Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7. November 2021

Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk
und all ihre Sünde bedeckt hast;
der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen
und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
Hilf uns, Gott, unser Heiland,
und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Willst du denn ewiglich über uns zürnen
und deinen Zorn walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Herr, zeige uns deine Gnade
und gib uns dein Heil!

Könnte ich doch hören,
was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.

Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
und seinen Schritten folge. (Psalm 85)

Am Tag nach dem Mauerfall – am 10. November 1989 – hatten wir neben ungläubigem Staunen und großer Freude über den Lauf der Geschichte – ausgerechnet am 9. November – auch noch erlebt und gelernt, dass uns als Land und als Volk beides, Lied und Gesang, fehlten, um diesem Staunen und dieser Freude Ausdruck zu geben. Bundeskanzler Kohl und Altkanzler Brandt – Gott hab sie selig! – und zahlreiche weitere Politiker hatten am Ende einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor, die den überaus erfreulichen historischen Moment würdigen sollte, die Nationalhymne angestimmt, sie auch tapfer aber ganz und gar kläglich zu Ende gebracht unter dem ohrenbetäubenden Gejohle und Gepfeife ihrer Zuhörer, während wir Zuschauer am Fernsehen doch eher peinlich berührt waren – und wären das vielleicht auch gewesen – also peinlich berührt, wenn es besser geklungen und besser geklappt hätte.

Denn jedes Schulkind – und die Älteren sowieso – kannte ja die Bilder von den Umzügen nur wenige Jahrzehnte zuvor, als am selben Ort dasselbe Lied gesungen, bzw. deutlich kraftvoller gegrölt wurde und in deren Tradition jeder Sänger dieses Liedes unweigerlich steht – wie auch in der Tradition von Missetat und Sünde, um deren Vergebung wir wie der Beter unseres Psalms bitten können, die Nachfahren unserer Opfer zuerst, aber auch Gott: der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk/ und all ihre Sünde bedeckt hast.

In diesem Zusammenhang wirkte es unschicklich – bei aller berechtigter Freude – an diesem Ort mit diesem Lied dieser Freude Ausdruck geben zu wollen. Das Lied kann nichts dafür, dass es missbraucht wurde, aber wir können seinen Missbrauch nicht ignorieren.

Dabei wäre es doch schön, ein Lied zu haben und gemeinsam singen zu können, wenn uns etwas als Volk gemeinsam bewegt, sei es nun gemeinsame Freude wie beim Mauerfall oder etwa auch gemeinsame Sorge wie in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie letztes Jahr, als wir uns noch nicht so heillos zerstritten hatten – in Torheit geraten – wie jetzt. Ein Lied, wie unser Psalm 85 heute, das Volksklagelied, das ein Volk in seiner Klage sammelt, seiner Sorge Ausdruck verleiht und dann in der Hoffnung von der Überwindung der Krise auch ein Versprechen, ein Verpflichtung anklingen lässt, zukünftig anders und besser miteinander umzugehen: dass Güte und Treue einander begegnen,/ Gerechtigkeit und Friede sich küssen; und dabei sogar „blühende Landschaften“ herbeisehnt, und unser Land seine Frucht gebe.

Aber auch ohne ein solches Lied, geht es darum in einem Gemeinwesen, sich über die Zeitläufe zu verständigen, die Schuld der Vergangenheit zu benennen, um Vergebung zu bitten und dann auch Vorstellungen für die Zukunft zu entwickeln. Es beschädigt unsere Bemühungen in der Gegenwart und unsere Chancen für die Zukunft, wenn wir uns unserer Missetaten in der Vergangenheit nicht oder nur als Last oder nur als lästige Pflichtübung erinnern. Nicht Vergessen, sondern Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung, heißt es in vielen Ansprachen in diesen Novembertagen, sehr zu Recht und auf vielfältige Weise zu Recht: Für unseren Psalmbeter heißt das, dass er sich an Gott mit der Bitte um Erinnerung wendet, indem er sich selbst erinnert; erst das Aussprechen der eigenen Schuld ermöglicht überhaupt ihre Vergebung; erst Erinnerung schafft die Bedingung der Möglichkeit zur Erlösung: Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande/ und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;/ der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk/ und all ihre Sünde bedeckt hast/ der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen/ und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:/ Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Erinnerung ist eine Frage der Ehre; mit dem Begriff der Ehre überschreibt der Psalmbeter seine Zukunftsvision, was in unseren Ohren einigermaßen unvertraut klingen mag, wobei im hebräischen Original eigentlich Gottes Herrlichkeit, sein majestätischer Lichtglanz und insofern seine heilbringende Gegenwart gemeint ist, die Leben schafft und Lebenserneuerung ermöglicht: Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,/ dass in unserm Lande Ehre wohne . In Luthers Übersetzung klingt aber für mich auch die – ursprünglich gar nicht gemeinte – Ehre eines Volkes an, die durch Sünde, Missetat und Torheit verlorene Ehre; und die durch Erinnerung ermöglichte und durch Gott wiederhergestellte Ehre. Allerdings ist der Ehrbegriff nicht nur unvertraut sondern auch heikel; im Namen der Ehre sind die Massenmörder im schwarzen Gewand ihrem grausamen Geschäft nachgegangen unter dem Wahlspruch: Meine Ehre ist meine Treue; und noch heute werden sogenannte Ehrenmorde begangen – aus Rache für eine Kränkung der eigenen archaischen Lebensvorstellungen. Ohne den Bezug auf die Herrlichkeit Gottes, die auch uns bescheint und darin glänzen lässt, scheint mir der Ehrbegriff religiös untauglich zu sein.

Wie gesagt: im hebräischen Original ist ohnehin eigentlich Gottes Herrlichkeit, sein majestätischer Lichtglanz und insofern seine heilbringende Gegenwart gemeint, die Leben schafft und Lebenserneuerung ermöglicht. Der Psalmbeter versammelt die in seiner Tradition wichtigsten Sozialbegriffe: Güte, Treue, Gerechtigkeit, Frieden – religiöse Buzzwords, um das heilvolle Wirken Gottes zu beschreiben, dass er sich wünscht, dass er erbittet und das er von niemand anders erwarten kann als von Gott alleine: Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,/ dass in unserm Lande – Gottes! – Ehre wohne;/ dass Güte und Treue einander begegnen,/ Gerechtigkeit und Friede sich küssen;/ dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;/ dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;/ dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.