Ev. Thomasgemeinde
Menschliches Maß und einfache Ordnung
Rainer Schell als Kirchenbaumeister
Wenn von Wiesbaden als „Stadt des Historismus“ gesprochen werden kann, muss auch von Wiesbaden als Stadt der architektonischen Moderne gesprochen werden. Zahlreiche Gebäude der Nachkriegsmoderne prägen das Stadtbild, nicht zuletzt die Kirchen dieser Zeit.
Der Architekt unserer Thomaskirche, Rainer Schell (*1917 in Bautzen,+ 2000), Schüler und Mitarbeiter von Egon Eiermann, hat neben zahlreichen anderen nichtkirchlichen Gebäuden (z.B. das Gutenberg-Museum in Mainz, 1962 oder die Stadthalle Göttingen, 1964) gleich fünf Kirchen, bzw. als Kirchen genutzte Gemeindezentren im Stadtgebiet geschaffen. Kein Architekt hat mehr Kirchen in Wiesbaden und für Wiesbaden gebaut: nämlich neben dem ersten Gemeindehaus der Thomasgemeinde (1955; niedergelegt 2000) und der Thomaskirche (1964) und der benachbarten Versöhnungskirche (1975) noch die Erlöserkirche in Kastel (1963) und die Stephanuskirche in Amöneburg (1965).
Alle in den sechziger Jahren von Rainer Schell geplanten Kirchen tragen seine eigene künstlerische, deutlich wiedererkennbare Handschrift: Kubus und daneben der schlanke, hohe Glockenturm; das wohltuende Maß im Inneren; der behutsame Wechsel von Sichtbeton, Backstein und Holz. Die zwischen 1962 und 1965 entstanden Kirchen bilden eine Gruppe, die sich deutlich von seinen Bauten anderer Schaffensperioden abheben.
In jeder dieser Kirchen gibt es Ansichten und Blickachsen, die sich so auch in den anderen wiederfinden lassen. Aber trotz der wiederkehrenden Kennzeichen und der parallelen Planungs- und Bauzeit ist jede Kirche ein Individuum mit unterschiedlicher Raumaufteilung und Fassadengestaltung. So findet sich (oder fand sich im Originalzustand vor dem jeweiligen Umbau) auch in anderen Bauten ein durch tragende Betonsäulen abgetrenntes Seitenschiff recht oder links. Nur in der Thomaskirche gibt es diese Seitenschiffe auf beiden Seiten. So schroff und kahl die Außenwände auf den ersten Blick wirken mögen, so unterschiedlich und bewusst sind sie an den verschiedenen Kirchen gestaltet: Bachsteinmuster, Sichtbeton, Kacheln, Natursteinfliesen, Laubengänge.
Zur Individualität der Gebäude trägt auch die jeweilige künstlerische Ausstattung des Innenraums bei. In unserer Kirche ist es ein großes, raumbeherrschendes Bronzekruzifix von Jürgen Weber.
Die klare Reduktion auf das Wesentliche und der Verzicht auf jeden Zierrat schaffen in den Kirchen Schells einen weiten Raum für Besinnung und für Gottes Wort.
Vom „Menschlichen Maß und verständlicher Ordnung“, die durchweg sein Werk kennzeichnen, sprach Rainer Schell auch bei der Schlüsselübergabe zur Einweihung der Thomaskirche am 18.10.1964: „Ich habe mich bemüht, mit aller Kraft und mit den bescheidenen Mittel meiner Kunst, der Gemeinde das ihr angemessene Gehäuse zu bauen, den einfältigen Raum, in dem sich die Gemeinde in Freiheit einrichten kann, – kräftig und lebendig in der Architektur, aber ohne sensationelle und laute Töne, mit behutsamer Gliederung und menschlichen Maßen – innen und außen – mit verständlicher Ordnung und eindringlicher Geste – hier auf dem Berg und in der Landschaft.“
(Eine Fotodokumentation zum Thema „Rainer Schell als Kirchenbaumeister“ ist derzeit in Vorbereitung.)
Dr. Klaus Neumann, Pfarrer der Thomaskirche
Die Thomaskirche ist am Sonntag, 8.9.19, bis ca. 18.00 Uhr geöffnet. Derzeit ist in der Kirche auch die Kalligraphie-Ausstellung Text·Schrift·Bild von Gottfried Pott zu sehen. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!