Wann hatte der Mann eigentlich Zeit zu schlafen? Wenn man sich Johann Sebastian Bachs Wochenpensum als Leipziger Thomaskantor einmal vor Augen führt, kann man nur staunen. Ab 5 Uhr früh erfüllte er – nicht immer ohne Murren und Anstrengung – seine Pflichten: Gruppen- und Einzelunterricht der Thomaner, Aufsichtsdienste, Hochzeiten, Begräbnisse, Gottesdienste, Orgelgutachten, Proben, Komponieren zu weltlichen und kirchlichen Anlässen, in den ersten Jahren wöchentlich eine Kantate, dazu nebenan die 55 Internatsschüler, die nicht auf Rosen gebettet wurden, und der Alltag in einer ständig wachsenden Familie. Zu den großen Tragödien in Bachs Leben zählt, dass von seinen 20 Kindern nur die Hälfte das Kindesalter überlebten. So überweltlich seine Musik ist, Bach komponierte nicht in einem Elfenbeinturm, sondern als Mensch seiner Zeit, der nur zu genau wusste, was Freude und Trauer, Zweifel und Hoffnung, Geburt und Tod waren.
Das Weihnachtsoratorium scheint Bachs zugleich bekanntestes und verkanntestes Werk zu sein. Wer hört nicht die berühmten ersten Takte mit Pauken und Trompeten, trillernden Flöten und sirrenden Streichern wie eine Art universalen Weihnachtsjingle und meint nicht, gleich das ganze Werk zu kennen, weil ihm viele der Kirchenlieder darin vertraut sind? Und wer hat nicht schon die besondere barocke Sprache („zärtliche Triebe“, „Herzensstube“, „abfahren“, „gerochen“…) als recht altmodisch empfunden? Wer würde sich überhaupt noch die Zeit nehmen, sich nicht nur die ersten drei, sondern alle sechs Zyklusteile mit all den Chören, Chorälen, Rezitativen und Arien aufmerksam anzuhören? Bachs Weihnachtsoratorium ist alles andere als ein einfaches Krippenspiel. Es war auch nicht als reines Konzert gedacht. Der Zyklus wurden vom 25.12.1734 bis 6.1.1735 als eigens für die Liturgie komponierte Musik in den Leipziger Hauptkirchen, der Nicolaikirche und der Thomaskirche, mit einem Teil der Thomaner und Stadtmusikern aufgeführt. Auch wenn Bach, wie es zu der Zeit absolut üblich und gar nicht unrühmlich war, viele Passagen aus früheren Stücken parodiert, d.h. übernommen, überarbeitet und veredelt hat, ist das Oratorium von bemerkenswerter Geschlossenheit und Perfektion, wie ein großer Kirchenbau, in dem jeder einzelne Stein seinen exakten Platz hat. Zahlreiche Bezüge (thematisch, tonartlich, instrumentatorisch, textlich) halten die Teile zusammen.
Es lohnt sich, das Weihnachtsoratorium (neu) zu entdecken. Zum Beispiel die enorme rhythmische Vielfalt und Vitalität der schnelleren Sätze innerlich „nachzutanzen“ oder die vertrackten Synkopen in der Begleitung der Bass-Arie „Großer Herr und starker König“ (I/5) zu „sortieren“. Ist es in der Sinfonia (II/10) nur die Ambivalenz der Dur-Moll-Wechsel, dass aus einer harmlosen Pastorale ein fast schmerzhaftes Sehnen herauszuhören ist? Im Hirtenchor „Lasset uns nun gehen“ (III,26) bemerkt man schmunzelnd, dass die Hirten so aufgeregt sind, dass sie alle auseinanderlaufen. Wo wurde Geborgenheit und Zuversicht je besser in Noten gefasst als in dem schwebenden Duo von Altstimme und Solovioline (III/31: „Schließe, mein Herze“)? Und wie hat nicht die verspielte Echo-Arie im 4. Teil die ehrwürdige Fachwelt mit ihren überzähligen Echos („ja! – ja!“, „nein! – nein!“) verdrossen! Auch das Terzett im 5. Teil scheint geradewegs von einer Opernbühne herabzusteigen. Und im Schlusschoral steckt ein veritables Trompetenkonzert. Bei jedem Hören findet man etwas Neues in diesem Wunderwerk.
Anne Sophie Meine