wäre eine richtig gute Nachricht für uns Verlorene – und große Freude im Himmel! Amen.