Predigttext für den 3. Sonntag nach Epiphanias, 24. Januar 2021

Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatte, starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der Herr sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 1und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des Herrn Hand hat mich getroffen. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.

(Das Buch Ruth 1,1-19)

Ausländerbiographien – Fremdlingsgeschichten (Vers 1) so wie die von Ruth – schaffen sich unter den Inländern besondere Aufmerksamkeit; sei es, dass sie von Schwierigkeiten und vom Scheitern erzählen (oft gruselig genüsslich gemein wie die Machwerke eines Sarrazin, der Einwanderer pauschal für gewaltbereit und dumm erklärt), mehr noch, wenn sie vom Erfolg, von gelungener Einwanderung erzählen, wie jetzt gerade aktuell vom türkischen Forscherpaar aus Mainz, die schneller als andere Forscher auf der ganzen Welt einen Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden haben (und doch so dumm nicht sein können). Das Buch Ruth wird ebenfalls als Erfolgsgeschichte erzählt; es erzählt von großen Schwierigkeiten gewiss, aber eben auch von abgewendetem Scheitern, auch von gelungener Integration, so gelungen und so integriert, dass Ruth zur Stammmutter des jüdischen Königs David werden konnte – also des Messias und des Christus (was ja bekanntlich dasselbe ist).

Zuerst aber erreichen nicht die Taten der Ruth sondern ihre Worte unsere Aufmerksamkeit. Und die wenigsten Brautpaare dürften sich dieses großen Erzählrahmens und dieses weltgeschichtlichen Zusammenhangs bewusst sein, wenn sie ihre Trauung und ihre Ehe unter das wunderbare Wort der Ruth stellen, das zu den beliebtesten Trausprüchen gehört: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Den meisten wird das nicht bekannt sein: Auch nicht dass sich hier die Schwiegertochter der Schwiegermutter verspricht, nicht dass sich die junge Witwe der älteren Witwe anvertraut – als Bekenntnis von Frau zu Frau – , nicht dass es zwischen Aus- und Einwanderern gesprochen ist (wobei hier beide beides schon sind oder noch werden!), auch nicht dass hier von einer Wirtschaftsflucht, nein eigentlich einer Hungerflucht erzählt wird, und nicht dass hier die legendäre Stammmutter des König David und damit des Heilands Jesus Christus vor ihrer Reise nach Bethlehem spricht. Das alles dürfte den wenigsten Brautleuten und den allerwenigsten Hochzeitsgesellschaften bewusst sein. Macht aber nichts!

Denn die Wahrheit dieses wunderbaren Wortes scheint ja trotzdem durch oder zeigt sich auch im neuen Zusammenhang, sie wird sichtbar und offenbar (nach griechischer Wahrheitslehre) und muss sich bewähren in der Beziehung (nach dem hebräischen Verständnis von Wahrheit).

Etwas bedauerlicher ist aber schon, dass oft nicht nur der Erzählzusammenhang unbewusst ist, sondern meistens auch die erklärenden nachfolgende Sätze im Trauspruch fehlen: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. Auch diese Sätze passen doch ausgezeichnet zu Ehe und ehelicher Gemeinschaft, in der Lebensgeschichten verschmelzen und Familien zusammenwachsen, Traditionen verbunden und in der auch geistige Heimaten geteilt werden, und zwar unbedingt, ohne Vorbehalt, ohne Netz und doppelten Boden – vor dem Horizont der Ewigkeit „bis der Tod uns scheidet“. Das Versprechen dort hinzugehen, wohin der andere hingeht, benennt die Liebe als gegenseitige Hingabe, nichts für sich selbst zu sein und alles für den anderen hinzugeben – und trifft also ziemlich genau die Idee der Ehe.

Wenn also nicht nur keine Einwände gegen dieses wunderbare Wort als Trauspruch vorzubringen sind, sondern es im Gegenteil nur wärmstens zum ehelichen Gebrauch empfohlen werden kann, macht es doch sein Zusammenhang in der Ruthgeschichte noch um ein Vielfaches reicher und interessanter.

Die Geschichte der Ruth teilt die Urerfahrung des Alten Israel, dass seine Herkunft als Volk weit weit weg ist und die von Gott zugeteilte Heimstatt erst nach langem Weg gefunden werden musste: „Mein Vater war ein umherziehender Aramäer“ (1. Mose 26,5), heißt es in einem kurzen Abriss der Heilsgeschichte im Alten Testament (das sogenannte „Kleine geschichtliche Credo“, so genannt vom großen Bibelwissenschaftler Gerhard von Rad). Die Vorväter – und wenn wir an Ruth denken: die Vorväter und -mütter der Israeliten sind erst nach langen Wanderungen – mit der Auswanderung, dem Exodus aus Ägypten als der markantesten Etappe der Migration – in ihre Heimat gelangt, die immer neue Heimat war.

Mit diesem Bewusstsein hat sich in Israel auch zum ersten Mal eine Vorstellung von Geschichte herausgebildet, dass eben nicht immer alles so war, wie es jetzt ist, und nicht alles so bleiben wird. Die Welt ist veränderlich, sie verändert sich – und zwar in eine von Gott gezeigte Richtung. Während in der altorientalischen Umwelt ein zyklisches Weltbild herrschte, in dem das Immergleiche am selben Ort ewig wiederkehrt, entwickelt das Alte Israel insbesondere durch seine Propheten Konzepte der Geschichte, der Veränderung und des Fortschritts. Das hat der christliche Glauben übernommen und weitergeführt, und noch die religionslosen Vorstellungen von Entwicklung und Fortschritt unserer Zeit sind geprägt von der bahnbrechenden Erkenntnis Israels, dass nicht alles bleibt wie es ist sondern einem Ziel entgegengeführt wird – nicht immer geradlinig und vorhersagbar, durchaus „aufhaltsam“ und gelegentlich auf Um- und Irrwegen, aber letztlich doch zielgerichtet.

Das ist das eigentliche Thema der Ruthgeschichte, dass Gott uns auf verborgenen Pfaden durchs Leben führt – und uns dabei zu Wanderern, zu Pilgern, zu Nomaden und Migranten macht – alle von uns in unterschiedlichem Maß und in unterschiedlicher Weise, aber irgendwie dann schon, und sei es dass wir als einer, der nur ein paar Hundert Meter von seinem Geburtsort, der Augenheilanstalt nämlich in der Kapellenstraße, heute lebt, dann eben Anteil hat an der Wandergeschichte der Eltern, die von ziemlich weither kamen – flüchtend, vertrieben die eine, der Arbeit folgend der andere – oder seiner Frau von sehr weither, die auf der anderen Seite des Globus zur Welt und von dort hierher kam. Unsere Geschichten und die Geschichte der Menschen überhaupt lassen sich nur als Wander-, als Migrationsgeschichten schreiben. Und wer das leugnet, leugnet einen Teil seiner selbst.

Ruth jedenfalls ist Migrantin; zuerst ja nicht, wenn sie vom wirtschaftsflüchtigen, nein hungerflüchtigen Auswanderer bei ihr zuhause geehelicht wird und ihm eine neue Heimat gibt; aber dann sehr wohl Migrantin, wenn sie als Einwanderin mit ihrer Schwiegermutter – auch das kann also ein gutes Verhältnis sein – in das Land ihres verstorbenen Ehemanns zieht und dort eine neue Heimat findet; geborgen vom Vertrauen, dass Gott sie führt; geborgen auch vom Vertrauen zu ihrer Familie; geborgen vom Vertrauen so sehr, dass sie eine neue, eigene Familie in ihrer neuen Heimat gründen wird – auch einen neuen Mann sich sucht und findet, dem sie das dann vielleicht – wer weiß – als Eheversprechen gesagt hat, was viele von uns unserem Gemahl versprochen haben : Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Predigttext für den 2. Sonntag nach Epiphanias, 17. Januar 2021

Gnade sei mit euch und Frieden von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Johannes im 2. Kapitel:
Und am dritten Tage war eine Hochzeit in Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war da.
Jesus aber und seine Jünger waren auch zur Hochzeit geladen.
Und als der Wein ausging, spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr.
Jesus spricht zu ihr: Was geht’s dich an, Frau, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.
Seine Mutter spricht zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut.
Es standen aber dort sechs steinerne Wasserkrüge für die Reinigung nach jüdischer Sitte, und in jeden gingen zwei oder drei Maße.
Jesus spricht zu ihnen: Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan.
Und er spricht zu ihnen: Schöpft nun und bringt’s dem Speisemeister! Und sie brachten’s ihm.
Als aber der Speisemeister den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und nicht wußte, woher er kam – die Diener aber wußten’s, die das Wasser geschöpft hatten -, ruft der Speisemeister den Bräutigam und spricht zu ihm: Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie betrunken werden, den geringeren; du aber hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten.
Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.
Amen.

Sieben Fässer Wein können uns nicht gefährlich sein – Glaubt keinem Schlagersänger, liebe Schwestern und Brüder, schon gar nicht, wenn er davon singt, was wir uns wünschen!

Sieben Fässer, sieben Flaschen, sieben Gläser – manchmal können sogar sieben Schlückchen, sieben winzige Schlückchen, was sage ich: ein wönziger Schlöck gefährlich sein; gerade jetzt in der Pandemie, wenn wir Geselligkeit vermissen, Feiern und Feste absagen müssen – und unseren Schoppen alleine trinken.

Und dann so ein Predigttext; nach dem vernünftigen, nüchternen Gottesdienst in der letzten Woche – nun so viel Unvernunft aus dem Munde Jesu.

Wein in Mengen, Wein wie Wasser, Wein in Wasserkrügen, Öffentliches Betrinken!

Man muß sich, schon wundern, über Jesus und seinen Evangelisten Johannes, über ihren unbefangenen, ja leichtsinnigen Umgang mit Wein als alkoholischem Getränk.

Als geradezu jugendgefährdend kommt heute unser Text daher, wenn er ganz selbstverständlich vom Wein als geradezu notwendigem Begleiter eines Festes spricht, vom richtig viel Trinken, und vom betrunken werden.

Wie können wir unsere Jugendlichen und uns selbst davon überzeugen, dass das Vorglühen, das Komasaufen gefährlich und verwerflich sind – und eben nicht ein Problem der Jugend sondern eins der Gesellschaft, in der die Droge Alkohol allgegenwärtig, überall erhältlich und ihr Konsum für selbstverständlich genommen wird. Nicht der, der den Alkohol konsumiert, sondern der, der darauf verzichtet, muss sich auf Feiern rechtfertigen und wird als Spaßverderber angesehen, als irgendwie merkwürdig.

Manchmal liegt im Wein keine Wahrheit – oder nur die bittere Wahrheit über unsere Anfälligkeit gegenüber Süchten. Wir kriegen das nicht hin, einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Alkohol, vor allem nicht gegenüber unseren Kindern. Aber wir kriegen das ja selbst oft nicht hin: Einen unschädlichen, verantwortungsvollen und doch genussvollen Umgang mit dem Genussmittel Alkohol, damit es nicht zum Suchtmittel werde. Wir alle schaffen das nicht immer für uns selbst und einige schaffen es gar nicht. Das ist die bittere Wahrheit des Weines.

Aber: Darum geht es in unserem Predigttext nicht.

Die andere, die süße Wahrheit besteht darin, dass der Wein seit buchstäblich Tausenden von Jahren zu menschlicher Kultur gehört; eben nicht zur Verrohung sondern zur Verfeinerung unserer Sitten. Wein ist ein Kulturgut erster Ordnung. Ein Stück mittelmeerischer Lebensart, das sogar in unseren rauen Klimaten gedeiht. Ein Geschenk der feinen Römer an uns barbarische Germanen; dolce vita vom Mittelmeer an rauen, winters schneeverwehten Mittelgebirgshängen; Toskana im Rheingau – nur wer die Sehnsucht kennt, was wir leiden!

Ein Getränk, das unserer Geselligkeit Glanz und Funkeln verleiht, unser Abendessen in eine Speise verwandelt und unsere Feste zu Erlebnissen macht.

Dabei lohnt sich bei allen Gelegenheiten die Frage, ob wir denn auch noch ohne Alkoholbegleitung uns mit Freunden treffen, ein gutes Essen genießen und fröhlich feiern können. Denn nur wer ohne Alkohol Spaß haben kann, kann das auch mit.

Nur der Verzicht gestattet auch Genuss.

Vielleicht fällt auch deshalb die Antwort Jesu gegenüber der Nachfrage seiner Mutter, dass kein Wein mehr sei, so barsch aus: Na und, der Wein ist alle, aber wir können eigentlich auch ohne fröhlich weiterfeiern.

Offensichtlich aber hat Jesus nach der ersten, zurückweisenden Reaktion doch noch der Bitte entsprochen und den Mangel beseitigt. Vielleicht taten ihm die Brautleute einfach leid, denen ihr großes Fest ruiniert zu werden drohte. Jedenfalls verwandelt Jesus in unserer Geschichte ganz diskret Wasser in Wein. Hauptsache: Das Fest ist gerettet.

Wie immer bei den biblischen Wundergeschichten ist die Neugier am vordergründigen physikalisch-chemischen Mirakel, an der scheinbaren Manipulation der Natur wenig ergiebig. Das Wunder lebt davon, dass es den Naturzusammenhang unterbricht und damit unsere Vorstellungen – wie auch die der Leute damals – auf den Kopf stellt. Das geht ja gar nicht sagen wir – und das werden die Leute damals in der Mehrheit auch so gedacht haben.

Aber die Bibel verwendet Wundertätigkeit nicht – oder nicht in erster Linie – um die Macht und Autorität des Wundertäters zu verherrlichen, sondern vielmehr um einen praktischen Mangel auszugleichen – wie bei Speisungs- und wie bei unserem Weinwunder – oder um einen tatsächlichen Defekt wiederherzustellen – wie bei den Krankenheilungen.

Im Wunder unterbricht Gott die Natur um sie wiederherzustellen. Im Wunder zeigt sich Gott als Schöpfer, in dem er zumindest teilweise und zeitweise die gute, anfängliche Schöpfungsordnung wiederherstellt. Das hört sich paradox an, weil Gott ja durch seinen Eingriff die Ordnung der Natur aufzuheben scheint.

Das ist aber nur scheinbar paradox.

Denn wichtig ist hier die Unterscheidung von Natur und Schöpfung; dass wir in der Natur eben nicht unmittelbar, nicht uneingeschränkt und nicht ohne Mängel Gottes gute Schöpfung erleben und erkennen. Gott greift im Wunder – gleichnishaft und beispielhaft – in die Natur ein um ein Stück Schöpfung wiederherzustellen.

Und wichtig ist vor allem die Beobachtung, dass es eben keine Wunder um ihrer selbst willen gibt, keine ausschließlichen Machtdemonstrationen, keine Wunder als göttliche Fingerübung oder göttliches Spiel – sondern Wunder immer und ausschließlich als Hilfe und Rettung.

Gerade für den Evangelisten Johannes gilt das, der seine Wunder Jesu konsequent Zeichen nennt und damit ihren Charakter als Gleichnis betont. In diesen Zeichen wird das Reich Gottes sichtbar – nur für einen kurzen Moment, nur an einem kleinen Beispiel, nur als Gleichnis; aber doch wirklich und doch so, dass man sich auf das Reich Gottes freuen kann. Es wird eine Zeit kommen und Gott wird sie herbeiführen, in der die ursprüngliche Gottesgegenwart wiederhergestellt ist, in der kein Mangel – aber auch keine Verschwendung herrscht -, in der Menschen und Natur miteinander versöhnt sind.

Das ist der Sinn der Wundergeschichten und ganz besonders der Zeichen des Johannesevangeliums, dass in ihnen das Reich Gottes als Gleichnis sichtbar wird.

Wie aber und auf welche Weise wird das Reich Gottes im Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana sichtbar?

Haben wir uns das Jenseits als immerwährende Hochzeitsfeier zu denken; als Land in dem nicht nur Milch und Honig sondern auch Wein und Bier fließen. Natürlich nicht.

Aber tatsächlich kennt die Bibel an vielen Stellen Festmahl und Feier, gerade auch eine Hochzeitsfeier als Bild für Gottes Reich und Ewigkeit. Nicht zuletzt ist uns ja auch die Feier des Heiligen Abendmahl ein Gleichnis der endgültigen Gemeinschaft von Gott und Mensch. Im Bild der Hochzeitsfeier verdichtet sich unsere Hoffnung nach Gemeinschaft, nach Liebe und Weitergabe des Lebens.

Dabei sind Fest und Feier in dieser Welt Ausnahmezeiten, sind Unterbrechungen des Alltags, sind Hoch-Zeiten des Gefühls und der Geselligkeit, sind damit auch Kraftquellen für die normaleren Phasen – auch die Krisenzeiten – unseres Lebens. Gerade in den Festen, mit denen wir runde Geburtstage oder Familienereignisse feiern, bündelt sich unser Leben und unsere Lebensfreude.

Außerdem: Einzelne besondere Festzeiten bewahren uns davor, uns ganz in unserer Partyseligkeit zu verlieren; unsere Sehnsüchte und Süchte in unser ganzes Leben zu tragen.

Ich bin froh über unsere Wundergeschichte; über diesen Jesus, der bei einer Hochzeitsfeier erscheint – wir haben ja Epiphanias, sein Erscheinungsfest – und mit uns also nicht nur die Leiden sondern auch die Freuden teilt.

Ich bin froh, dass wir uns unsere Feiern nicht als gottlose Veranstaltungen denken müssen. Dass wir sicher sein können, dass Gott auch da ist, wenn wir uns freuen und ausgelassen und glücklich sind – und wieder sein werden.

Und ich bin dem Johannes dankbar, dass er mich darüber nachdenken lässt, was für mich gut und was des Guten zuviel ist. Dass er keine Verbote aufstellt, keine Trinkregeln verfasst, die doch nur zum Übertreten verführen; sondern dass er Gottes großzügiges Angebot schöpferischer Fülle darstellt und mich damit anregt und auffordert, mein eigens Maß zu finden.

Gott jedenfalls meint es gut mit mir – ich hoffentlich auch!

Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Predigttext für den 1. Sonntag nach Epiphanias, 10. Januar 2021

Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern. (Brief des Paulus an die Römer 12, 1-8)

„Wir werden uns am Ende eine Menge verzeihen müssen“ – hat der Gesundheitsminister am 24. April des letzten, sehr besonderen Jahres gesagt und damit plötzlich und unerwartet einen Ton getroffen, der lange nachhallt. Im zunehmend kakophonen Getöse, in dem beinahe jede Maßnahme gegen die Seuche in Ultraschallgeschwindigkeit zum Versagen, zum Fiasko, zum Debakel, zum Chaos und zum Irrsinn – was für ein Irrsinn! – geschrien und geschrieben wird, wenn sie nicht sofort und unmittelbar erfolgreich ist oder auch nur nicht von allen verstanden wird, klingt in der vielleicht auch nur beiläufig gemeinten Bemerkung eine tiefe Lebensweisheit und zentrale Wahrheit des christlichen Glaubens durch: Wir werden uns – und nicht nur am Ende – eine Menge verzeihen müssen: und wir können das auch, weil wir immer schon – wenn wir es denn wahrnehmen und wahrhaben – in einem Zusammenhang des Verzeihens und der Barmherzigkeit aufgehoben und umfangen sind: mehr noch: in ihm empfangen werden; nicht umsonst heißt einer der hebräischen Begriffe aus dem Alten Testament für Barmherzigkeit auch Mutterleib. Der barmherzige Gott ist wie die Mutter, die einem das Leben gab – oder wie der Vater, der uns verlorene Töchter und Söhne annimmt, immer wieder annimmt und uns in Barmherzigkeit verzeiht. Deshalb ist uns gesagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36)

Und deshalb rahmt der Apostel Paulus seine Gedanken zum Leben der Gemeinde mit dem Begriff der Barmherzigkeit, der immer das Verzeihen als den Verzicht auf Durchsetzung eigenen Rechts und eigener Möglichkeiten – und sei es das vermeintliche Recht sich auch mal gehörig aufzuregen – meint. Barmherzigkeit kann sogar sein, einfach mal die Klappe zu halten; meistens ist sie mehr, viel mehr: Sie räumt mir und allen anderen trotz meiner Unzulänglichkeiten und Verfehlungen und die der anderen einen Platz zu Leben ein. Alles Leben und eben auch das Gemeindeleben verdankt sich aus christlicher Sicht und aus christlichem Glauben der Gnade und der Barmherzigkeit unseres Gottes. „Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ Ohne Gnade ist nicht nur alles nichts, sondern ist überhaupt nichts.

Das ist aber nicht die Logik dieser Weltzeit, dieses Äons oder Säkulums – nicht Wesen und Form der säkularen Welt in der wir leben, weshalb das Ministerwort so herausklingt im Lärm und so funkelt im Dunkeln. In der säkularen – oder weitgehend säkularisierten – Welt gilt eigentlich das Recht des Stärkeren, der Kampf ums Dasein, das survival of the fittest, Konkurrenz und Kampf und Freiheit als Freiheit mich gegen die anderen, auch gegen die Natur und letztlich sogar gegen mich selbst durchzusetzen, kämpfend durchzusetzen.

Im Gegensatz dazu überschreibt Paulus seine Gedanken zum Leben der Gemeinde als vernünftigen, wörtlich „logischen“ Gottesdienst – also als der Logik der Barmherzigkeit folgenden Gottesdienst – und fordert seine Schwestern und Brüder, also uns, dazu auf, nicht der säkularen Logik dieser Welt zu folgen, sich nicht ihrem Schema anzupassen und uns ihr gleichzuschalten, sondern sich selbst zu ändern, zu verwandeln, eigentlich sich einer unser ganzes Selbst und Wesen verwandelnden Metamorphose (wie die Raupen zum Schmetterling) zu unterziehen, um erneuert und wie wiedergeboren dem Willen Gottes, also dem schöpferischen Gnadenwillen Gottes zu folgen und das ganze Leben zu widmen: Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Dazu hat uns Gott Gaben gegeben, Geistesgaben, nein: Gnadengaben. Paulus ersetzt ausdrücklich den damals gebräuchlicheren Begriff Geistesgaben („pneumatika“) durch seine eigene Wortschöpfung „Charismen“, um das gnadenhafte unserer Fähigkeiten und Begabungen herauszustreichen und sie nicht etwa einem überlegenen in uns wohnenden Geist zuzuschreiben. Insofern verwenden wir heutzutage den Begriff Charisma zumindest missverständlich, wenn wir ihn der besonderen, strahlenden, überlegenen Wirkung einer brillanten und dominanten Persönlichkeit anheften – die etwa alle Blicke auf sich zieht, wenn sie den Raum betritt und deren Worte uns unmittelbar treffen, erschüttern und bewegen. Solchen religiösen Geniekult hatte Paulus in Korinth kennen und ablehnen gelernt, weil er der säkularen Leistungsideologie folgt und Gemeinschaft zerstört: Schneller, höher, weiter gehört auf den Sportplatz aber nicht in die Kirche. Ihm ist wichtig, alle Gaben gleichermaßen – auch die unscheinbaren und scheinbar unbedeutenden – als Gottesgaben zu würdigen und für die Gemeinde fruchtbar zu machen – ohne Hierarchie der Gaben und der Begabten – was ja eine gewisse Relevanz und eine gehörige Brisanz für eine heutige Gemeindeorganisation und damit auch für den zweiten Programmpunkt unseres heutigen Vormittags hat.

Des Paulus Bild dafür ist das eines Körpers mit seinen Organen und Gliedern, das in der Antike weit verbreitet war und das er mit der Vorstellung des verborgenen Christus in, mit und unter den Christen – vor allem aber nicht nur! – beim Abendmahl verbindet. So wie wir alle zu Christus gehören, gehören wir alle zusammen – mit unseren Unterschieden und unterschiedlichen Gaben aber ohne Rangfolge und Hierarchie.

Dass dieses Bild gelinde gesagt zum Missbrauch einlädt, wenn nicht sogar dazu verführt, in dem es bestehende Machtverhältnisse verklärt oder verschleiert, liegt auf der Hand und ist oft bemerkt worden: Was nützt die beschworene Gleichrangigkeit den „Füßen“, wenn sie wie Fußabtreter, und was dem „Gesäß“, wenn es wie der letzte – nein, das sag ich jetzt nicht – behandelt werden. Es kommt darauf an, die behauptete Würde erfahrbar und erlebbar und damit wirklich zu machen, und die zuerst darin besteht, die jeweilige Funktion in ihrem Eigenwert zu würdigen: Was wären wir ohne unsere Füße, die uns gerade jetzt durch den Winterwald tragen können; und was – ja was? – ohne funktionierende Verdauung.

Genau darauf (also nicht auf die Darmtätigkeit sondern auf den jeweiligen Eigenwert jedes Organs im Zusammenhang des Organismus) zielen die treffenden, nur scheinbar redundanten und gerade darin subtilen, bisweilen sogar zartfühlenden Bemerkungen des Apostels: Vor allem geht es ihm darum, dass jeder das mache und so gut wie möglich mache, was ihm durch Gottes Gnade eben gut zu machen gegeben und deshalb seines Amtes ist (da kann man sich auch verdammt täuschen, vor allem auch über sich selbst!): der Tröster soll trösten, der Lehrer lehren, der Prophet Gesellschaftskritik üben und der Helfer Hilfe leisten; orientiert an der Sache selbst und an denen, auf die meine Tätigkeit zielt; nicht als Egotrip und nicht als Showbusiness, also eben nicht nach der Aufmerksamkeitsökonomie der säkularen Welt – sondern orientiert an der Gnade Gottes als Prinzip und Ziel.

Besonders überzeugen mich die drei Wendungen am Ende:

Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn: Nichts ist schlimmer als Almosen und praktische Barmherzigkeit zum Zweck der moralischen Selbstvergrößerung oder auch nur als inquisitorischen Schnüffelei der Wohlhabenden in den kargen Verhältnissen der Armen. Man hilft nur, wenn man nur helfen will.

Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig: – wörtlich steht da „mit Eifer“. Also: Sich nicht lange bitten lassen, selbst die Dinge in die Hand nehmen, Probleme sehen, das Notwendige tun – die gemeinsame Sache als die eigene begreifen. Auch da mag es Übertreibungen geben, wenn der Eifer in Eigenmächtigkeit umschlägt; also: die eigene Sache als gemeinsame Sache begreifen.

Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern; wörtlich „in Fröhlichkeit“ dessen, dem selbst Barmherzigkeit widerfahren ist.

Der Predigttext bricht an dieser Stelle ab, was schade ist, denn Paulus setzt seine Bemerkungen zum Leben der Gemeinde fort – und zwar mit dem paulinischen Großthema der Liebe, die für ihn im wesentlichen auch nichts anderes ist als eine Begabung aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit – und zwar die größte: „die Liebe aber ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13); die Liebe nämlich, die nichts für sich selbst zu sein vermag, „nicht das ihre sucht“; die nicht plattmacht und quetscht, sondern die einem anderen einen Platz einräumt; die verzichten und vieles verzeihen kann.

Predigttext Silvesterabend 2020

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. Amen. (2. Buch Mose 13, 20-22)

„Nur ein oberflächlicher Mensch urteilt nicht nach dem Äußeren“ – Meistens ist es sehr sinnvoll mit Oscar Wilde, dem ersten Eindruck und der äußeren Erscheinung zu folgen: Wenn in der Kirche einer mit einem Talar herumsteht, wird das sehr häufig ein Pfarrer sein – und wenn im mythologischen Weltbild des Alten Orients Rauch- und Wolkensäulen umherwandern, könnte das Gott sein. Das Innere verrät sich im Äußeren, in unseren Bildern zumal; das kann als Faustregel gelten, von der es aber Abweichungen gibt. Es ist damit zu rechnen, dass gerade religiöse Gegenstände und insbesondere Gott selbst sich in vielfältigen auch unerwarteten Verhüllungen und Enthüllungen offenbart, nicht zuletzt unter seinem Gegenteil; wir kommen darauf zurück.

Beim Durchsehen der Bilder des vergangenen Jahres – also weniger bei den offiziellen Präsentationen in Zeitungen oder im Fernsehen, als vielmehr bei den eigenen Bildern, die sich auf dem Handtelefon so übers Jahr ansammeln; oder auch bei den anderen, die man als Weihnachtsfamilienkarten bekommt und die vielfach wahre Kunstwerke sind – also beim Durchsehen dieser privaten, persönlichen Bilder des Jahres 2020 fällt auf, dass das alles beherrschende Thema, die alles bestimmende Wirklichkeit – früher war das ein Gottesprädikat! („Gott als alles bestimmende Wirklichkeit“ bei Rudolf Bultmann) – also nun aber die alles bestimmende Wirklichkeit der Seuche kaum oder gar nicht vorkommt.

Auf diesen Bildern, die ich meine und die wir vermutlich alle im Smartphone mit uns herumtragen, gehen wir durch das Jahr mit lachenden, freundlichen Gesichtern, wir und unsere Lieben, an schönen Orten bei gutem, oder zumindest interessantem Wetter. Nur ganz gelegentlich blitzt eine Maske hervor und wir wissen – noch, aber in ein paar Jahren nicht mehr – aus welcher Phase der Pandemie dieses oder jene Bild stammt, also etwa zeitgleich mit den ikonisch gewordenen Bildern der Militärlaster voller Särge in Bergamo, der Behelfslazarette in New York, der Umarmung der Angehörigen durch eine Plastikfolie im Altenheim; oder der sommerlichen Idiotenpartydemos und der Beinahe-Erstürmung des Bundestages durch selbige; oder – nochmal ganz anders – der leeren Fußballstadien.

Aber in den Sammlungen der meisten von uns kommt die Seuche – merkwürdigerweise, glücklicherweise – nicht vor. Das liegt – denke ich mir – zum einen daran, dass wir trotz allem auch im vergangenen Jahr meistens das gemacht haben, was wir eben immer machen und davon auch unsere Bilder gemacht haben; und in der großen Mehrheit – wie gesagt: glücklicherweise – keinen direkten Kontakt mit den grausamen, tödlichen Seiten der Seuche hatten. Das könnte aber auch zu einem anderen Teil daran liegen, dass wir – unbewusst, bewusst – den Schrecken verdrängen und ihn mit unseren fröhlichen Bildern zudecken, verhüllen wollen: Andere mögen leiden und sterben – aber wir doch nicht! Falls das stimmt – aber vielleicht bin ich hier wieder mal zu grübelnd, zu nörgelnd – wäre das eine nicht ganz so schöne Erkenntnis über uns selbst.

Bei einem zweiten, genaueren Blick durch die Bildersammlungen, finden wir dann vielleicht aber doch die Spuren der Pandemie – die immer selben Spaziergänge im Frühjahr, die spärlich besetzten Lokale, die leeren Strandabschnitte; auch die Leerstellen könnten uns auffallen: die Menschen, die wir nicht trafen, und die Orte, die wir nicht besuchten. Es war so vieles gleich in diesem Jahr – und doch alles anders. Und wenn auch nicht alles sichtbar ist, so doch manches erkennbar unter seinem Gegenteil.

Und wenn man so weitergeht in seinen Gedanken zur Sichtbarkeit der Pandemie in unserem persönlichen Bildergedächtnis, ergibt sich – zumindest wenn uns Fragen der Religion interessieren – die Frage nach der Sichtbarkeit Gottes in diesen Tagen und der Orientierung durch unseren Glauben. Auch wer in dieser Hinsicht keine Feuersäulen oder Wolkensäulen erwartet – das wäre wohl zuviel verlangt in Zeiten säkularer Vernunft – würde sich doch Eindeutigeres über Gott oder noch besser von Gott wünschen. Welche Antworten des Glaubens finden sich in diesen Zeiten? Wo ist Gott in der Pandemie? Wer ist uns – nun sei dennoch danach gefragt – Wolkensäule am Tag und Feuersäule in der Nacht?

Nach einer Schrecksekunde des monatelangen Schweigens hat sich der Glauben in vielfältigen theologischen Stellungnahmen geäußert, ohne je kraftvoll zu einer Stimme zu finden. Die Antworten, die in früheren Zeiten plausibel waren, dass eine solche Krise Strafe oder Prüfung Gottes sein müsse, verfängt nicht mehr, da einem Gott, der die Liebe ist, ein solches strafendes oder prüfendes Handeln schlicht nicht mehr zugetraut wird. Der liebe Gott straft und prüft nicht. Einen anderen aber kennen wir nicht – nicht mehr.

Angesichts von Seuche und Seuchentod kann dann aber auch die Gottesaussage „alles bestimmende Wirklichkeit“ nicht mehr zutreffen, wenn sie es denn je getan hat. Allerdings deckt hier die Krise nur theologische Defizite auf, die es schon längst gab und die schon längst hätten bearbeitet werden müssen: Gott könnte doch nur dann gleichzeitig als „Liebe“ und als „alles bestimmende Wirklichkeit“ ausgesagt werden, wenn ich alles, was überhaupt ist, für gut erklärte, und wenn also gleichzeitig das offensichtlich Nicht-Gute: Krankheit und Leiden, Gewalt und Tod einfach für irrelevant erklärt würden. Das sollte dem christlichen Glauben eigentlich unmöglich sein, wenn es auch die Kommentare zur Pandemie immer wieder implizieren mit Behauptungen, dass doch jeder sterben müsse, und mit Beschwichtigungen, dass Krankheiten zum Leben dazugehörten; wohl wahr! Nur dass das beides vor allem Argumente nicht gegen ihre Bedeutung sondern für mitfühlende Sterbebegleitung und effiziente Krankenversorgung sind – auch Jesus hat Krankheiten nicht erklärt sondern geheilt! Und gut finden und für göttlich gewollt halten – muss man sie schon gleich gar nicht.

Der Mangel an christlichen Deutungen in der pandemischen Öffentlichkeit spiegelt sich in einem Überfluss nicht-christlicher und religionskritischer Kommentare. Die häufen auf die System-Irrelevanz von Kirche und Theologie in der Pandemie und den demoskopischen Niedergang der Institutionen noch den triumphalen Abgesang auf die Religion überhaupt – allerdings – und das muss den Polemiker in einem betrüben – war die Religionskritik auch schon mal besser, nämlich treffender und trittsicherer als heute.

Entweder sie verkauft Ladenhüter vom Grabbeltisch der Historisch-Kritischen Forschung als Sensation, etwa dass sich Religionen entwickeln und verändern und dabei immer auch Elemente ihrer Umwelt aufnehmen, und dass also z.B. in Ermangelung eines Geburtsdatums Jesu der Zeitpunkt des Weihnachtsfestes zur Wintersonnenwende sich dem Festkalender der alten Römer verdankt – was doch höchstens Konfirmanden erstaunen kann, wenn sie es als 13jährige erstmals hören.

Oder die Kritiker verzichten gleich ganz auf Recherche und „meinen“ einfach wild drauflos – nach dem Motto: Eine starke Behauptung ist immer noch besser als ein schwaches Argument, wie z.B. neulich in einer großen Wochenzeitschrift, in der ein Autor das Recht des konfessionellen Religionsunterrichts an Schulen bestreitet, was natürlich möglich ist und interessant sein kann, aber doch nicht so: Ihm war völlig entgangen, dass die kirchlichen Lehrkräfte an staatlichen Schulen selbstverständlich dem Recht des Staates und der Ordnung der Schule unterstehen, dass Lehrpläne für Religion wie für alle anderen Fächer staatlich beschlossen werden und dass genauso wenig wie der Glaube an den Satz des Pythagoras in der Mathematik der Glaube an Bekenntnissätze im Religionsunterricht benotet wird – nur kennen sollte man sie halt und wissen, was man damit anfangen kann. Am betrüblichsten aber war, dass dem Autor gerade das fehlte, was zu den wichtigsten zu erwerbenden Kompetenzen des Religionsunterrichts gehört, nämlich eine eigene Urteilsfähigkeit in Sachen der Religion auszubilden, die insbesondere auch einschließt, sich selbst in Frage zu stellen.

Wenn die Kritik sich so wenig Mühe macht und sich machen zu leisten können scheint, muss es schlecht um die Religion bestellt sein. Dabei könnte die Krise doch eine Stunde der Religion sein, die Situation zu deuten und die Menschen zu trösten. Selten waren – um im Bild unseres Predigttextes und seines Erzählzusammenhangs zu bleiben – die Meeresfluten einer Bedrohung gewaltiger und die hinter uns her stürmenden Feinde gewalttätiger; selten die vor uns liegenden Wüsten der Bewährung und der Geduld vor uns dürrer und ausgedehnter; und sehr selten unser Bedarf an Wegweisung und Erleuchtung größer als gerade jetzt. Wo ist Gott; wo der, über den wir sagen könnten: Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

Auch wenn wir nichts dergleichen erkennen, muss das nicht für Gottes Abwesenheit sprechen, bzw. es könnte Gottes Abwesenheit für uns eher die Verhüllung seiner Anwesenheit sein. Martin Luther hat so etwas gesagt, nämlich dass sich Gott unter dem Kreuz verbirgt, dass sich Gottes Macht unter der Ohnmacht verhüllt und das Luther folgerichtig Kreuzestheologie genannt hat. Größer als eine sichtbar machtvoll „alles bestimmende Wirklichkeit“, die es nicht mehr gibt (und nie gegeben hat), ist die die eigene Ohnmacht aushaltende Macht der Liebe. Nach Luther hat der Glauben nicht nach Machterweisen zu suchen und diese dann Gott zuzuschreiben, nicht sich von Wolken- und Feuersäulen führen und leiten lassen, sondern im Leiden der Menschen Gott zu erkennen, das er teilt, das er erträgt und trägt und so überwindet – und uns durch gemeinsames, gegenseitiges Tragen zu überwinden anstiftet. Mit dem Kreuz als Zeichen der Ohnmacht stellt Gott sich und unsere Ansprüche an Gott in Frage – aber er gibt sich auch so zu erkennen als Gott der Liebe, „der nichts für sich selbst zu sein vermag“ (Eberhard Jüngel).

Also doch der liebe Gott? Ja schon, aber so, dass seine Liebe überraschen kann, herausfordern kann, uns nicht nur bestärkt in dem, was wir schon immer glaubten, sondern unsere Schwäche ertragen lässt. Liebe ist ja nicht schon dann, wenn ich den Tollen toll finde, sondern wenn mich seine Schwächen berühren. Solche Liebe kann uns bei Tag führen und in der Nacht den Weg leuchten – oder nochmal anders:

Jesus Christus spricht, ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis sondern das Licht des Lebens haben. Amen.

Predigttext Weihnachten 2020

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.

Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 

Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt. Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein. (Buch des Propheten Jesaja 10,1-10)

„Es ist ein Ros´ entsprungen/ aus einer Wurzel zart“ – selten hat sich eine saubere Aussprache so gelohnt: An Weihnachten geht es – zumindest metaphorisch – um Rosen und nicht um Pferde; um Sprösslinge und nicht um Rösser. Wenn hier und heute jemand herumspringt, dann sind das kleine Kinder unterm Weihnachtsbaum; oder eigentlich das eine Kind Gottes in der Weihnachtskrippe, und das springt noch nicht – weil es nämlich im wesentlichen liegt oder getragen wird im Arm der Eltern, deren Herz wir uns aber sehr wohl als vor Glück hüpfend und springend vorstellen dürfen.

Wie alle Eltern werden sie dieses unfassbare, unverdiente und unvergleichliche Glück empfunden haben über ihr neugeborenes rosiges leicht verschrumpeltes Kindlein; aber dabei kaum selbst als Eltern im Stall herumgesprungen sein, die eine vor Erschöpfung nicht und der andere aus solidarischer Erschöpfung nicht (oder auch aus der stillen Freude, nicht selbst Gebärer zu sein; wie meine Großmutter – Gott hab sie selig – gesagt haben soll: „Würden die Kerls die Kinder bekommen, wären die Menschen längst ausgestorben.“ Da könnte was dran sein; vgl. auch die einschlägigen Erkenntnisse zum „Männerschnupfen“.)

„Es ist ein Ros´ entsprungen“ – verdankt sich der prophetischen Zeile aus dem prophetischen Text des Jesaja, die und der seit jeher – also zumindest seitdem Christen über Christi Geburt nachgedacht haben, auf Jesus von Nazareth bezogen wurden, wieso ihn die Weihnachtsgeschichte in Bethlehem statt im näherliegenden Nazareth geboren sein lässt: Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Also eigentlich „Reis“ wie Reisig statt „Rose“. Also Ästchen, oder Zweiglein statt Blume; aber da wollen wir nicht zu genau hinschauen, da Genauigkeit bei der Betrachtung von Wundern diese beschädigen könnten. Ob Reis oder Ros – da sprießt etwas hervor, ein Sprössling der Familie David, uralter judäischer Adel von königlich-messianischem Geblüt, ausgewählt von Gott zum guten König über sein Volk.

Der christliche Glauben pfropft hier nichts auf oder ein zur Erschleichung eines Adelstitels, auf den Jesus zweifellos verzichten könnte, sondern um eine theologische Aussage zu veranschaulichen: Der hier gemeinte und geglaubte Christus ist der jüdische-davidische Messias, auf den Gottes Volk wartet und dessen Herrschaft in umfassender Weise ersprießlich sein wird.

Denn viel wichtiger als die Fragen der Phonetik oder der Historik oder meinetwegen der Pomologik ist hier die Theo-logik, was denn das für ein göttlicher Herrscher sei, wenn er kommt, dieser Messias und was sein messianisches Reich wäre, wenn er es aufrichtet. Ein geisterfüllter Herrscher und Messias jedenfalls, voll des Geistes des Herrn, des Geistes der Weisheit und des Verstandes, des Geistes des Rates und der Stärke, des Geistes der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.

Von allen guten Geistern angeblasen, bewegt und begleitet wird er Gottes Idee eines moralischen Universums durchsetzen, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Beides steht noch aus: Gerechtigkeit und Frieden für die ganze Welt, Schalom für Mensch und Tier, genauer sogar für jedes Blümelein und für jeden Spross; Das steht noch aus, steht nach einhelliger Meinung der Bibel noch aus, weshalb man sich über die immer nur wundern kann, die sich darüber wundern, dass und warum trotz eines gerechten und friedenbringenden Gottes noch soviel Ungerechtigkeit und Unfrieden in der Welt sei.

Der „Frieden auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“ steht noch aus, der Weihnachtsfrieden formuliert eine Zukunft, eine Utopie, aber als eine konkrete Utopie – also eine, die unser Denken und Fühlen jetzt schon bewegt, damit sich unsere Welt jetzt schon verändert, damit wir unsere Welt jetzt schon verändern. (Mit dem Begriff der konkreten Utopie bezeichnet Ernst Bloch die Hoffnung als die die Gegenwart verändernde Kraft aus den Bildern der Zukunft: „Es kommt darauf an das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.“ „Sozialutopie arbeitet als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“)

Die konkreten Zukunftsbilder, die der Prophet vor uns ausbreitet, sind dazu geeignet und haben die Kraft, unsere Gegenwart zu verändern: Frieden und Gerechtigkeit in jeder Ecke der Welt und in jedem Winkel der Natur: Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 

„Geist“ ist biblisch unter anderem die Kraft, die mich etwas von einem anderen Standpunkt als meinem eigenen aus vorstellen lässt:

  • „Geist“ lässt mich den Konflikt mit den Augen meines Gegners betrachten;
  • „Geist“ erzählt eine Geschichte aus der Perspektive der Marginalisierten, der Armen, der Frauen, der Kinder;
  • „Geist“ interessiert sich für mehr als die anthropozentrische Weltsicht sondern auch für Wölfe und Lämmer, Löwen und Nattern, Aale und Habichte, Ochsen und Esel;
  • „Geist“ schildert die Gegenwart aus dem Blickwinkel einer möglichen Zukunft.

Durch Gottes Geist – den Geist des Herrn, den Geist der Weisheit und des Verstandes, den Geist des Rates und der Stärke, den Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn – verlassen wir das Gefängnis unserer bloß eigenen Privatwelt, legen wir unsere egoistische egozentrische Befangenheit ab: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – indem du deines Nächsten Standpunkt einnimmst und seine Sichtweise ausprobierst. Damit ich nicht richte nach dem, was meine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was meine Ohren hören, sondern mit Gerechtigkeit.

Weihnachten lebt vom empathischen Geist der Utopie:

  • Himmel und Erde verbinden sich im „englischen“ Ruf – also dem Ruf des Engels – nach Frieden und Gerechtigkeit;
  • Marginalisierte werden vom Rand in die Mitte gerückt;
  • Frauen und Kinder schreiben die Geschichte – in Hütten, nicht in Palästen;
  • armselige Hirten werden königliche Herolde
  • und noch die Krippenfolklore durchbricht die gewohnte, auf Menschen fixierte Sichtweise, indem sie Ochs und Esel zum Christkind stellt und den ewigen Frieden – so wenig wahrscheinlich er uns vorkommen mag – an der Vielfalt der friedlich vereinten Arten veranschaulicht: an Wolf und Lamm, an Panther und Böcklein, an Kalb und Löwe, an Kuh und Bärin, an Löwe und Rind, an Menschenkind und Schlange. Und wir haben ökologischen Respekt und den Schutz der Artenvielfalt für neue Ideen gehalten!

Das ganze hat nur Sinn, wenn ich verstehe, dass der weite Blick in die Vergangenheit einen noch weiteren in die Zukunft gewährt – und damit – und erst damit – mich in meiner Gegenwart erreicht, damit ich sie verändere. Selten also könnte ein Lied so sehr den weihnachtlichen Sinn verfehlt haben wie das „Alle Jahre wieder“ unserer Kindheit, wenn es die jährliche Wiederkehr des ewig Gleichen besingt, und als Besitzanspruch auf Heimat im Idyll die Weihnachtsbotschaft in ihr Gegenteil verkehrt. Dagegen bleibt festzuhalten: „Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ (Ernst Bloch)

Denn das bezeichnet den eigentlichen „ernsten ausgewachsenen Feiertagsnotstand“ (ausgerufen vom unvergleichlichen Chevy Chase in seiner Weihnachtskomödienfarce „Schöne Bescherung“ aus dem Jahr 1989; unbedingt wiedersehen!), wenn ich Weihnachten für verfügbar halte, es als meinen Besitz, ja Raub erachte, auf den ich Anspruch habe und den ich nach meinem Gutdünken verhunzen kann, schepperndes Familienglück und greller Frohsinn inklusive. (Es sollen ja schon Pfarrer am Heiligen Abend in ihrer Kirche Schimpfe bekommen haben, wenn sie nicht fröhlich genug geschaut haben.)

Wenn uns dieses blöde Virus in all seiner Grausamkeit eins lehren kann, dann das: dass Weihnachten unverfügbar bleibt, es eben nicht uns gehört; dass es unseren Zugriff verweigert, es sich nicht in Besitz nehmen lässt; dass es wie ein Ross scheut und davonspringt, wenn wir ihm zu nahe treten; oder aber – als zartes Pflänzchen für uns aufblüht, wenn wir nicht darauf herumtrampeln.

Wir müssen Weihnachten in diesem Jahr anders feiern – aber wir können das auch: rücksichtsvoller, empathischer, utopischer – und in der Hoffnung, im nächsten Jahr es wieder anders, vor allem gemeinsamer feiern zu können – ohne dass doch alles einfach so wäre wie früher. Denn alles so bleiben, wie es immer schon war – das soll es ja an Weihnachten gerade nicht. Amen.

Predigttext für den 2. Advent, 6. Dezember 2020

So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. Seufzt nicht widereinander, damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür. Nehmt zum Vorbild des Leidens und der Geduld die Propheten, die geredet haben in dem Namen des Herrn. Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer. (Brief des Jakobus 5, 7-11)

Ruhig – Geduldig. Das hört sich nicht nur so an wie der Slogan einer Fahrschule, sondern das war auch einer. Die alten Wiesbadener werden sich vielleicht daran erinnern; an diese leicht überdimensionierten Schilder auf dem Dach und auf den Seiten der Fahrzeuge: Ruhig – Geduldig: Manfred Hardel. In diesem Fahrinstitut habe ich meine automobilistische Matura erworben mit sehr viel Geduld auf beiden Seiten nach 32 Fahrstunden – das war einsamer Rekord, was unter anderem daran lag, das mein Papa – Gott hab ihn selig – das vorzeitige illegale Üben im Privat-PKW verweigert hat – auch mit dem Hinweis, als Jurist könne er das nicht verantworten und im übrigen sei ohnehin nicht zu erwarten, dass ich mit meinen natürlichen Anlagen zum Autofahren tauge.

Der Ruhe und der Geduld meines Fahrlehrers (und meiner eigenen) verdanke ich nicht nur den berühmten grauen Lappen, den heute noch das Bild des damals 19 Jährigen ziert, sondern auch die Merksätze des theoretischen Unterrichts, die den praktischen ergänzten; deren schönster mir heute noch in den Ohren klingt: „In der Fahrschule lernen Sie nicht fahren sondern bremsen“. Ruhig – geduldig!

Bremsen können und Geduld üben dürfte zu den Kernkompetenzen des heutigen Autofahrens gehören, nicht nur bei plötzlichen Wintereinbrüchen wie letzte Woche, sondern ganzjährig in Staus und verstopften Straßen, auch in unserer schönen Heimatstadt Wiesbaden – in der bekanntlich erst gerade ein kollektiver selbstquälerischer Impuls eine Verkehrsentlastung durch eine Straßenbahn ausgebremst hat. Das kann man konsequent und authentisch finden, wenn sich die Stadt des rückwärtsgewandten Historismus kraftvoll zurückwendet, muss man aber nicht – und bereuen werden es gerade wir Automobilisten bitter.

Wir, die Ausgebremsten: das könnte man ja überhaupt über dieses Jahr schreiben; Und Geduld üben, Geduld erstmal lernen – ist Jahresthema und Jahresaufgabe im Schatten der Seuche; hier in der Stadt und überall: urbi et orbi.

Ruhig – Geduldig: Das wissen Kranke und Leidende ja sowieso, müssen es als Ausgebremste ertragen, tragen es in ihrem Namen als Patienten: – der Geduldige und geduldig Leidende; der Wartende auf den Termin, im Wartezimmer auf die Behandlung, dann auf die Diagnose, dann mit etwas Glück auf Heilung oder doch zumindest Wiedereintritt in etwas, das man Alltag nennen kann.

Kranke haben eine deutlichen Mehrbedarf an Geduld. Eine Krankheit ist meistens auch eine Geduldsprobe; die Zeit erst heilt Wunden, viele zumindest; aber es braucht halt Zeit, nicht immer 100 Jahre, bis alles – Heile, Heile, Gänschen wieder – gut wird, aber eine gefühlte Ewigkeit eben doch – manchmal: bis das Treppensteigen geht, bis man wieder durchschnaufen kann, bis man seine Gliedmaßen wieder durchzählen und bewegen kann, bis ich wiederhergestellt bin, den Beruf ausüben, die Vergnügen pflegen, wieder Reisen kann, bis ich wieder hergestellt, belastbar und ganz gesund bin. Aber das ist keineswegs garantiert, das alles bin ich ja durchaus nicht immer nach einer Krankheit oder eben nicht ganz – und dann brauche ich wieder Geduld, neue Geduld, eine neue Art von Geduld, mich an meine Beschränkungen zu gewöhnen. Krankheit als Chance ist meistens eine dicke Lüge – aber Krankheit als Chance Geduld zu üben, nein als Zwang Geduld zu üben – da ist was dran.

Und gemeinsam Kranke, also wir im Schatten der Seuche brauchen allemal Geduld: Wir wünschen uns das alles weg und zwar möglichst schnell: Das Virus, die Krankheit, die Maßnahmen, die Einschränkungen – wer nicht gelernt hat seine Wünsche von der Wirklichkeit zu unterscheiden, setzt sich einen Aluhut auf den Kopf, reißt sich die Maske vom Gesicht und schimpft auf die Verantwortlichen: Magisches Denken. Demgegenüber ist mit dem großen Philosophen Bjarne Mädel festzuhalten: Wenn alle immer nur meckern, können wir sowas wie Corona eben nicht mehr machen (- das ist immer noch das beinahe Profundeste, was zur Seuche gesagt worden ist).

Geduld üben können setzt offensichtlich einen Reifeprozess voraus, der mich erkennen lässt, dass Seuchen ziemlich sicher mit der Zeit vorübergehen, aber auch so oder so vorübergehen, also ganz unterschiedlich erlitten werden können; dass sie viel Leid oder unermesslich viel Leid bringen; dass sie Naturkatastrophen sind, die auszuhalten sind, und eine Aufgabe für Menschen zugleich, die zu bewältigen ist.

Aushalten und Gestalten; damit haben wir den Kern einer vorläufigen Theorie der Geduld erreicht, den unser Predigttext durch zwei verschiedene Vokabeln abzubilden versucht: Der oft nicht sonderlich geschätzte Jakobusbrief – die stroherne Epistel wie Luther sagt – verwendet zwei unterschiedliche Wörter (das ist in der Übersetzung nicht erkennbar, die beide mit „Geduld“ übersetzt) und gibt uns damit eine Vorlage, zwei Aspekte der Geduld zu unterscheiden: Aushalten und Gestalten. Während die „Hypomonä“ das reine Aushalten, das bloße Geschehen lassen, das passive Leiden bezeichnet; könnte mit „Makrothymia“ – also eigentlich: „Langmut“ oder „Großmut“ – eine Annahme und Hinnahme, zwar durchaus Passivität, aber eher schöpferische Passivität gemeint sein, die die abgebremste Selbstbestimmung zumindest für eine selbstbestimmte Gestaltung der Zwangspause nutzen lässt.

Diese beiden unterschiedlichen Aspekte des Geduldig-Seins lassen sich ganz leicht veranschaulichen: Wenn etwa der Fahrschüler begreift, dass man die Lebensweisheiten des Fahrlehrers besser erträgt und kürzer ertragen muss, wenn man sich nicht nur berieseln lässt, sondern endlich fahren lernt. Oder wenn ich in der Schule den Schülern begreiflich zu machen versuche, dass sie die belästigende Zwangspause vom Leben, die für manche die Schule darstellt, paradoxerweise dadurch erträglicher mache, wenn ich mitmache: Plötzlich ist die Stunde rum. Und schon die Jüngsten – und ihre herausgeforderten Eltern – erleben beim Warten aufs Christkind: Je weniger ich am Tag des Heiligen Abends zu tun haben, desto größer ist die Langeweile, desto schwerer kann ich das Warten aushalten. Umgekehrt: Je vielfältiger mein Programm, desto schneller ist das Christkind da.

Wir warten auf das Christkind – ruhig – geduldig: Das war früher – also ziemlich lange früher – keine Geduldsprobe für Kinder, sondern das zentrale Problem des Frühchristentums: Parusiverzögerung – Verzögerung der Wiederkehr des Gottessohnes. Wo bleibt er nur, der Herr Jesus Christus? Wann kommt er wieder?

Statt darüber nachzugrübeln, was ihn aufhalten mag, empfiehlt Jakobus: So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen (Parusia) des Herrn. Das müssen wir jetzt aushalten, da müssen wir durch, aber wir können dieses Aushalten gestalten. Nicht nur rumsitzen und warten, sondern erwarten und tun.

Jakobus gibt uns im Zusammenhang seiner Geduldigkeitsrede gleich zwei wertvolle Tips zur schöpferisch passiven Gestaltung unserer Zeit der Geduld: Unmittelbar nach unserem Predigttext spricht Jakobus von der Kraft des Betens: Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.  Denn: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. (Jakobus 5,13-16) Beten hilft und hat eine Kraft, die nicht erst heutzutage unterschätzt wird. Das etwas betuliche deutsche Wörtchen „ernstlich“ verfehlt das, was hier eigentlich steht, worum es dem Jakobus eigentlich geht; er will sagen, dass das Gebet Energie hat, die größer ist als die Worte und größer ist als ihr Sprecher, weil das Gebet durch Gott selbst energetisiert wird: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es voller göttlicher Energie ist. Beten hat Power!

Und unmittelbar vor unserem Predigttext zeigt Jakobus wozu diese Energie befähigt; in einem flammenden Aufruf zur Gerechtigkeit, gegen den übermäßigen Reichtum der wenigen, gegen die Plutokratie, gegen den Raubtierkapitalismus der Antike und aller Zeiten, gegen die Herrschaft des als Gott verehrten Geldes, wendet er sich an die Wohlhabenden, an die Zuviel Habenden; etwa an uns? Wohlan nun, ihr Reichen: Weint und heult über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet und ihr Rost wird gegen euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in den letzten Tagen! Siehe, der Lohn der Arbeiter, die euer Land abgeerntet haben, den ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit, und das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Ihr habt geschlemmt auf Erden und geprasst und eure Herzen gemästet am Schlachttag. Wow, wieder mal eine prophetische Brandrede wie aus dem Windkanal, die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass auf dem Streben nach Reichtum kein Segen liegt; dass man nicht zwei Herren dienen kann – nicht Gott und dem Mammon; und dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel gelangt, wie Jesus schon treffend bemerkte. Ist uns eigentlich klar, was das für einer ist, auf den wir da warten?

Beten und das Tun des Gerechten; das ist ein schönes Programm für die Zeit der Geduld, wenn schon die meisten Adventsvergnügen geschlossen sind; aber ein bisschen was fehlt doch noch, zum adventlichen Predigtglück, das uns der Jakobusbrief, diese stroherne Epistel nicht bietet, – der Text für den Nikolaustag, den wir heute ja auch feiern, aber sehr wohl: Der Prophet Jesaja blickt weit voraus in die Zeit, wenn Gott zu uns kommt, wie es dann sein wird. In aller Unbekümmertheit und Begeisterung ruft er es hinaus und erfindet dabei das schöne Wort von der guten Botschaft, das uns als das „Evangelium“ so wichtig und lieb ist:

Gott hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft (das Evangelium!) zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden. (Jesaja 61,1f.)

Das beziehen wir jetzt einfach mal auf unser nächstes Jahr, das ein gnädigeres Jahr werden möge als dieses und in dem es in Gottes Namen dem Virus so richtig an den Kragen geht, frei und ledig zu werden, zu trösten alle Kranken und Trauernden. Dann werden wir ein Fest feiern, das seinen Namen verdient und das wie jede echte Feier ein Vorgriff auf das große Fest sein wird, wenn Gott zu uns kommt. Dann werden wir mit Jesaja das besingen, was uns Jakobus mit Geduld zu erwarten rät:

Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt der Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern. (Jesaja, 61,10; vgl. Jakobus 5,7; s.o.)

Wir werden allen Grund haben uns im Herrn zu freuen! Amen.

Predigttext für den Ewigkeitssonntag, 22.11.2020

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.

Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.

Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß!

Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.

Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein. (Offenbarung des Johannes 21,1-7)

Am Ende einen neuen Anfang erkennen. Im Tod das Leben sehen. In dieser Zeit Gottes Ewigkeit wahrnehmen.

In der Vision des Propheten Johannes, die wir heute als Predigttext zu bedenken haben, überwältigen die außerordentlich starken und lebendigen Bilder.

Die Welt vergeht und wird neu. Daß unsere Welt ein Ende haben wird, gehört ja zu den eher neueren Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Hier wird sie in einer prophetischen Vision vorweggenommen – und gleichzeitig aufgehoben in Gottes Zusage und unsere Hoffnung, dass es eine neue, ganz andere Welt geben wird – durch Gott.

Die geheimnisvolle Wendung “Meer” bezieht sich übrigens auf die antike Vorstellung eines himmlischen Meeres, eines gläsernen Daches über der Erde, das Himmel und Erde voneinander trennt. Diese Trennung zwischen Himmel und Erde gibt es in Gottes Neuschöpfung nicht mehr.

Das Himmlische Jerusalem kommt auf die Erde. Die Heilige Stadt wird neu entstehen. Das war damals sicherlich historisch-politisch gemeint, da ja das Jerusalem der damaligen Zeit – also zu der Zeit des Propheten Johannes – nur mehr ein Ruinenhaufen war. Aber auch wir dürfen an die gegenwärtigen Zustände im Heiligen Land denken. Mit der Ewigkeit verknüpft sich die Hoffnung auf ein friedliches und schöpferisches Zusammenleben der Menschen, auf Heimat für alle.

Und außerdem steht Jerusalem als ideale Stadt für menschliche Kultur, für Bildung, für Kunst und Musik: „Jerusalem du hochgebaute Stadt, ich wollt ich wär´ in dir!“

Gott wird bei den Menschen wohnen. Die Trennung zwischen Himmel und Erde ist aufgehoben. Wir werden die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins erleben – wie es ein Freund des großen Theologen Schleiermacher formuliert hat. In allen visionären Beschreibungen von Gottes Ewigkeit für uns wird deutlich, dass das ewige Leben keine Verlängerung des irdischen Lebens ist. Wir gehen nicht irgendwohin, in kein Licht und keine Dunkelheit, wir werden nicht einfach verändert – sondern im Tod und durch den Tod hindurch, in dem wir ganz und gar vergehen, sind wir bewahrt bei Gott. Es ist keine menschliche Qualität, keine Eigenschaft in uns, auch keine unsterbliche Seele, wie die Griechen glaubten, die uns ewig leben ließe – sondern nur und ausschließlich Gott selbst. In ihm werden wir leben; die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins erleben. Das erste ist vergangen. Siehe ich mache alles neu, spricht Gott.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Das ist für mich das stärkste und tröstlichste aller Bilder des Johannes. In allem Weltgeschehen, in allem Weltvergehen und Neuschaffen, übersieht Gott unsere Tränen nicht. Wir weinen nicht umsonst. Wir bleiben nicht ungetröstet. Bei allem Großen, was Gott verrichtet, vergißt er die Kleinen nicht, nicht uns Menschen. Denn auch wenn wir an Gott glauben, auch wenn wir auf Gottes ewiges Leben hoffen, auch wenn wir unsere Verstorbenen bei Gott wissen – und wer könnte das so stark, und so fest und so unbeirrt, dass es da nicht auch Zeiten der Unsicherheit, der Anfechtung, des Zweifels geben würde:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen – auch wenn wir also an Gottes ewiges Leben glauben und uns darauf – eigentlich – für uns selbst und unsere Lieben freuen können, auch dann bleibt der Schmerz über die Trennung, die Trauer über den Abschied, der Verlust von Gemeinsamkeit, auch dann bleiben unsere Tränen. Auch die, liebe Gemeinde, wird Gott abwischen.

Johannes, der Prophet, den wir uns als theologischen Freund des Evangelisten Johannes vorstellen können, hat in diesen und in einer Fülle von anderen Bildern der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott einen Ausdruck gegeben:

Der neue Himmel und die neue Erde,

Das neue Jerusalem,

Gottes Wohnung bei uns Menschen,

Sein liebevolles Abwischen unserer Tränen,

Mit diesen Bildern sollen wir unsere Vorstellungskraft bereichern, um uns das nicht Sichtbare, das nicht Erfahrbare und letztlich nicht Vorstellbare eben doch – annäherungsweise -vorstellen zu können.

Diese Bilder sind uns gegeben damit wir nicht bei dürren theologischen Begriffen bleiben müssen – und seien sie auch noch so gültig wie der von der unmittelbaren Gegenwart des ganzen, ungeteilten Daseins. Nicht jeder muß sich für solche Begriffe begeistern, aber wer würde nicht verstehen, worum es geht, wenn er das Bild – das mütterliche Bild – vor sich hat, dass unsere Tränen abgewischt werden.

Diese Bilder des Johannes sind wahr. Sicherlich in anderer Weise wahr als Erfahrungswissen und mathematische Formeln wahr sind.

Sie sind wahr, weil sie sich als gültiger Ausdruck unserer Hoffnung erwiesen haben.

Sie haben sich in der Konkurrenz der Bilder durchgesetzt – als lebensfreundlich und lebensfördernd. Es gibt ja – wie wir wissen auch ganz andere Vorstellungen vom Jenseits, die eher Lebensverachtung und Lebensfeindschaft verbildlichen, oder sogar Gewalt und Dominanz beinhalten.

Die Bilder des Johannes sind überdies auch wahr, insofern sie mit dem übereinstimmen, was wir sonst von Gott wissen dürfen, dem Gott des Lebens und der Liebe. So ist der liebende Gott, dass er unsere Tränen abwischt, uns ein neues Zuhause gibt uns niemals loslässt.

Eine endgültige Bewahrheitung dieser Bilder steht allerdings noch aus. Die werden wir – so Gott will – erleben. Schon jetzt dürfen wir darauf hoffen.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Am Ende einen neuen Anfang erkennen. Im Tod das Leben sehen. In dieser Zeit Gottes Ewigkeit wahrnehmen.

In ihm sei´s begonnen,/ der Monde und Sonnen/an blauen Gezelten/ des Himmels bewegt!

Du Vater, du rate,/ lenk du und wende!

Herr, Dir in die Hände/ sei Anfang und Ende,/ sei alles gelegt. (Eduard Mörike)

Amen.

Predigttext für Buß- und Bettag, 18. November 2020

Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir – wer fordert denn von euch, daß ihr meinen Vorhof zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Greuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, laßt ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache! (Buch des Propheten Jesaja 1,10-17)

Was für ein Text! Wie ein Herbststurm bläst und pustet er uns an, wie ein Faustschlag in unsere fromm tuenden Gesichter. Da bleibt einem erstmal die Luft und die Spucke weg. Rücksichtsvoll geht anders. Ein bisschen verblümter wäre schon schön. Aber nein: Der Prophet und sein Herr – unser Herr – reden Klartext, unüberhörbar. (Im englischen Fußball spricht man vom Hairdryer-Treatment, mit dem etwa der legendäre Sir Alex Ferguson seine Leute von Manchester United regelmäßig in der Kabine zusammenstauchte, wenn sie sich nicht richtig ins Zeug gelegt hatten. Wäre vielleicht auch etwas für den allzu lieben und selbstverliebten Jogi, um unsere Jungs wieder ans Laufen zu kriegen, aber lassen wir das.)

Gott selbst stellt Feiertag und Gottesdienst lautstark in Frage, bezweifelt ihre Systemrelevanz, fordert den Lockdown. Also nicht erst fürsorgliche Regierungen unserer Zeit, die den Buß- und Bettag für die Pflegeversicherung opfern und Gottesdienste wie im Frühjahr unter Quarantäne stellen, – nicht nur die schließen die Gotteshäuser, sondern Gott selbst sagt: Ich hab es satt! Und er scheint es ernst zu meinen.

Meint er es ernst? Davon sollten wir ausgehen – und nicht zu schnell auf die Gnade des gnädigen Gottes spekulieren, der alles – und noch die größte Missetat – einfach so zudeckt. Das hat Dietrich Bonhoeffer gemeint, wenn er vor der billigen Gnade gewarnt hat.

Rhetorisch brillant zählt Jesaja alles auf, was die Herren von Sodom und Gomorra – also wir – gerne lassen können, das ganze fromme Getue, die gefalteten Hände, den demütigen Blick: Was soll das, wenn wir es ja doch nicht ernst meinen? Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.

Bei diesem Wutausbruch belässt es Gott aber nicht. Sondern nutzt die Gelegenheit, um es uns mal wieder mitzuteilen, worum es ihm geht mit uns, nämlich: den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Wer ist mein Nächster: der Schwache, der meiner Hilfe bedarf. Im Grunde ist die ganze Bibel ein großes Plädoyer gegen das Recht der Stärke; gegen das Recht des Stärkeren, für die Rücksicht auf die Schwachen: Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache! Das Tun des Guten zeigt sich biblisch an der Hilfe für die Schwachen.

Und damit sind wir bei dem Thema, bei dem wir gegenwärtig sowieso immer sind. Auch in der Coronakrise muss unser Handeln – und soweit wir da mitreden dürfen, das Handeln in Staat und Gesellschaft – die Schwachen und Anfälligen im Blick behalten. Wir kommen nur so gut durch die Krise wie es unsere Schwächsten tun: die Alten, die Vorbelasteten, auch die Kinder, auch die Armen.

Misstrauen ist angebracht, wenn also zugunsten der „Wirtschaft“ – wer oder was das auch immer sei – die Alten in ihre Häuser und Heime weggesperrt und die Kinder in die Schule zusammengesperrt werden sollen. Abgesehen davon, dass sich kein Jüngerer sicher sein kann, von der Seuche nicht behelligt zu werden, dürfen die Alten nicht unserer Freiheit und unserem Lebensstil geopfert werden.

Ohne den Schutz der Schwächeren, für den wir uns einsetzen sollen, haben unsere Feiern des Glaubens und unsere Feste der Erbauung, unsere Gottesdienste keinen Sinn. Der, an den sie sich richten, hat sie satt: Frevel und Festversammlung mag ich nicht. Spricht Gott der Herr. Amen.

Predigttext für den Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 8. November 2020

Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: »Friede und Sicherheit«, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut. (1. Brief des Paulus an die Thessalonicher 5,1-11)

Wer meine Älteste fragt, was ihr die liebste Jahreszeit und der liebste Monat sei, dann antwortet sie im Frühling, dass es der Frühling ist – und im November dass es der November ist. Als unerschütterlich positiver Mensch – von mir Miesepeter hat sie das nicht – als Kind des Lichts kann sie die Zeiten nehmen und lieben, wie sie kommen – und natürlich hat sie recht damit, denn auch ein Spaziergang im herbstlichen Nebel, in dem sich die Bäume verflüchtigen, ist an sich und unvergleichlich schön – und in der tiefstehenden Novembersonne doch auch oder noch mehr; und wenn dann noch die Kraniche ziehen zu Tausenden über Stadtwald und Stadt hinweg mit ihrem weitdringenden Trompetenruf, ihrer perfekten Flugordnung, die sich auch auflösen kann in Treffen der verschiedenen Teilschwärme in wilden Kreisen und Begegnungen mit scheinbar noch lauteren und wilderen Rufen, tagelang, stundenlang wie in dieser Woche – dann lässt sich unsere Welt doch gar nicht anders als gute Schöpfung verstehen, in der die Natur und wir in ihr wohlgeordnet sind: Ordnung, „Friede und Sicherheit“. So kann es bleiben – aber so bleibt es oft nicht.

Der Zug der Kraniche ist seit alters als Zeichen gedeutet worden – als Glücksbringer im Frühling, als Winterboten im Herbst – in Ermangelung vermeintlich besserer Vorhersagen; aber auch das haben wir in dieser Woche gelernt, das Demoskopen mit ihren Prognosen danebenhauen können und den hohen Anspruch, den sie in ihren vornehmen Bezeichnungen hochtrabend gräzisieren – der Demoskop ein „Volksseher“, also so eine Art gesellschaftlicher Prophet und seine Prognose ein „Vorwissen“ – auch diesmal nicht einlösen. Dann doch lieber Kaffeesatzlesen oder der Flug der Kraniche.

„Sieh da, sieh da Timotheus, die Kraniche des Ibikus!“ Bei Friedrich Schiller – den man als Jugendlicher, der seine Ballade auswendig lernen sollte, nicht lieben musste – wird sehr schön deutlich, dass Schicksalzeichen, als welche die Kraniche gesehen werden, überaus vieldeutig sind: die Mörder entlarven sich selbst durch diesen Ruf und bekommen ihre Strafe, die Tat wird vergolten, und die Gesellschaft erlebt ihre Welt als moralisches Universum, in der Gerechtigkeit über den Tod hinaus regiert.

„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ heißt es anderswo beim selben Schiller zum selben Thema und wir können davon ausgehen, dass Schiller seinen Paulus kannte, wie wir unseren Schiller kennen – also vielleicht nicht ganz textsicher, aber doch so, dass wir die Pointe drauf haben: „Zwei Blumen für den weisen Finder,/ Sie heißen Hoffnung und Genuß./ Wer dieser Blumen Eine brach, begehre/Die andre Schwester nicht./ Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre/ Ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre./ Die Weltgeschichte ist das Weltgericht./ Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen,/ Dein Glaube war dein zugewog´nes Glück./ Du konntest Deine Weisen fragen,/ Was man von der Minute ausgeschlagen,/ Gibt keine Ewigkeit zurück.“( Schiller, Resignation)

Nur dass Paulus nicht zwei Lebensentwürfe wie bei Schiller („Zwei Blumen“: das Leben in Hoffnung und Glauben und das Leben im diesseitigen Genuß) gleichwertig nebeneinanderstellt, sondern aufs Entschiedenste den ersten befürwortet: Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, um so den Tag des Herrn also das Weltgericht zu erwarten. Mit dieser eindeutigen Wertung, sagt Paulus auch, dass trotz aller ausgleichenden Gerechtigkeit, die auch schon in dieser Welt geschieht – vielleicht einfach so, dass sich manche Tragödien als Farce wiederholen und damit aufheben (wie wir es gerade in Amerika erleben) – diese weltliche Gerechtigkeit nicht reicht (auch in Amerika werden die tiefen Wunden, die ein böser und dummer Präsident geschlagen hat, nur in tiefen Narben verheilen) sondern erst Gott am Ende Gerechtigkeit schaffen wird. Nach Paulus ist die Weltgeschichte eben nicht schon das Weltgericht – das steht noch aus.

Und das entlastet uns übrigens auch von Fehlzuschreibungen und Missdeutungen, Tyrannen für göttliche Werkzeuge und Seuchen für göttliche Strafen zu halten. Wir sollen und brauchen nicht Gott in die Schuhe schieben, was durch die Bosheit der Menschen und den Gang der Natur ganz gut zu erklären ist. Genauso wenig wie wir im Weltgeschehen einzelnen Geschehen das Gericht Gottes zuschreiben können, sollen wir über Zeiten und Stunden spekulieren, wann es den anbricht: Denn der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.

So ist mit dem heutigen Paulustext eine klare Wahlempfehlung zu machen: Lebt als Kinder des Lichts, Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut.

Und dass das Leben als Kinder des Lichts auch ungemütlich sein kann, wusste Paulus, hat es ja selbst in einem bewegten Leben erlebt und verschweigt es uns auch hier nicht: Zieht euch warm an! (Nicht nur im November, nicht nur in der ungeheizten Kirche.) Legt euch an den Panzer des Glaubens und der Liebe und den Helm der Hoffnung auf das Heil! Tragt die Maske – würde er zweifellos heute sagen. Und sagt ja zu dem Leben, dass uns Gott gegeben hat – auch im traurigen Monat November, wenn die Kraniche nach Deutschland hinüberziehen. Amen.

Predigttext für den 21. Sonntag nach Trinitatis, 1. November 2020

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte …

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.

Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

(Buch des Propheten Jeremia 29,1-14*)

Suchet der Stadt Bestes! Das ist – liebe Schwestern und Brüder – seit langem der Schlüsselbeleg aus der Bibel für das gesellschaftliche Engagement der Christen, für ein politisches Christentum – und gegen den stillen Rückzug in die fromme Ecke. Uns wird folglich heute eine politische Predigt zugemutet – mir sie zu halten, Euch sie zu hören und zu ertragen.

Suchet der Stadt Bestes! Schon seit Jeremias Zeiten werden die Gläubigen dazu aufgerufen, nicht nur auf Erlösung und das Reich Gottes zu warten – das auch! – sondern die irdischen Reiche mitzubauen und mitzugestalten. Christen sind nicht neutral in gesellschaftlichen Fragen, keine Idioten im eigentlichen Sinne dieses schönen griechischen Wortes, das ursprünglich den politisch desinteressierten, unwissenden Menschen bezeichnet, der sich dem demokratischen Prozess und damit der Verantwortung für die gemeinsame Sache verweigert. (Insofern trifft übrigens die Wortschöpfung „Covidiot“ haargenau die, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung verweigern, die sich aus der Corona-Seuche ergibt.)

Suchet der Stadt Bestes! Es lohnt sich – wie immer – auf den genauen Wortlaut dieser prophetischen Empfehlung zu achten: Da steht ja nicht: Suche dein Bestes! Was ja vielleicht im günstigsten Fall die liberale Illusion bezeichnen würde, dass, wenn alle ihr eigenes Glück anstreben (im berühmten „pursuit of happiness“), das gemeinsame Glück entsteht; eine Illusion ist das deshalb, weil natürlich die Starken ihre Vorstellung von Glück und Gut weit eher verwirklichen können als die Schwachen. Wenn alle in Freiheit ihrem Glück nachstreben, herrscht das Recht des Stärkeren. Deshalb fordert der Prophet eben nicht mein Bestes sondern das Beste der Stadt zu suchen: Gemeinwohl vor Eigennutz!

Dazu gibt es ein schönes aktuelles Beispiel: In einem Gesprächskreis lange vor Corona kamen wir auf die Wiesbadener Citybahn zu sprechen und ich musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass man auch dagegen sein kann. Es mag Gründe für beide Meinungen geben, aber das in diesem Gespräch immer wieder geäußerte Argument „Ich brauche sie nicht“ ist – aus christlicher Sicht – keins, zumindest kein gutes. Denn es ist natürlich demokratisch legitim, in politischen Entscheidungen dem eigenen Nutzen zu folgen. Aber der christliche Glaube verlangt mehr, nämlich die Orientierung am Gemeinwohl: Suchet der Stadt Bestes! – Wobei natürlich zumindest theoretisch denkbar wäre, dass auch die Orientierung am Gemeinwohl gegen die Bahn spräche. Bevor wir das Kreuzchen heute machen, müssen wir das prüfen.

Übrigens meint das hebräische Original des Prophetenwortes noch etwas viel Besseres als bloß „das Beste für die Stadt“, indem es nämlich sagt, was das Beste ist: Dirschu et-Schalom ha-Ir! Heißt eigentlich: Sucht den Frieden, das Wohl, das Heil der Stadt. Der biblische „Schalom“ ist weit mehr als Abwesenheit von Gewalt und Krieg – das natürlich auch. Er meint den gelungenen Ausgleich der verschiedenen Kräfte und Interessen, das gemeinsame Wohl von Menschen und Tieren, Heil und Leben aller vor einem wohlwollenden Gott. Sucht das Wohl der Stadt!

Dabei hätte Jeremiah doch eigentlich allen Grund, eine andere Botschaft in die Stadt Nebukadnezars, des grausamen Feldherrn und Eroberers, zu senden; eine andere Botschaft in die Stadt Babylon, die noch uns Heutigen ein Symbol der Verkommenheit und des Verfalls ist: „Babylon Berlin“; eine Stadt, in die die Israeliten verschleppt wurden, deportiert, ihrer Heimat, ihres bisherigen Lebens beraubt.

Denkbar oder sogar naheliegend wären doch Botschaften des Zorns und der Selbstbehauptung, der Beschwörung der eigenen Identität (übrigens dieselbe sprachliche Wurzel wie Idiot!) in der fernen Fremde – wie es auch heutzutage gelegentlich die Präsidenten der Herkunftsländer von Migranten und Exilierten tun. Denkbar wäre doch zum bloßen Durchhalten aufzufordern, zum Abgrenzen, zum Abschotten und Desintegrieren, um Parallelgesellschaften zu bilden und dann bei der ersten, besten Gelegenheit wieder zurückzukehren. Was geht mich das Wohl der Stadt an?

Anders Jeremia, der ahnt, der weiß, dass das Exil lang sein wird – kein Sprint sondern ein Marathon, in den man sich einrichten muss. Von 70 Jahren ist die Rede. Auch in diesen siebzig Jahren in der Fremde soll – so sagt es der Prophet – gelebt und geliebt werden, sollen Familien gegründet, Häuser gebaut und Felder bestellt werden, soll das Leben gestaltet und das gemeinsame Wohl gesucht werden.

– So wie das Millionen Einwanderer, also Millionen unserer italienischen, spanischen, polnischen und türkischen – und so vieler anderer eingewanderter – Landsleute seit beinahe 70 Jahren in unseren Städten tun – im privaten und im gesellschaftlichen, im sportlichen, kulturellen und kulinarischen, im politischen Leben, auch in Forschung und Medizin: Die Virologin aus Hamburg und der Impfforscher aus Mainz sind ja nur die gerade jetzt besonders sichtbaren Beispiele von Medizinern und Forschern mit Migrationshintergrund. (Und es ist auf eine sehr dialektische Weise – passend zum Hegeljahr?! – tröstlich, dass einer der Autoren eines Spiegelcovidiotenbestsellers ursprünglich von sehr weit her kommt: Wer so was schreibt, und wenn das dann auch noch gelesen wird, der hat es in seiner neuen Heimat weit gebracht.)

Manchmal übersehen wir das alles, was doch überwiegend gelingt, beim Betrachten der Migrationsprobleme, die es auch gibt, wohl geben muss – und die uns in diesen Tagen im Blick auf Frankreich zutiefst verstören und quälen. Auch Babylonier und Israeliten werden sich bisweilen bekämpft haben. Dennoch sagt der Prophet: Suchet gemeinsam der Stadt Bestes! Was wäre denn die Alternative?

Spricht unser Prophet auch in unsere aktuelle besondere Zeit der Corona-Krise und der Seuchen-Angst? Na klar, wie denn nicht? Vor den Falschsagern und Leugnern wird ausdrücklich gewarnt: Lasst euch von den Wahrsagern nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Nein, das Virus geht nicht weg, wenn wir es leugnen.

Und morgen beginnt dann also wieder ein Monat des inneren Exils vom gewohnten Leben – auch kein Sprint sondern Marathon, aber – da lege ich mich fest – ganz bestimmt keine 70 Jahre. Auch in diesen Wochen und Monaten der neuerlichen Distanzierung, der Vereinzelung und Trennung, die vor uns liegen, sollen wir – so ermuntert und ermutigt uns der Prophet – leben und lieben, Familien gründen, Häuser bauen – wenn man durch Wiesbaden fährt, wenn’s denn mal weitergeht vor lauter Staus, hat man den Eindruck, dass noch nie so viel gebaut wurde wie gerade jetzt – Felder bestellen, lernen und forschen – gerne auch nach guter Medizin – und das Wohl der Stadt suchen: Suchet der Stadt Bestes!

Der Prophet – und das muss uns nun nicht wirklich überraschen – traut der Religion in dieser Sache besonders viel zu; sie ist nicht nur systemrelevant sondern mehr als das, denn sie soll ja das System tragen und erneuern (auch sich selbst reformieren, darüber wäre gestern zu reden gewesen): wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR. Wir sind als Gemeinden dankbar, dass wir anders als im Frühjahr weiterhin gemeinsam auf die Suche nach Gott gehen und Gottesdienste feiern können, in aller Verantwortung und bei aller Vorsicht, versteht sich.

Der Prophet endet mit einem geradezu überschwänglichen Wort der Hoffnung, das wir auch auf uns beziehen dürfen: Es wird alles gut, also zumindest so gut wie es vorher war, wie es in diesem Leben sein kann. Auch wir werden nach dem Corona-Exil in unser früheres Leben zurückkehren:

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung… und ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Amen.