Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. (Johannesevangelium 3, 14-21)
Im vergangenen Sommer hat sich für einige Zeit immer mal wieder eine ziemlich große Schlange hier auf dem Kirchengebiet unserer Thomaskirche sehen lassen, da hinten an der Treppe zur Humperdinckstraße, auch auf dem Vorplatz der Kirche. Und einmal sind zwei unserer jugendlichen Fußballspieler, die die alle paar Tage ihren Ball auf das Kirchendach ballern, ebenfalls unter einiger Aufregung der Schlange begegnet, haben sie sogar angefasst, sie fotografiert und gefilmt, wie ich auch schon ein paar Tage zuvor.
Sie – also die Schlange – wird die grobe Behandlung mit einem gehörigen Schrecken überstanden haben, ich ja auch. Zunächst hatte ich gedacht, dass es eine Ringelnatter gewesen sein muss, aber wegen ihrer beträchtlichen Länge von vielleicht zwei Metern und ihrer eher dunkleren Hautfärbung war es vielleicht doch eine Äskulapnatter, die ja ebenfalls als heimische Schlange hier in Wiesbaden und im Rheingau lebt; Schlangenbad verdankt ihr bekanntlich seinen Namen.
Diese Schlange, die Äskulapnatter, trägt ihren Bezug zu Gift und Gegengift im Namen als Symbol des griechischen Gottes der Heilkunst, obwohl sie doch selbst ganz ungiftig ist. Noch heute dient der von der Schlange umwickelte Äskulapstab als Symbol für Heilkunst und Heilmittel. Dieser Bezug von Schlangen zur Religion ist weit verbreitet und kommt eben auch in der Bibel vor: von der Schlange im Paradies bei Adam und Eva bis zur Schlangenplage in der Wüste bei Mose und den Israeliten.
Auf die bezieht sich Jesus hier in unserem Text: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Mose begegnet der gefährlichen Schlangenplage mit einer bronzenen, „ehernen“ Schlangenskulptur, hält sie auf Gottes Geheiß den Schlangen entgegen, worauf diese sich verziehen und die Israeliten verschonen. Das Schlangenbild vermag das giftige Ungeziefer zu bannen.
So will Jesus hier den Menschensohn verstanden wissen, der hochgehalten werden wird gegen die Schlangenbrut und Schlangenpest, die diese Welt verseucht. Der erhöhte Menschensohn, als Jesus Christus selbst am Kreuz, christlicher Äskulapstab sozusagen, wie wir Leser des Johannesevangeliums Zug um Zug erfahren werden, ist das Gegengift gegen das Gift dieser Welt, Heilmittel gegen alles Unheil. In seinem Bannkreis verzieht sich das Gesindel. In seinem Bannkreis sind wir geschützt. Das Symbol des Glaubens als Medizin gegen das Böse.
Noch der unfrommste Gruselfilm bedient sich dieser Vorstellung, wenn nämlich die durch teuflische Mächte Angegriffenen den Angreifern, in welcher Gestalt auch immer sie erscheinen, das Kreuz, das Kruzifix als Zauberstab entgegenhalten – wenn gerade der Knoblauch ausgegangen ist – und die Bösen auf diese Weise vertreiben, um zu überleben: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Nach solcherart natur-, religions- und volkskundlichen Klärungen bleibt nur noch die Frage, ob wir das Geschehen auch unserem Glauben plausibel machen können. Der Jesus des Johannesevangeliums erläutert es jedenfalls mit einem seiner berühmtesten Verse: Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Vorausgesetzt wird folglich, dass wir eigentlich natürlicherweise „verloren gehen“ und, wenn wir das verhindern wollen, aus den Verhältnissen der Welt gerettet werden müssen; im Bild unseres Textabschnitts gesprochen: dass wir immer schon in der Gegenwart und in der Bedrohung von Schlangen leben – nicht den harmlosen Nattern, denen wir im vergangenen Jahr auf dem Kirchengelände begegnen konnten, aufregend genug – sondern echtem, gefährlichem Otterngezücht, dass uns ans Leben will; Raubtieren, die uns nach dem Leben trachten; und die nur mit göttlichem Beistand gebannt werden können.
Vorausgesetzt wird also die Feindlichkeit der Welt, ihre Finsternis und die Bösartigkeit von uns Menschen, die wir in der Finsternis leben; oft genug und – wie der Text meint – sogar meistens oder unvermeidlich, ohne dass uns das bewusst würde; nämlich so, dass wir die Finsternis der Welt und die Bösartigkeit der Menschen für ihre und unsere Natur halten, dass es so sei, schon immer so sei und sein werde und so sein müsse. Die Welt ist halt so. Dieses harte Urteil, für das ja schnell Hinweise und Beispiele gefunden werden können, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf und die Welt sein Kampfplatz sei, kann erst in seiner ganzen Deutlichkeit, seiner Schwere und seiner Dringlichkeit durch das hereinbrechende Licht Gottes gesehen und erkannt werden. Erst die Erlösung daraus zeigt das ganze Elend unserer Existenz.
Vorausgesetzt von der Rede vom Licht der Erlösung wird eine rabenschwarz-finstere Weltsicht, einer Sicht der Welt als Schlangengrube, mit uns selbst als Opfern und Tätern zugleich: Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen – also wir! Menschen – liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. So lebensfeindlich diese Finsternis auch erlebt und erlitten wird, sind wir Menschen doch zunächst gegenseitig Komplizen des Bösen, die dessen Aufdeckung scheuen: Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.
Wie gesagt: Hinweise und Belege für diese Sicht der Dinge sind schnell gefunden, unvermeidlich, unausweichlich. Die Kriege und Krisen unserer Zeiten zeigen nichts anderes als diese rabenschwarz-finstere Welt; und ein Blick in die Abgründe der Finsternis würde schnell die Verstrickungen und Verflechtungen noch der besten Gesellschaften und der moralischsten Regierungen, ihre Verstrickungen und Verflechtungen mit dem Bösen und den Bösen aufdecken. Dass die Bösen böse sind versteht sich von selbst; aber dass selbst die Guten dem Bösen dienen, erleben wir mit ungläubigem, verzweifeltem Staunen: Entspannung zwischen den Mächten birgt – scheinbar naturgesetzlich – den Keim neuer Spannungen. Selbsterklärte Friedenspolitik kann zu noch mehr Krieg führen und sogar die hoffentlich ehrliche Verpflichtung vergangenes Unrecht gut zu machen, kann Neues Unrecht hervorbringen. Das alles erleben wir ja gerade und es verbietet uns also, den Jesus des Johannes hier für einen Schwarzmaler, für einen Anhänger schwarzer Prophetie zu halten, der uns bloß Angst machen will. Will er ja gerade nicht! Und wir, die wir das weitersagen eben auch nicht.
In diese Welt der Finsternis, der Bösartigkeit, der Sünde und des Leids spricht Jesus sein Wort der Erlösung. Es beleuchtet in einem ersten Schrecken das ganze Ausmaß der Finsternis, in der wir leben. Es macht die Erlösung groß, indem es die Größe des Bösen zeigt. Aber selbst das führt zu keinen Abschlägen an Gottes Werk, das keiner großen Begründung bedarf, schon gar keinen, die in uns liegen würden. Unwiderstehlich ist seine Liebe zu uns, unbedingt seine Gnade, übermächtig sein Heil und sein Mittler. Gott will es einfach. Ohne Warum, ohne Preis – höchstem dem, dass wir das Unwahrscheinliche seiner Liebe für wahr halten: Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.